> Manfred Müller: Kriegsende in Japan 1945

Manfred Müller: Kriegsende in Japan 1945

Dieser Eintrag von Manfred Müller (*1932) aus Berlin (sprmm@gmx.de) von Mai 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben!

/lemo/bestand/objekt/mueller_018 Seit Sommer 1941 lebte ich mit meiner Mutter und meinen drei Geschwistern im japanischen Kobe. Zunächst mal ganz vereinzelt, nach und nach häufiger flog ein feindliches Flugzeug über die Stadt. Der Grund für den verbissenen und verlustreichen Inselkrieg im Pazifik lag darin, die japanische Herrschaft zu brechen. Die Reihenfolge der Kriegshandlungen war aber bestimmt von dem Bestreben der US Air Force, Flugplätze in Flugreichweite zum japanischen Mutterland zu gewinnen. In dem Maße wie das zunehmend gelang, verstärkten sich die Überflüge der amerikanischen Bomber und die zunehmenden Bombardierungen, auch Kobes.

Für mich, für uns Kinder war es keine Frage, warum etwa wir evakuiert werden sollten und wohin. Ich weiß auch nicht mehr, ob es erörtert wurde, mit den Erwachsenen, unter ihnen oder gar nicht. Jedenfalls packten wir unsere Habe ein. Inzwischen lagen einige deutsche Schiffe fest. Außerdem hatte es in Yokohama eine riesige Explosion unter einigen - deutschen - Schiffen gegeben. Es saßen einige deutsche Besatzungen beschäftigungslos an Land. Davon halfen einige bei unserem Umzug. Auffällig war ein hochgradig schlichter Seemann, den sie "Guschi Mond" nannten. War so Typ Knecht in der Landwirtschaft.

Die Deutschen rühmen sich, dass sie sich in allen Notlagen patent zu helfen wüssten - sagen andere das auch von sich, können sie es auch? Tatsache ist, dass die an Lande sitzenden deutschen Seeleute einen Lieferwagen zusammen gebaut hatten aus Einzelteilen, die sie irgendwo "organisiert" hatten. Den nannten sie "Opel Blitz" in Anlehnung an eine populäre Marke in Deutschland. Der fuhr richtig und damit konnte man in Kobe anfallende Transportaufgaben erledigen, Auch hatten sie auf entsprechende Weise einen Ochsenkarren zusammen gebastelt, mit vier Rädern, einer Deichsel und einer Bremse. Dazu stand auch ein Zugochse in deutschen Diensten. Mit diesem Gespann erschien also eines Tages Guschi Mond bei uns in Kobe, um unser Umzugsgut aufzuladen und nach Takedao zu verfrachten. Takedao liegt nördlich von Kobe in den Bergen. Ringsherum nur Landschaft und ein wilder Fluss, der Mukogawa. Es ist gar nicht so weit - in der Luftlinie etwa 20 km. Jedenfalls brauchte Guschi Mond mit seinem Ochsen und unserem Umzugsgut mehrere Tage. Wo und wie er übernachtet und sich verpflegt hat, ich weiß es nicht. Guschi kam zufrieden und milde lächelnd bei uns an. Wir waren in dem Hotel "Maruki" untergebracht. Dieses Hotel war wohl mal ein Erholungshotel mit einem Thermalbad, das wir an jedem Abend aufsuchten und schätzen lernten. Der griesgrämig blickende Alte auf der Titelseite des Hotelprospektes scheint in diesem Bad zu schwitzen.

Von Takedao aus fuhren wir die lange Strecke nach Kobe zu unserer Schule: zunächst mit einem Dampfzug nach Takarazuka, dort stiegen wir um in eine elektrische Schnellbahn bis Nishinomiya und dann weiter nach Kobe Sanomiya-Hbf. Wie lange ein Weg gedauert hat, weiß ich nicht mehr. Das letzte Zeugnis ist am 1. Juli 1944 datiert. Ob und wie lange danach wir die Schule weiter besuchten, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls nahmen die Bombenangriffe auf Kobe zu. Die US Air Force bombardierte inzwischen tagsüber, woran offen zu sehen war, wie sehr die japanische Verteidigung bereits geschwächt war.

Unter dem 6. Dezember 1944 erließ der Schulvorstand ein Rundschreiben über die vorbereiteten "Maßnahmen bei Luftalarm":

"An die Eltern der Schueler der Deutschen Schule Kobe.

Da das "Deutsche Haus" in Kobe bessere Schutzraeume hat als das Schulgebaeude und da ausserdem im Deutschen Haus bei laenger dauerndem Kushu Keiho (Luftalarm) die Kinder leichter verpflegt werden koennen als im Schulgebaeude, hat der Schulvorstand im Einverstaendnis mit der Leitung des Deutschen Hauses, den Luftschutzwart der Reichsdeutschen Gemeinschaft und den lokalen japanischen Luftschutzwarten beschlossen, dass bei Kushu Keiho (Luftalarm) die im Kobe-Schulgebaeude befindlichen Schueler nicht mehr wie bisher im Schulgebaeude, sondern in den Schutzraeumen des "Deutschen Hauses" unter Aufsicht eines Lehrers untergebracht werden. Die Schutzraeume des Schulgebaeudes werden nur benutzt werden, wenn es wegen unmittelbarer Gefahr nicht mehr moeglich ist, die Schueler in das "Deutsche Haus" zu bringen. [...]

Am 5. Juni 1945 brannte unsere Schule vollständig aus. Mir selber hatte sich ein Erlebnis eingeprägt, dass wir bei Luftalarm in einem Graben vor der Schule saßen, wie sie entlang den Straßen ausgehoben waren. Bei einem Bombenangriff hätten wir zusehen können, wie sich eine Feuersbrunst über die Schule legte, die Fensterscheiben barsten und schließlich - Traum eines jeden Schülers - brennende Papiere (unsere Schulhefte?) aus dem Fenster des Lehrerzimmers stoben. Danach gingen wir mühsam auf unseren langen Weg mit den Eisenbahnfahrten nach Hause. Meine Geschwister und andere Ehemaligen bestreiten dieses Ereignis - es war wohl wirklich nur ein Wunschtraum.

In Takedao nahm unsere Verwilderung zu und erreichte kriminelle Ausmaße. Wir waren kriegerisch gesinnt, denn unser wichtigstes Spielzeug waren Zwillen. Die Entwicklung der Zwillen war wieder meine Aufgabe. Die Gabeln holten wir uns aus den ausgedehnten Wäldern. Schwierig war die Beschaffung der Gummis. Ich weiß nicht mehr, was wir nahmen: überzählige Fahrradschläuche gab es nicht. Aber wir hatten alle schußtaugliche Zwillen. Wir übten unsere Treffgenauigkeit an Zikaden, die etwa 5-6 cm groß waren und überall an den Baumstämmen saßen. Indem wir von der Welt der Erwachsenen beeinflusst waren, kann es nicht verwundern, dass die "Abschüsse" ein wichtiges Maß unserer selbstgesetzten Tauglichkeit waren. Anspruchsvoller war das Abschießen der Porzellanisolatoren, die die Telegrafendrähte entlang der Eisenbahnlinie trugen. Sie waren sehr hart und schwer zu zerstören. Besonders anspruchsvoll waren die beweglichen Ziele, wie etwa die Frösche in den nassen Reisfeldern.

Der Krieg kam spürbar näher, das merkten wir. Aber er blieb so weit, dass wir von den kriegerischen Handlungen sicher entfernt waren. Bei Luftalarm in Takedao verzogen wir uns in einen Felsenkeller. Wenn wir Jungen merkten, dass uns die Bomberverbände in sicherer Entfernung überflogen, verließen wir unseren Unterstand, traten ins Freie und zählten die Flugzeuge, die in ganz geometrischer Ordnung ihres Weges zogen. Nur vereinzelt gelangten Flakgeschosse oben an, auch wurden die Verbände nur gelegentlich von japanischen Flugzeugen angegriffen.

Ein einziges Mal erreichte uns der Krieg in unserer unmittelbaren Nähe: Eines hellen Tages schreckten wir durch ungewohnten Flugzeuglärm auf und sahen, wie ein amerikanisches Jagdflugzeug in niedrigster Flughöhe durch unser Tal raste, verfolgt und heftig beschossen von einem japanischen Flugzeug. Die Wirkungen konnten wir nicht beobachten, sahen aber später zahlreiche Einschußlöcher in den Brückengeländern.

Im Mai 1945 kapitulierte Deutschland. Wir hatten den Eindruck, dass sich das bisher sehr freundschaftliche Verhältnis der Japaner zu uns plötzlich abgekühlt hatte. Sie waren möglicherweise nicht überzeugt, dass wir bis zum letzten Mann gekämpft hätten. Nach einiger Zeit erschien die (Englisch-sprachige) "Mainichi Shinbun" mit genauen Angaben über das Ergebnis der Viermächtekonferenz. Über die abgedruckte Karte mit den eingezeichneten Besatzungszonen machten wir uns her und suchten darin, in welcher Zone unsere Verwandten in Deutschland lebten. Daraus machten wir ein Vergnügen, bis unsere Mutter uns daran erinnerte, dass das alles eine ernste traurige Sache wäre.

Weil wir wirklich über alle Stränge geschlagen waren, kam es, wie es kommen mußte. Die Erwachsenen zogen sich zu "einer Besprechung" zurück. Klar, was die beschlossen: Eine Schule. Mangels eines eigenen Schulgebäudes fand die in irgendwelchen Zimmern statt mit Frau M. Urhan, einer ausgebildeten Lehrerin, die wir schon von der Deutschen Schule in Kobe her kannten. Und anderen Lehrern, die wohl nur gutwillig waren. Nach meinem Schulzeugnis vom 30. Juli 1945, dem einzigen von dieser "Schule", wurde der Unterricht vom 11. Juni bis zum 27. Juli erteilt.

Unmittelbar danach fiel am 6. August 1945 die Atombombe auf Hiroshima (ca 250 km westlich von uns). Ich weiß nicht mehr, wann wir erfuhren, dass es ein besonderer Bombenangriff war mit einer historisch neuartigen Waffe. Wenn wir auch nach einem jeden Fliegeralarm und den überfliegenden Verbänden, die abseits von uns irgendwelche Ziele angriffen, den sich durch Rauchschwaden verdüsternden Himmel sahen, so beobachteten wir nach dem Atombombenabwurf eine besonders starke Verfinsterung und außergewöhnlich viele in der Luft schwebende Brandreste, Papierschnipsel, Aschereste.

Nicht viel später danach bemerkten wir, wie sich unter den japanischen Mitbewohnern eine tiefe Ergriffenheit verbreitete. Sie sammelten sich in einem Raum vor einem Radio, luden uns dazu ein und teilten uns mit, dass der Tenno selber, der japanische Kaiser, sich unmittelbar an sein Volk wenden werde, zum ersten Male in der 2600 jährigen Geschichte des japanischen Herrscherhauses. Von seiner Rede verstanden wir kein einziges Wort, weil er in einer kultivierten Hochsprache sprach, der wir mit unserer Alltagssprache nicht folgen konnten. Heute wissen wir, dass es der 14.08.1945 war, an dem die Kaiserliche Verlautbarung an das Volk erfolgte. Am 16.08. 1945 veröffentlichte die englischsprachige "The Mainichi" den vollen Wortlaut. Danach erklärte der Kaiser die Kapitulation und die Beendigung des Pazifischen - und damit des 2. Weltkrieges.

Am 16. August 1945 unterschrieb die japanische Regierung die bedingungslose Kapitulation, "the unconditional surrender". Nun war der Krieg endgültig beendet. Wir waren ohne weitere materielle und gesundheitliche Schäden geblieben - doch die aufregenden Abenteuer waren nicht vorbei. Einstweilen lief unser Leben in der Abgeschiedenheit des Tales nach dem Kriege zunächst unverändert weiter wie während des Krieges. Wir mussten insgesamt noch rund zwei Jahre in Japan bleiben. Im August / September 1945 übersiedelten wir nach Takarazuka. Am 21. Januar 1946 eröffnete die "Deutsche Schule" in Okamoto, das ist ein Ort zwischen Kobe und unserer Umsteigestation Nishinomiya. Wir fuhren regelmäßig zur Schule, von Takarazuka über Nishinomiya nach Okamoto und nach der Schule zurück.

/lemo/bestand/objekt/mueller_019 Irgendwann bekamen wir Ausweise, identification cards. Mein Exemplar ist ganz zerfleddert. Wodurch? wahrscheinlich mussten wir den immer bei uns führen. Eine Brieftasche oder so etwas Feines hatte ich nicht. Die Deutschen wohnten nicht alle zusammen mit uns in Takarazuka, sondern an verschiedenen Stellen um Kobe herum verstreut. Hier versammelten sich alle Deutsche, Nazis und Nicht-Nazis. Meine Mutter war immer couragiert, vorlaut und auch boshaft. Ein Herr Sch. war bis zum Kriegsende ein ganz strammer Parteigenosse, der das nach dem Kriege gerne vergessen machen wollte. So war es ihm sehr peinlich, wenn meine Mutter ihn in der Warteschlange begrüßte, so begrüßte, wie er sich früher stets gemeldet hatte: "Guten Tag, Herr Parteigenosse Sch.!" - "Ach seien Sie doch bitte still", bat er.

Irgendwann begann die Organisation der Rückführung nach Deutschland. Es sollten zwei amerikanische Schiffe fahren, das erste mit den Nazis. Danach sollte das zweite Schiff mit den Nicht-Nazis nach Deutschland gehen. Der erste Transport war eine "Deportation", der zweite eine "Repatriierung". Nachdem im Frühjahr 1947 ein erster Transport nach Deutschland abgefahren war, setzte ein emsiges Treiben bei uns ein in Vorbereitung auf unsere Abreise. Schule hatten wir nicht mehr. Unsere Reise nach Deutschland begann am 20. August 1947, die Reise endete am 01. Oktober 1947 in Bremerhaven. Wir waren 42 Tage ununterbrochen an Bord ohne einen Landgang und hatten eine gesamte Entfernung von 11.750 Seemeilen zurückgelegt. Das ist etwas mehr als der halbe Erdumfang.

Nach einem "Entnazifizierungs-" und Flüchtlingslager wurden meine Mutter und ihre vier Kinder nach Göttingen entlassen, wo ich die letzten vier Schuljahre bis zum Abitur verbrachte.

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