> Margarete Schleede: Dienstverpflichtet 1944

Margarete Schleede: Dienstverpflichtet 1944

Dieser Eintrag stammt von Margarete Schleede (*1926) aus Hamburg, August 2002:

Wir waren beim Sirup einkochen, als ich zur Rüstung dienstverpflichtet wurde. Ich musste mich bei einem großen Gasbetrieb in Dyhernfurt in der Nähe von Breslau melden. Das kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel, ich konnte nicht mal meinen Urlaub nehmen. Wir alle waren enttäuscht, weil ich mich schon so gut eingearbeitet hatte und mich auch wohl fühlte als Köchin im Schloss von Polkendorf. Da wollte ich bleiben, bis ich später mal heiratete.

Als ich in dem Rüstungsbetrieb ankam, war ich nicht allein. Viele junge Frauen und Mädchen aus allen Himmelsrichtungen versammelten sich da. Wir fühlten uns alle fremd und wussten nichts mit uns anzufangen in dem großen Raum. Ein paar Soldaten und Männer in Zivil verhandelten miteinander. Nach einer kurzen Begrüßungsrede wurden alle Namen aufgerufen. Wir wurden in mehrere Gruppen aufgeteilt. Um uns herum waren nur Soldaten und Waffen-SS. Ich wurde in ein Barackenzimmer mit vier Betten gebracht. Die drei anderen Mädchen kamen etwas später. Wir waren alle froh, dass wir nicht allein waren, da wir uns doch sehr fremd fühlten. Nach einer halben Stunde mussten wir uns wieder sammeln, denn wir sollten nun das Werk kennen lernen. Es lag einen Kilometer weit weg von den Baracken. Ein Frau in Uniform begleitete uns.

Im Marschtempo ging es los. Wir trauten unseren Augen nicht, als wir ankamen. Ein Riesenkomplex lag vor uns, ein ganzes Stadtviertel. Alle paar Meter standen Posten in einem kleinen Turm. Es waren Soldaten von der Waffen-SS. Am Tor standen Wachposten, die uns kontrollieren mussten. In einem großen Raum hielt man uns einen Vortrag über alles, was wir machen mussten und in welche Abteilung wir kamen. Dann wurden wir noch vereidigt, denn über unsere Arbeit durften wir nicht sprechen.

Als alles erledigt war, holte uns ein Meister in seinen Block. Er erklärte uns alles, was wir noch wissen mussten. Am ersten Arbeitstag brauchten wir noch nicht alle uns aufgetragenen Pflichten erledigen. Der Meister führte uns erst einmal durch den Bau. Wir waren ganz zufrieden mit ihm, denn er behandelte uns sehr gut. Die Arbeiter waren alle Invaliden oder verwundete Soldaten. Auch KZ-Häftlinge und Strafgefangene waren da beschäftigt. Dazwischen liefen die Werkspolizisten in grüner Uniform herum. Sie mussten die Gefangenen bewachen.

Als die Sirene heulte, war Feierabend. Die Soldaten und alle Zivilisten strömten zur Kantine. Die Gefangenen mussten antreten und wurden abgeführt. Als wir durch die Kontrolle waren, fühlten wir uns wieder freier. Das Essen war sehr gut, das hatten wir nicht erwartet. Wir waren froh, als wir wieder in unserer Baracke waren. Die Leiterin überreichte uns gleich die Hausordnung. Wenn wir Rat und Hilfe brauchten, sollten wir uns an sie wenden, sagte sie uns. Sie war eine strenge Leiterin, das erfuhren wir gleich am ersten Abend. Ein paar Mädchen waren bis 22 Uhr nicht im Haus; da war dicke Luft. Die erste Nacht war für uns alle sehr kurz, denn wir hatten Heimweh in der fremden Umgebung. Ein Mädchen weinte noch lange in ihre Kissen. Wir versuchten, sie zu trösten. Sie tat mir so leid.

Am nächsten Morgen wurden wir durch den Feldwebelton der Heimleiterin geweckt. Wir krochen taumelnd aus den Betten. Der Weg in das Werk kam uns lang vor bei der Kälte. Der Meister gab uns Anweisungen, welche Arbeiten wir machen mussten. In dem Block wurden neue Rohrleitungen aus Glas gelegt. Da machten wir die Hilfsleute für die Männer. Auch bei den Schweiß- und Tischlerarbeiten mussten wir zur Stelle sein. An den ersten tagen hatten wir so manche Schwierigkeiten, aber nach kurzer Zeit ging alles besser von der Hand. Die Meister hatten viel Geduld mit uns. Am schönsten war es immer in der Frühstückspause; da konnten wir uns über die Arbeitsvorgänge in Ruhe unterhalten und lernten viel dabei. Wenn Fliegeralarm war, mussten wir sofort den Bau verlassen und in den Bunker laufen. Dann wurde der ganze Komplex eingenebelt. Wir hatten alle furchtbare Angst dabei, weil wir dann in großer Gefahr waren. Alle Gebäude waren hochexplosiv.

Die Arbeiter waren sehr nett zu uns. Nur die Werkpolizei spionierte ständig um uns herum. Das war oft lästig, weil wir uns nicht trauten, eine Antwort zu geben, wenn uns ein Gefangener mal ansprechen wollte. Es war verboten, mit ihnen zu sprechen. Die Grünen, so nannten wir die Wachposten, passten auf wie Spürhunde. Der Meister warnte uns vor ihnen. Im Block neben uns hatte man ein Mädchen abgeholt, weil sie sich mit einem KZler eingelassen hatte. Uns sagte man, dass man sie geköpft hätte. Wir wollten es nicht glauben und dachten, dass man uns damit nur abschrecken wollte. Am schwarzen Brett wurde bekannt gegeben, wer wieder abgeführt worden war. Auch eine Arbeitskollegin von mir war dabei. Der Meister erklärte uns, dass sie sich im Treppenhaus mit einem Gefangenen unterhalten hatte. Wir lebten in ständiger Angst bei der Arbeit. Manche Gefangenen grüßten freundlich, und wir durften nicht reagieren.

Auch von einigen Wachposten drohte Gefahr. Sie machten sich an die Mädchen heran, und wenn wir sie abwimmelten, weil wir nichts mit ihnen zu tun haben wollten, suchten sie nach einer Gelegenheit, uns anzuzeigen. So rächten sie sich. Ich habe den Verdacht, dass es meiner Arbeitskollegin so ergangen war. Ich versuchte immer, in der Nähe eines deutschen Arbeiters zu sein, damit ich einen Zeugen hatte, wenn mir einer etwas anhängen wollte. Immer, wenn jemand abgeführt wurde, musste auch der Gefangene mit. Beide wurden dann geköpft oder erschossen.

Mitte Januar 1945 kam die Front immer näher an uns heran. Wir lebten mit der Angst, ob wir uns am nächsten Tag noch wiedersehen. Im Radio hörten wir nur noch schlechte Meldungen. Dann kam der Befehl: Alles weg hier, der Russe kommt! Alle, die nicht mehr in ihren Heimatort konnten, weil schon die Russen da waren, sollten in ein Sammellager. Ich nahm zwei Arbeitskolleginnen mit zu uns nach Haus. Alles musste schnell gehen. Wir hatten keine Zeit mehr, um uns von unseren guten Freunden zu verabschieden. Jeder versuchte, einen Lastwagen von den Soldaten zu erwischen, um ein Stück mitgenommen zu werden. Die Straßen waren voll von Militärfahrzeugen, die an die Front mussten. Dazwischen die Flüchtlinge mit ihren Pferdewagen und Handkarren.

Alle Menschen waren sehr aufgeregt, kleine Kinder weinten in der Kälte. Die armen Leute mussten schnell ihre Heimat verlassen, weil die Russen kamen. Die eigenen Truppen konnten die Front nicht mehr halten. Als wir nach längerem Fußmarsch eine Bahnstation fanden, versuchten wir, mit dem nächsten Zug weiterzukommen. Auch die Züge waren überfüllt von Soldaten und Flüchtlingen. Wir quetschten uns noch dazwischen. Als wir endlich in Striegau spät abends ankamen, ging ich mit den beiden Mädchen allein weiter. Da meine Oma Laufer dort wohnte, gingen wir zuerst zu ihr. Sie war ganz entsetzt, als wir vor der Tür standen. Zuerst wollte ich wissen, ob bei uns zu Hause auch schon die Russen waren, denn wir wussten nicht mehr, wo die Front verlief. Ich borgte mir von Oma einen Schlitten, weil kein Zug mehr nach Gäbersdorf ging. Die fuhren nur noch für das Militär. Wir mussten zu Fuß weiter, denn wir wollten so schnell wie möglich zu meinen Eltern, solange noch keine Russen da waren. Zwölf Kilometer lagen noch vor uns, es war schlechtes Laufen, und die Dunkelheit machte uns zu schaffen. Den Weg kannte ich, aber ganz wohl war uns nicht auf dieser einsamen Landstraße. Wir machten uns gegenseitig Mut. Die Strecke kam mir endlos vor.

Als wir dann nachts um drei Uhr bei meinen Eltern ankamen, waren sie erschrocken und erleichtert zugleich. Mama versorgte uns gleich mit heißem Tee und Essen, denn wir waren erschöpft und durchgefroren. Ich konnte nur noch das wichtigste berichten, und wir fielen ins Bett. Erst am anderen Morgen konnten wir uns über alle Ereignisse unterhalten.

Auszug aus meinem Buch: Margarete Laufer "Ich mußte früh erwachsen sein". Erschienen 1989 im Jahn & Ernst Verlag. ISBN 3-894 07-012-9

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