> Margarethe Kopen: Kriegsende in Berlin

Margarethe Kopen: Kriegsende in Berlin

Dieser Eintrag stammt aus dem Tagebuch von Margarethe Kopen (1882 - 1968) aus Berlin, DHM-Bestand (Inv.-Nr.:Do2 2007/86):

Die in Minden geborene Margarethe Kopen wanderte 1919 in die USA aus und nahm die amerikanische Staatsbürgerschaft an. 1937 kehrte sie nach Deutschland zurück, um ihren Lebensabend in der Nähe ihrer Familie zu verbringen.

21. April 1945. Die furchtbare Tragödie Deutschlands, der schwerste aller Kriege nähert sich seinem Ende mit der Belagerung Berlins durch die Russen. Sonnenabend, den 21.4. hörte man hier im Südwesten den ersten Art. Beschuß. Die Fliegerfähigkeit wurde rege aber man konnte noch Einkaufen. Es standen Reihen von Menschen vor den Bäckerläden, ich 1½ Std. für ein Brot. Am Sonntag, 22. waren alle Läden geöffnet für Extrazuteilungen von Konserven, Nährmitteln, Zucker, Erbsen, Kaffee, für jede Person 1 Fleisch. Bis auf letzteres bekam ich alles nach 4 ½ Std. Stehen ohne Frühstück. Der Sonntag verlief noch ruhig. Montag früh wieder Anstehen 5 Std. für das Fleisch, das ich nachmittags einwecke für den Keller. Den ganzen Tag waren russ. Tiefflieger unterwegs, man hörte das Geknatter der Maschinengewehre, warfen aber nichts an Bomben ab.

[...] Am Mittwoch früh setzte dann ein infernalisches Getöse ein von leichter u. schwerster russ. Art. mit Antwort v. deutscher Seite, dazu hunderte von russ. Kampffliegern, die unaufhörlich flogen mit Abwurf, allerd. leichte Bomben. Eine ging i. d. Kartenstelle am Friedr.-Wilh.-Platz, wo es Tote gab, die andere in das Haus des Bäckers Klitzing, wo mehrere Leute, die für Brot standen leicht verletzt wurden. Wir waren fast den ganzen Tag im Keller, zwischendurch mal schnell nach oben, um was zu kochen unter größten Schwierigkeiten, da es weder Gas noch Elektr. noch Wasser giebt. [...] Alles war im Keller, auch unsere kleinsten Erdenbürger von 8 Tagen der am 3. Tag seines Lebens mit seiner Mutter aus d. Klinik entlassen wurde, da sie geräumt wurde. [...] Das ganze Haus ist am Leben des Kleinen beteiligt und interessiert. Die Mutter hatte 2 Tage sehr wenig Milch, heute am 9. Tag ist's mehr. Es gibt nirgends Milch u. die Trockenmilch, die längst hätte geliefert werden sollen, ist auf die Zuteil. nicht zu haben. Es ist alles überorganisiert u. darum verkehrt gemacht. [...]

Strege war es ganz elend geworden, als er durch die Stadt gegangen u. die verschiedenen Gehenkten gesehen, die auf Befehl Hitlers umgebracht, da sie sich nicht als Helden bewiesen. Den ganzen Tag am Mittwoch u. den größten Teil der Nacht kam Welle über Welle von hunderten v. Flugzeugen u. warf Bomben, dazu schwerster Art. Beschuss von beiden Seiten, russ. u. deutscher, es war ein ohrenbetäubender Lärm, da Friedenau unter Beschuß lag u. ein Teil von Wilmersdorf. Wir waren alle im Keller [...] Ecke Stubenrauch u. Taunusstr. brannten 2 Häuser total aus (Gettes Milchladen). War nur kleine Bombe aber kein Wasser z. löschen, auch die Badewannen nicht gefüllt. [...]

Seit 3 Tagen habe ich mich nicht mehr ausgezogen, man wäscht sich nur wenig, da das Raufschleppen des Wassers nicht leicht ist. Essen ist augenblickl. die Hauptfrage, Brot ist nicht neu gebacken u. wird bald zu Ende sein, was die heute noch gehamstert hatten, denn jeder ißt aus Nervosität schon mehr. Konnte am Montag noch mit Kuenzer telef., aber Hilde u. Leni Heldmann sind abgeschnitten. Ging u. holte in einer Pause Extrazut. von 1000 Gr. Brot. Es war völlig sandig, muß Mörtel in den Backtrog gefallen sein.

Nacht vom 26.4. (Donnerstag) zum 27. Freitag anfangs im Kellerdurchgang im Liegestuhl, starker Art. Beschuß, die sog. Stalinorgel deutlich zu hören, dazwischen Masch. Gewehrfeuer. Gegen 3 Uhr morgens ging ich steif gefroren u. lahm gesessen nach oben u. legte mich ins Bett ohne mich auszuziehen u. blieb trotz des Geknatters, der schweren Einschläge liegen, um wenigstens den Körper zu ruhen. [...] Das Proletariat des Hauses tat sich gestern Abend zusammen u. betrank sich, alles Frauen, in einem Nebenkeller unseres Hauses unter Geschrei u. Gelächter u. zwar gerade die, die sich nachts über die Störung durch weinende Kinder am lautesten beschwert hatten. Diese Menschen haben eben gar keine Haltung in solchen Situationen, wenn sie sonst auch gutmütig u. teils sehr hilfsbereit sind. [...]

Ich zeichnete auf weiße Pappe die amerik. Flagge, die 12 rot-weißen Streifen mit blauen Einsatzfeld mit den 48 Sternen der 48 Staaten mit Buntstift ausgefüllt, war ganz gut geworden u. innen an der Tür angebracht ist mit U.S.A. u. America darüber. Ob es irgendwelchen Eindruck macht, kommt auf den Bildungsgrad des betreff. Russen an. Es geht kein deutscher Sender mehr, unser Mechanik u. Radiomeister im Haus suchte einen Apparat mit Batterie konstruieren. Die Kämpfe scheinen sich mehr aus unserer Gegend zu verziehen, die Schüsse fallen vereinzelter, [...] Neuer Anfang von scharf. engl. Geschosse, die Luft ist erfüllt von Rauchschwaden der Geschosse u. den 2 noch schwelenden Häusern. Dazwischen tauchen die Gestalten totmüder dahinziehender Soldaten auf u. eben sehe ich mit Entsetzen einen Zivilisten, Hände auf d. Rücken gebunden dahinter 3 Soldaten, die ihn wohl zum Tode führen müssen. Oben, die alberne Frau S. halbgebildet mit dem Complex für was Besseres geboren zu sein, hat bereits eine weiße Tischdecke über den Balkon zur Straße gehengt. Eben wird die Straße mit dtsch. Soldaten besetzt, unter jedem Baume einer, so werden wir den Kampf in Kurzem aus nächster Nähe erleben. Ich lasse die Jalousie a. d. Balkontür runter, vor den zertrümmerte Fenstern ist die Verdunkelung runter gelassen.

Die Küche zum Hof heraus ist vorläufig am sichersten. Der Kampf scheint hin u. her zu wogen, es hört sich zeitweise entfernender an, dann wieder, als sei es unten auf der Straße.[...] Das Stegl. Rathaus war gestern schon umkämpft, war hin u. her im Besitz dtsch. u. russ. Truppen, wer es zuletzt gehalten ist nicht zu erfahren. Die schönen Ahornbäume vor dem Rathaus sitzen voll verängstigter Vögel, die zirpen u. flattern u. den Wahnsinn der Menschen wohl nicht verstehen können. [...] Wann wird man von seinen Freunden u. Bekannten hören, in Zehlendorf, Dahlem u. Treptow. Leni mit ihrer 14jährigen Christine allein in d. Haus, das hoffentl. nicht in letzter Minute noch ausgebrannt ist. - Ich sitze allein in der Wohnung, das Haus selbst totenstill, man wagt nicht auf den Balkon zu treten, da dauerndes Maschinengewehrfeuer die Straße herunter knattert und von Zeit zu Zeit solch wahnsinnige Detonationen erfolgen, daß das ganze Haus erschüttert u. es von Glassplittern nur so klirrt. Ich habe nicht geahnt, dass man solch irrsinnigen Lärm, solch schwere Erschütterungen überstehen könne. Allerdings merkt man es allmählich im Kopf, der wie leer ist wohl auch von den schlaflosen Nächten seit fast 8 Tagen und den dauernden Erregungen. Es ist kalt in den ungeheizten Wohnungen, draußen ist es viel wärmer und man würde gerne in die Sonne auf d. Balkon gehen, wagt es nicht wegen der Scharfschützen von den Dächern. [...]

[...] Es liegen so furchtbare Tage hinter uns, dass man denkt man sei Jahrzehnte älter geworden. Es fuhren am Freitag 27. ganzen Abend Panzer über Panzer auf d. Südwestcorso vorbei mit Soldaten schwer bewaffnet besetzt. Da wohl schwacher Widerstand an der Kaiserallee war, hielten die mit Russen besetzten Wagen Ecke Taunusstr. u. blieben dort stehen. In kurzer Zeit waren die Sold. z. ... [?] Asiaten [?] an den Panzern u. strömten in die Häuser. Ich war bei Frau Trowe, die Kaffee geröstet hatte u. den wir grade trinken wollten. Da hörte ich Kolbenschläge gegen meine Tür. Ich machte auf u. davor standen 2 bewaffnete Soldaten, der eine stark betr., hinter ihnen zitternd das Ehepaar Seidenberg, er auf Strümpfen, da sie ihm bereits die Stiefel ausgezogen. Sie leichenblaß u. zitternd. Sie wollten meine Hülfe als Amerikanerin. Der eine Mann groß und blond, der andere klein u. ... [?] mit Pistole der andere mit Gewehr. Ich zeigte auf die an der Tür angebrachte amerik. Flagge u. sagte "Amerika". Sie zuckten nur die Achseln u. sagten was wobei mir der kleinere total betrunkene die Pistole auf die Brust setzte. Ich dachte meine letzte St. hätte geschlagen. Frau S. rief nicht schießen u. er hob beide Hände. Da machte Frau Trowe auf u. beide liefen nun herüber i. d. offne Tür. Ich folgte, sah, wie sie Frau Trowe u. Frau G. ins Zimmer folgten. Ich ging bei offner Tür zu Sdbg., um sie zu beruhigen, als ich einen Schuß hörte u. nach ein paar Minuten kam Frau Goldacker u. sagte: Kommen Sie doch ich glaube Myrthle stirbt! Ich rannte rüber, nachdem mir Frau Seidenberg versichert sie könnte nicht helfen. Als ich rüber kam lag Frau Trowe aus d. Mund blutend auf der Erde, aus der Schläfe lief das Hirn. Ich hatte noch Wasser von mir, und wusch sie ab, aber der Puls hatte schon aufgehört u. sie stöhnte schon nicht mehr u. in wenigen Sekunden war es zu Ende. Frau Golda. ergänzte dann, wie die Beiden mit Vorhalten der Waffen ihre Uhren gefordert. Da sie auch das 7 Tage alte Kind bedrohten gab sie die ihre Uhr sofort vom Arm u. richteten noch mal die Pistole auf sie, Frau T. schrie "nicht u. nein" u. da sah er ihre Armbanduhr, griff danach u. wollte sie abreißen. Als sie sich weigerte schoß der viel kleinere Soldat mit der Pistole nach ihrem Kopf. Die Kugel drang unter dem Kinn ein zur rechten Schläfe heraus, ich fand 2 Hülsen, die wohl in kurzer Folge von 2 Schüssen rührten, obgleich Frau G. nur 1 Schuß gehört. Wir waren beide Frau G. u. ich völlig fertig. Es hätte niemand, außer Seidenbergs, davon gehört, da fast alle im Keller geblieben waren! Aber weder er noch sie kamen noch mal nach uns sehen, nachd. Frau S. ihre Handt. geholt.

Ich blieb die Nacht bei Frau G. in Frau Tr. Wohnung, wo wir zusammen mit dem Teckel zwischen uns angezogen auf d. Couch lagen. Frau G. schlief ich tat kein Auge zu u. jeder Schuß ließ einen aufschrecken. Am Sonnabend früh zog ich zu Streges 3. Etg. 65 a, sehr reizende Frau, da dauernd Russen kamen u. in den Wohn. rumlungerten. Ein Stab vom Troß aß in Seidenbgs. Wohn. u. bei Richters waren ein paar Offiziere einquartiert, die sich ord. benahmen u. die wir zur Hilfe rufen konnten. Aber man war den ganzen Tag in nervösester Unruhe, da die herumstrolchenden Kerle alle Frauen, derer sie habhaft werden konnten, gleichgültig welchen Alters, mißbrauchten. Inzwischen tobten die Kämpfe weiter, ein schweres Geschütz, Granatwerfer, stand am Laub. Platz u. schoß dauernd nach Wilm u. Schönebg. Rundherum brannte es u. wir saßen verängstigt auf Schritte horchend.

Da kam Frau Hoffm. schreiend rauf, gefolgt von einem jungen, starken Russen mit Maschinenpistolen, der sie fassen wollte. Frau Schmidt, die polnisch spricht, trat ihm entgegen u. sagte, sie wolle den Comissar holen, worauf er verschwand. Auch Frau H.s Tochter, die ein Kind erwartet, wurde vergewaltigt. Wir hatten schließlich solche Furcht, dass wir keine Tür mehr öffneten u. uns Klopfzeichen verabredeten. Da man aber Wasser brauchte, mußte man auf die Straße u. ich benutzte dann wenigstens das russ. Kom. das bei Richters i. d. II. Etg. u. bei Seidenbergs Part. hauste, um eine Portion ganz köstl. Suppe mit viel Fleisch für uns alle zu holen mit d. Wort: Amerikanska. Am Sonntag, den 29. gruben wir vor dem Haus ein Grab und wir legten Frau Tr. die wir auf ein Brett gebettet u. mit einem Laken eingeschlagen hatten hinein mit Tannenzweigen bedeckt u. schaufelten es zu.

[...]. Während wir 4 Frauen ihr Grab schaufelten, wurde auf dem anderen Rasen vor dem Haus eine Kuh erschossen, gehäutet u. zerlegt und in den daneben stehenden Küchenwagen getan, aus dem Fenster der Parterrewohnung klang d. Grammophon gespielt ein russ. Tanz, es kam mir vor, wie ein böser Traum. [...] Am 1. Mai wurde viel Schnaps verteilt u. man hielt sich vorsichtig von der Straße ab, um durch die trunkenen Soldaten nicht belästigt zu werden. [...]

Überall waren die Soldaten in die Keller gedrungen u. hatten Vorräte rausgeholt, die Koffer durchwühlt u. das, was ihnen begehrenswert schien genommen, wobei sie aber Frauenbekleidung u. Wäsche unberührt gelassen. Auch in Zehlendorf waren noch viele Russen, die z. T. biwackierten oder in Villen hausten. [...]

Ich hatte inzwischen von Frau R. ein Taschentuch mit amerik. Flagge bekommen das ich als Armbinde trug, wie alle Ausländer, die mit Binden ihrer Landesfarben überall auftauchten u. den Vorteil hatten nicht Schlange stehen zu müssen, was ich auch 1 Mal beim Bäcker ausnutzte. Es gab am Montag schon Lebensmittelk. f. Deutsche i. Friedenau die ein Vertr. Mann des Hauses holte. And. mussten selbst kommen u. ich bekam meine am folg. Tag, mit d. Vermerk "für Bürger d. verb. Staaten". Für Deutsche gab es pro Tag 200 Gr. Brot 400 Gr. Kart. 10 Gr. Zucker 3 Gr. Salz, 2. Gr. Kaffee, 25 Gr. Fleisch. Für Ausl. 400 Gr. Br. 500 Gr. Kar. 75 Gr. Fleisch, 20 Gr. Zucker, 20 Gr. Salz, 5 Gr. Kaffee. Es wird schon von neuen erhöhten Marken gesprochen u. zusätzlicher "Stalinspende" von Kaffee, Tee u. Hülsenfrüchten. [...]

Am 9. Mai ging ich mit Frau S. die sich unter meiner Armb. u. ich durch ihre poln. Sprache sicher fühlte bis Brandenb. Tor, wo früher die amerik. Gesandschaft u. später d. Abt. Schutzmacht der Schweiz befand. Alles zu Fuß mit öfterer Rast, da es sehr warm war u. die Straßen durch die Trümmer sehr staubig waren, sodaß wir bald in einer grauen Staubwolke wanderten. Überall wurde geschüppt u. der Schutt in die Häuserruinen gebracht, sodaß Berlin bald so rein aussah, wie seit Jahren nicht. Ueberall besonders am Potsd. Platz Ruinen u. Trümmerhaufen, das Reg. Viertel ein Steinhaufen. Wir kamen endlich ans Brand. Tor, wo ein lebhafter Wagenverkehr mit vielen Russen war. Das Brandb. Tor stark mit Kugelgesch. Übersät, aber noch stehend. Von dem Siegeswagen war nur der eine patina grüne Arm der Siegesgöttin vorhanden, der sich, wie drohend gen Himmel streckte mit 2 roten Flaggen daran gebunden. Von den stürm. Pferden sah man nur einen Teil der Leiber, da man das Tor nicht passieren durfte. Eine kleine Polizistin in russ. Uniform mit gelber u. roter Flagge regelte den Verkehr u. winkte uns mit bösen Augen ab weiter zu gehen. Neben dem Tor stand ein Auto m. Lautsprecher, aus dem Wiener Walzer u. Operettenmelodien erklangen, zu denen die z. T. betrunkenen Sold. über d. Straße tänzelten. Zwischen Brand. Tor u. Siegessäule war die West-Ost Achse von Bürgern beider Geschl. gefegt u. gesprengt. In d. Mitte war eine Tribüne mit 3 Türmen in roter Farbe errichtet, mit Gold geschmückt, an denen die Bilder v. Stalin, Churchill u. Roosevelt in Ueberlebensgröße angebracht wurden, in Sepiabraun gespritzt. Es sollten 3 Siegestage sein: 10. 11. 12. Mai. Abends sah man von Streges Fenster aus viele Leuchtraketen aufsteigen. Der Tiergarten sah furchtbar aus, all den schönen alten Bäumen die Krone gekappt. [...]

Allmähl. beruhigen sich die aufger. Nerven, wenn auch das tägl. Sehen des Einschusses durch meine Tür u. das Geschoß in meiner Handtasche daran erinnert, wie nahe ich d. Auslöschen war nach etwa 4 Jahren schwersten Bombenterrors, den man heil überstanden hat. Friedenau ist wirkl. gegen die Gegend Lützowufer, Potsd. Platz, Linden eine Friedensau mit seinen schönen blütenübersäten Kastanien, Ahorn u. Lindenbäumen. Christian, der im 3. Stock wohn. Opernsänger kam heute freudig erregt u. erzählte, daß die Volksoper geöffnet werden solle, daß morgen 14. erste Proben stattfänden. Die Charl. Volksoper ist stehengeblieben ebenso das Ren. Theater Hard. Str. wo ich die unvergeßl. Emilia G. Auff. vorigen Juni mit Frau Trowe sah. Es soll nun dort möglichst bald ein Ballet eingerichtet werden, die beiden Hauptballettänzer d. Opernhauses, die fließend russ. Sprechen haben schon mit dem Comissar verhandelt, dem diese Kunstdinge unterstehen. Gesucht wird Heinrich George, der einst ein ausgespr. Kommunist u. dann ein noch ausgespr. Nat. Soc. war u. sich verborgen hält. Vorläufig fehlen außen außer kleinen kurzen Notizen alle Nachrichten man hörte nur durch Anschlag, daß am 8. Mai abends 23 Uhr alle Feindseligkeiten eingestellt u. die bedingl. Capitulation von Keitel unterzeichnet sei. Ueber Göbbels u. Hitler schwirren die wildesten Gerüchte. Hitler sollte erst am 1. Mai s. Wunden ob durch Selbstmord oder Erschießen o. s. seiner Offiziere, erlegen sein, was von russ. Seite als nat. sozial. Manöver aufgefaßt wird. Man glaubt, er habe sich per Flugz. oder Unterseeboot geflüchtet, Goebbels und ges. Familie habe sich vergiftet. Es wird lange dauern ehe man autent. Nachrichten über diese Schufte erhält, die das deutsche Volk in dies namenlose Unglück gestürzt haben. Ich hörte heute von einem Arzt wie geschickt u. diplomat. Stalin seine Anordnungen bezügl. Lebensmittel getroffen. Es giebt 4 Klassen. Das meiste bekommt der intel. Arbeiter, der b. Hitler immer angegriffen wurde. II. der körperl. Arbeitende, III. der allgem. Angestellte u. 4. alle Sonstigen. [...]

Man ist totmüde, teils von dem warmen Wetter, aber auch von der überstandenen Erregung, die noch lange nachwirken wird. Immer schweifen meine Gedanken zu Ernst, zu Walter, vor allem zu Herm. u. Rose, die nun beide Jungen im Osten eingebüßt haben u. Gerhard wohl auch im Westen in Gefangenschaft geraten. Von allen ist man abgeschnitten u. weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. - Alles wird ahn. aufgelockert. Die Bestimm. der Abgabe aller Radioap. ist zurückgenommen, die Sperrstunden von abends 10 bis morgens 8 Uhr sind aufgehoben, ebenso das Verdunkeln, aber es ist dafür ein Gebot ergangen die Haustüren von 7 morgens bis abends 8 Uhr offen zu halten. In manchen Straßen giebt es schon Licht, aber noch nirgends Wasser nun schon seit 20. April, Gassperre seit 24. Januar. Das Anstehen für Brot u. Kartoffeln ist schlimmer u. länger als zu Nazis Zeiten, ich bekam heute 1000 Gr. Brot u. 1 ½ Pf. Mehl, das Brot wanderte gleich leihweise zu Christens die trotz 2 Std. Stehen nichts mehr bekommen hatten. [...] Die Bevölk. hat sich bereits gut mit d. Russen abgefunden, die schnell einsetz. Verpflegung war die beste Propaganda und die zusätzl. Kaffee u. Teerat. heben die Russen sehr in d. Augen d. Bevölk. [...]

Ich habe angefangen wieder Englische Konversation zu geben, da ich nicht weiß, wie es mit meinem Gelde sein wird, außerdem komme ich in eine bessere Verpflegungsklasse, da die Russen sich auf die Kulturträger der Welt spielen u. die sog. "Kulturschaffenden" darunter Prof., Ärzte, Ballettänzerinnen, Opern Chorsänger (sogar in Kl. I) erhöhte Rationen bekommen, wie die Arbeiter. So gehöre ich als Lehrerin auch dazu, d.h. zu den Kulturschaffenden. [...]

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