> Paul Thomaschki: Tagebucheintrag 13.10.1918

Paul Thomaschki: 13.10.1918

Eintrag aus dem Kriegstagebuch von Paul Thomaschki (1861-1934), Pfarrer an der Burgkirche zu Königsberg/Ostpreußen.

Das Tagebuch bezieht sich nicht nur auf den privaten Bereich, den kirchlichen Alltag, die Kriegsereignisse sowie um Verluste aus der Gemeinde, dem Corps und von Bekannten, sondern reflektiert auch die persönliche Meinung zu den vielfältigen Ereignissen. Teilweise wurden auch die Kopien der Todesanzeigen aus der Zeitung eingefügt. Der nachfolgende Eintrag stellt keinen Anspruch auf Richtigkeit der Informationen dar. Ein ganz besonderer Dank gilt der Sütterlinstube in Hamburg, die das 720 Seiten umfassende Original in mehr als 500 Stunden durch ehrenamtliche Mitarbeiter in die lateinische Schrift transliterierte. Dabei wurde die zum damaligen Zeitpunkt verwendete Grammatik, Ausdruckweise und Rechtschreibung im Wesentlichen beibehalten.
J. Frank, März 2018

Sonntag den 13. October 1918 

Die Würfel sind gefallen. Der Krieg ist verloren. Auf Gnade und Ungnade ergeben wir uns. Mit Blut und Tränen schreibt man das nieder. Unser großes deutsches Volk ist zu schlapp, um in den Kampf auf Tod und Leben einzutreten. So muß es denn das Schicksal erleiden, das es verdient.

Die Antwort an Wilson
spricht die bedingungslose Räumung der besetzten Gebiete aus. Sie ist mit Zustimmung der Obersten Heeresleitung erfolgt. Also auch auf das Heer ist kein Verlaß mehr. Gestern Abend sprachen wir uns darüber mit Siegfried aus, und er berichtete geradezu niederschmetternde Tatsachen.

Auflösung von Divisionen.
Die 183. Div. wurde aufgelöst, nachdem ein jüdischer Einjähriger mit einigen Kameraden zum Feind übergelaufen war. Die 4te Ers.-Div. wurde aufgelöst, nachdem 2 Kompanien gemeutert hatten. Ebenso erging es andern Divisionen, der 163sten und der 10ten Ersatz.-Div. Die Kommandeure erhielten den Cylinder. Die Artillerie wurde Heeres-Art., und die Inf. wurde auf die Rekruten-Depots verteilt.

Dies ist etwas Ungeheuerliches und wäre in den ersten Kriegsjahren ganz undenkbar gewesen. Eines der tüchtigsten und Ruhm gekröntesten Regimenter ergibt sich in pleno dem Feinde, ohne auch nur einen Ausfall und Durchbruch zu versuchen. Der prachtvolle Kommandeur verteidigt sich mit seinem Stab und wird natürlich niedergemacht. 

Disziplinlosigkeit
Ein General hält einen Soldaten an. Dieser wird frech. Das Publikum nimmt für ihn Partei und bläut den General durch.
Siegfr. zu einem fremden Uffz.: Weshalb grüßen Sie nicht? Uffz.: Ich kenne Sie ja nicht. - S.: Ich soll mich Ihnen wohl vorstellen?  Uffz. will erwidern. S.: "Halten Sie den Schnabel!" Uffz.: Ich habe keinen Schnabel..
300 Mann Ersatz sollen abgehen; aber von den 300 kommen nur 75 auf dem Bahnhof an. Offen, ohne Scham, wird gesagt: Die Dummen sind an der Front. Hunderttausende drücken sich in der Heimat und in den Etappen herum.

Hindenburg und Ludendorff
sollen von alledem nichts gewußt haben, sondern durch die Be-richte ihrer Divisionskommandeure getäuscht worden sein. Als Ludendorff dann endlich klar sah, da soll er - zugleich unter dem Eindruck von Bulgariens Fahnenflucht - zusammenge-brochen sein (?).

Der Kaiser
hat  zu  schwächlich Elementen nachgegeben, die ihn zum gewaltsamen Bruch mit deutscher Art und deutscher Geschichte hindrängten, cf das allgemeine direkte Wahlrecht. Er zitterte zu sehr um seine Krone. Ich freilich traue ihm andere Beweggründe zu. Er wollte mit dem Wahlrecht sein Volk mündig machen; aber nicht das Volk, sondern Parteien rissen das Recht an sich, die nicht im Volk wurzelten.          

Gründe
Die Reg. war zu schwach. Trauriges Erbteil von Bethmann-Hollweg.
Die Offz. haben an der Front versagt. Hätten sie sich mehr um ihre Leute gekümmert und ihnen ein besseres Vorbild gegeben, so hätten sie sie mehr in ihrer Hand gehabt.
Die Heimat hat versagt, die Klubs der Mießmacher (wie Knoop), die Kriegerfrauen und all die leidensscheuen Elemente, die zu keinem Opfer fähig sind.
Die rege feindliche Propaganda mit ihrer wüsten Lügenpresse, mit ihren Flugblättern und Wühlereien.
Unsere Presse mit ihren Berichten über englische Hetzreden und ihren schwächlichen Erwiderungen.
Die Durchsteckereien in den Lazaretten und in der ganzen Organisationen der Kriegslieferungen.
Die Erweichung aller sittlichen Begriffe, der Mammonssinn, die Fleischeslust, die Verlogenheit und Unehrlichkeit, der Kleinmut und die Verzagtheit, mit einem Wort: der Abfall von Gott und der Religion der Väter.

Besuch bei Dr. Schmall
Überreichung des Gedenkblattes für den gefallenen Sohn. Die Gnädige empfing mich. Der Kotau vor Wilson? Ach, das ist ja alles so gleichgiltig. - Erlauben Sie mal, der Zusammenbruch unseres Vaterlandes ist gleichgiltig? - Sie: Ach was, Vaterland! Das Vaterland hat mir meinen Sohn genommen, und ich freue mich, daß es zu keinem Siegesjubel kommt!!! - Auch solch ein Subjekt nennt sich eine deutsche Frau! Schmach und Schande über solch ein undeutsches Gewürm.

Liese
sagt: Es ist gut, daß das Blutvergießen ein Ende nimmt, Alles andere kümmert sie nicht. Und sie vertritt die Intelligenz ihrer Volksschicht.    

Der Chemin des dames
ist aufgegeben, auch Nisch.

Siegfried
fuhr heute zu Panzer nach Köwe.

Die kirchl. Erneuerungswahlen
vereinigten 23 Wähler. In der Kirche 90 Zuhörer.

Siegfr. in Köwe
bei Panzers. Große Gesellschaft, 16 Personen (Fr. Pfr. Naubereit und Schw. Fr. Gutzeit, Christel Naubereit, 3 Ltn. (v. denen einer 8x verwundet ist) etc. Gutes Essen: Suppe, Kalbsbraten mit Schmandsauce und Kompott. Kaffee im Garten mit Waffeln. Zu Abendbrot Klops mit Gemüse, Kartoffeln und Thee. Für Wegener wird ein Schwein gemästet, Fr. Pfr. Nauberit hat eins in Lichtenhagen. Der 10 jähr. Sohn von Wegener wird gefragt, ob er auch Schauspieler werden will? Nein, sagt er, da muß man sich sooft scheiden lassen.
Martin Naubereit ist wahrscheinlich gefangen, er lag beim Vorrücken der Engländer krank an Malaria.
Der Mann von Nora Panzer, Pfr. Bliedner in Argentinien, amtiert noch, wie der Ober. Kirchenrat mitteilte. Aber seit 3 Jahren hat die Mutter von ihr keine Nachricht.

Abends in Bellevue
erwarteten wir mit Hünemohrs Siegfr. Leo erzählte, daß bereits Bergungszüge von hier nach Belgien beordert seien. Wilson ist auf einmal der beste Mann, der uns schützen wird!! Auch Eng-land und Italien will Frieden, nur nicht Frankreich. Mit diesen werden wir es schließlich allein zu tun haben!! Wollen die Feinde einen Fußbreit deutschen Bodens, dann wird sich das ganze Volk wie ein Mann erheben!! Die großen Vermögen über 50.000 M werden konfisziert werden!! Na, und dergl. Ungeheuerlichkeiten mehr. Emma meinte, der Kaiser werde sich "bei dem Bewußtsein seiner Gottähnlichkeit!! wohl schwer in die neuen Verhältnisse hineinfinden.

Brief von Sophie Flebbe
Mein Schicksal will ich schon tragen. Aber wenn ich an die Jugend meiner Kinder und Großkinder denke, könnte ich verge-hen vor Weh u. Angst. O Gott im Himmel, was soll aus deiner Menschheit werden! Ich kann es nicht fassen, daß Deutschland dem Untergang geweiht sein soll. Ich bete glühend, daß Gott uns noch in der letzten Stunde die rettende Hand reicht. Ist es mit Gottes Gerechtigkeit und Güte zu vereinigen, daß Lug und Trug, Neid, Haß, Mordgier siegen in diesem Kriege, den wir nicht gewollt haben? Es stand doch so gut mit uns, und nun plötzlich soll alles zu Ende sein und wir müssen uns unsern entsetzlichen Feinden auf Gnade und Ungnade ergeben. Es ist nicht auszudenken. Es würde alles in uns getötet werden, Hülfe uns Gott nicht noch in letzter Stunde. Ich leide innerlich so sehr, daß ich ganz verzweifelt bin.

lo