Peter Rosenzweig: Verschleppung von Kindern kommunistischer Anhänger

    Dieser Eintrag von Peter Rosenzweig aus Hamburg für seine Mutter Annemarie Kosielowsky (*1929) stammt aus dem Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben!

    Annemarie Kosielowky (geb. Kruse) wird als Kind zusammen mit ihren Geschwistern in der NS-Zeit durch die Gestapo von ihren Eltern getrennt und verschleppt. Ihre Mutter, Anna Kruse, war aufgrund ihrer Tätigkeit für die KPD in den 1920er Jahren verhaftet worden. In den folgenden Jahren wird Annemarie in Kinderheimen und von Pflegeeltern betreut.

    1935. Anna wird denunziert. Gertrud, Hermann, Rudi, Eduard und Annemarie werden von der Gestapo verschleppt und Anna wird verhaftet. Von einem Mitglied der Verwandtschaft wird sie angezeigt. Ihr wird eine kommunistische Gesinnung vorgeworfen, da sie 1917 als Sekretärin in einem Büro der kommunistischen Partei gearbeitet hat. [...]

    Ein Mann und eine Frau kommen eines Vormittags auf den Spielplatz, gleich in der Nähe der Wohnung. Eduard, Rudi, Hermann, Gertrud und Annemarie spielen dort. Sie schleppen die fünf in einen Wagen und bringen sie ins Kinderheim Averhoffstraße. Die Kinder werden verhört, medizinisch untersucht und noch heute zittert Annemarie beim Anblick eines gynäkologischen Stuhls.

    Nach einigen Tagen werden sie getrennt. Annemarie bleibt zunächst in der Averhoffstraße. Rudi, Hermann und Eduard kommen nach Ochsenzoll, später nach Neetze zu Bauern. Hermann ist Bettnässer und hat unter den harten Strafen der Heimschwestern und unter den Hänseleien/Bloßstellungen der Kinder sehr zu leiden.

    Annemarie wird ins Kinderheim Bad Oldesloe gebracht. Ein Heim, das von Ordensschwestern geführt wird. Die Erziehung ist bestimmt von den Ideologien der NSDAP. Die Erziehung ist streng, lieblos und unerbittlich. Schläge gibt es fast täglich. Kleinste Verfehlungen werden mit Essensentzug, Arbeit, Missachtung und eben Schlägen geahndet.

    Anna wird verhaftet und verhört - tagelang. Schließlich lässt man sie frei. Doch ihre Kinder bekommt sie nicht zurück. Es folgen viereinhalb Jahre in Heimen und bei Pflegeeltern. Keine Nachricht von den Eltern. Keine Nachricht von den Kindern. Anna schreibt viele Briefe an Karl Kaufmann, dem Hamburger Bürgermeister, und an Hitler. Keine Nachricht, keine Rückmeldungen. [...]

    Immer wieder kommen kinderlose Ehepaare nach Bad Oldesloe. Schließlich entscheidet sich ein älteres Ehepaar für Annemarie. Annemarie kommt zu den Reimers (50+55) nach Hamburg Lämmersieth in eine Kleingartensiedlung. Er, gütig, Bauarbeiter, trinkt. Sie, herrschsüchtig und vom Leben, vor allem vom Eheleben enttäuscht, sieht Annemarie als dauernde Belastung. Sie ist unfreundlich und unbeherrscht. Sie benutzt Annemarie als Dienstmädchen. Kontakte zu Schulfreunden werden kategorisch unterbunden.

    Eines Tages erschlägt der betrunken heimgekehrte Pflegevater die Pflegemutter mit der Axt. In der Küche und kurz vor dem Abendessen. Annemarie sitzt am Küchentisch und sieht die Axt, wie sie in den Schädel eindringt. Jemand ruft die Polizei. Ein Polizist findet Annemarie im Geräteschuppen. Sie ist fast irre vor Angst. Wieder kommt sie ins Heim Bad Oldesloe. Keine Fragen, keine Erklärungen. Ihre geliebte Zelluloidpuppe bleibt zurück. Ein weiteres Jahr vergeht. [...]

    Die Behörde meldet sich. Sie teilt den Eltern schriftlich und in zeitlichen Stufen mit, wo die Kinder abgeblieben und abzuholen sind. Im Verlauf eines dreiviertel Jahres kommen die fünf wieder nach Hause. 1940. Plötzlich steht die Mutter Anna vor Annemarie. Sie hat ein behördliches Schreiben erhalten, dass Annemarie in einem Heim in Bad Oldesloe abzuholen sei. [...]

    Der Krieg wütet bereits seit über drei Jahren. Annemaries Schulzeit endet mit der siebten Klasse. Ihre Familie und sie erleben die drei Tage, die von den Alliierten "Gomorrha" genannt werden, inmitten der Luftangriffe, der brennenden Häuser, der verschmorten Toten, der Ratten, der angefressenen Leichen - und überleben unverletzt. Familie Kruse wird nach dem Angriff "Gomorrha" nach Klein Karben, zu Verwandten mütterlicherseits, evakuiert. Annemarie darf nicht mit - Sanitätshelferinnen werden gebraucht. Auf einem Gelände an der Hammer Landstraße stehen große Sanitätszelte. Tausende Verwundete müssen behandelt werden.

    Annemarie ist wieder allein, bis unverhofft ihre Schwester Hanna aus Altona die Straße entlang gehumpelt kommt. Sie hat einen Napalmangriff überlebt. Doch Beine und Füße sind verbrannt. Seit Jahren arbeitet sie als Prostituierte auf der Reeperbahn und unterstützt die Familie, obgleich illegal, mit Geld. Gemeinsam werden sie sechs Wochen später aus Hamburg herausgebracht. Der Konvoi, mit dem sie und viele Mütter/Kinder/Alte transportiert werden, wird auf der Strecke nach Frankfurt von Tieffliegern angegriffen. Viele sterben.

    In Klein Karben beruhigt sich das Leben ein wenig. Es gibt mehr zu essen und die Kriegsbedrohung ist geringer. [...] Nach Kriegsende kommen die Amerikaner, nehmen Häuser in Beschlag und vergewaltigen die deutschen Mädchen und Frauen. Annemarie und ihre Schwestern dürfen nicht mehr auf die Straße. Sie verlassen Klein Karben und kehren ins zerbombte Hamburg zurück.

lo