> Philipp Mamat: Aufzeichnungen aus dem Krieg gegen Polen 1939

Philipp Mamat: Aufzeichnungen aus dem Krieg gegen Polen 1939

Dieser Eintrag stammt von Philipp Mamat (*1984 ) aus Wolfenbüttel http://www.mamat-online.de Januar 2009:

Dieser Beitrag ist eine Abschrift handschriftlicher Aufzeichnungen meines Großonkels Wilhelm Seedorf (19.12.1918-31.01.1942) aus Göttingen, ältester Sohn von Prof. Wilhelm Seedorf (11.10.1881-10.03.1984). Im Original sind die Aufzeichnungen in "deutscher Schrift" verfasst, die heutzutage nur noch vergleichsweise wenige Menschen lesen können. Mit Unterstützung meiner Großmutter Heide-Sophie Christmann, geb. Seedorf, (*22.02.1920) habe ich diese Kopie angefertigt.

Rechtschreibung und Grammatik habe ich nach den heute gültigen Regeln anzuwenden versucht, kleinere Rechtschreibfehler (z. B. in den Ortsnamen) habe ich korrigiert. Solche Veränderungen sind nicht gekennzeichnet. Dagegen habe ich inhaltliche Ergänzungen (z. B. polnische Ortsnamen neben den entsprechenden deutschen Namen der Ortschaften) oder das Austauschen ganzer Wörter (damit grammatikalisch falsche oder unvollständige Sätze einen Sinn ergeben) gekennzeichnet, indem die Abweichungen in eckigen Klammern "[ ]" stehen. Die ebenso markierten Datumsangaben stehen im Originaltext zusammenhangslos im Seitenkopf und wurden so an den passenden Stellen in den Text eingefügt.

Mein Großonkel gehörte zu einer Gruppe von Jungen, deren Lehrer sie früh von der Volksschule aufs Gymnasium weiterschicken wollte. So musste der ehrgeizige Schüler viel für die Schule arbeiten, als Ältester von sieben Geschwistern hatte er diese aber auch zu unterstützen. Nach dem Abitur im März 1937 leistete der 17-jährige Wilhelm Seedorf zwei Jahre Militärdienst in seiner Heimatstadt Göttingen beim Infanterie-Regiment 82 ab. An Sonntagen war er oft mit seinen auswärtigen Kameraden (z. B. aus dem Ruhrgebiet) bei seinen Eltern zu Besuch. Anstelle des geplanten Germanistik- und Geschichtsstudiums ist Wilhelm Seedorf im Anschluss an den Dienst wieder eingezogen und in den Krieg geschickt worden. Am 26. September 1939 wurde er in Polen verwundet. So konnte er mit seinen Kameraden nicht wie erhofft in Warschau einmarschieren, sondern lag im Lazarett in Göttingen. Dort hat er die Erlebnisse anhand seiner Notizen aufgeschrieben. Im Russlandfeldzug wurde Wilhelm Seedorf abermals verwundet und starb 1942 im Alter von 23 Jahren in einem Kriegslazarett in Warschau. Auch sein in dem Text erwähnter Schulfreund Bodo Kreidt ist in Russland geblieben.

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Das auf Vorkriegspapier erstellte Original soll als ein historisches Zeitzeugnis verstanden werden. Der folgende Originaltext gibt einen Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt eines 21-jährigen Wehrmachtssoldaten während des Krieges gegen Polen 1939.


Originaltext meines Großonkels:


Der Septemberfeldzug des Jahres 1939 gegen Polen

Unser Verhältnis zu Polen hatte sich trotz des 1934 abgeschlossenen Nichtangriffs- und Freundschaftsvertrages nicht nur nicht gebessert, sondern die Polen glaubten unter dem Schutz dieses Vertrages umso ungestörter und noch heftiger als zuvor das Deutschtum in ihrem Lande schikanieren zu können. Deshalb kündete unser Führer im Frühjahr 1939 diesen Vertrag auf. Jetzt begann erst Recht für unsere Brüder und Schwestern in Polen eine unerhörte Leidens- und Schreckenszeit. Währenddem waren England und Frankreich eifrig damit beschäftigt, wie schon vor drei Jahrzehnten wieder den Ring der Einkreisung vor Deutschland zu schmieden. Dank unserer klugen Politik aber scheiterte dieser Plan unserer Gegner. Während eine englische und französische Kommission über zwei Monate mit Moskau ergebnislos verhandelte, schloss unser Außenminister v. Ribbentrop im Laufe von 24 Stunden mit der russischen Regierung einen Nichtangriffs- und Freundschaftsvertrag ab. Dieser Vertrag sollte sich bald bewähren. Ähnliche Abmachungen hatten wir auch mit den baltischen Staaten getroffen.

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Obwohl schon lange überall Vorbereitungen für eine bewaffnete Auseinandersetzung getroffen waren, und an unserer Ostgrenze Schanz- und Befestigungsarbeiten von der Wehrmacht und dem Arbeitsdienst geleistet worden waren, hoffte man noch allgemein selbst im August [während der Mobilmachung] auf eine friedliche Beilegung des Konfliktes in der Form wie seinerzeit in der Sudentenfrage. Selbst als am 26. August geheim die Mobilmachung befohlen wurde, hielt man dieses nur für eine Vorsichtsmaßnahme und glaubte noch nicht recht an Krieg. Am 28. August wurden wir verladen; wohin es ging, wusste keiner von uns. Bald aber merkten wir, dass wir nach Osten fuhren. Am Abend des 29. kamen wir in Oppeln / Oberschlesien an und wurden dort ausgeladen. Noch in der Nacht marschierten wir über Malapane [Ozimek] - Guttentag [Dobrodzieñ] nach dem Dorf Friedrichsgrätz [Grodziec?], wo wir in den frühen Morgenstunden des 30. August eintrafen. Den Vormittag über blieben wir dort. Nach dem Mittagessen marschierten wir [am 31. August 1939] weiter an Rosenberg vorbei und gelangten in den frühen Morgenstunden des 31. August in der Nähe von Grunsruh [Bodzanowice] an ein Waldstück, in dem wir bis zum Abend rasteten. Posten, die den Waldrand in Richtung zur Grenze beobachteten, sichteten in der Ferne polnische Fesselballons. Sonst war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Am Abend wurde die ganze Kompanie zusammengerufen, und der Kompaniechef, Oberleutnant Vorpahl - er war erst im letzten Augenblick vom Erholungsaufenthalt nach Göttingen zurückgekehrt und übernahm die kriegsmarschmäßige Kompanie - las uns den Divisionstagesbefehl vor. Darin forderte uns unser Divisionskommandeur, Generalleutnant Kämpfer, auf, weiter unsere Pflicht für Führer, Volk und Vaterland zu tun und getreu unserem Eide uns für die gerechte Sache einzusetzen. Der Führer und das ganze Volk sähe mit Vertrauen auf die junge Wehrmacht. Durch ihre Leistungen werde sie sich dieses Vertrauens und der Taten unserer Väter von 1914-18 würdig erweisen. "Parole: Warschau!" Jetzt wussten wir, was die Uhr geschlagen hatte. Man machte sich allerhand Gedanken um die nächste Zukunft und äußerte seine Meinung über die mögliche Dauer des Feldzuges. Eins war sogleich uns allen klar: In diesem Kampfe würden wir den Sieg davontragen.

Der Morgen des ersten September dämmerte herauf, da lagen wir in einem Wäldchen etwa 200 m vor der Grenze und sahen vor uns das Land Polen liegen. Was würde es uns bringen? Morgens 445 Uhr [am 1. September 1939] überschritten motorisierte Einheiten, in der Hauptsache Panzer, die Grenze. Um 10 Uhr setzten auch wir unseren Fuß auf polnischen Boden. Wie lange würde uns dieses Land festhalten, wen von uns würde es für immer behalten, welche Überraschung würde es uns bringen? Doch frohen Mutes und zuversichtlich betraten wir jetzt dieses Land. Über eines waren wir uns von vornherein klar: Diesmal würde es ernst werden. So leicht wie seinerzeit der Einmarsch in die Ostmark, das Sudetenland und das Protektorat würde unsere jetzige Unternehmung nicht. Den polnischen Gegner fürchteten wir zwar nicht, doch unterschätzten wir ihn keineswegs. Der weitere Verlauf sollte uns zeigen, dass der Gegner uns ganz gewaltig unterschätzt hatte. Eines fiel uns sofort auf: die "polnische Wirtschaft." Was wir jetzt an Ort und Stelle ad oculos demonstriert [vor Augen geführt] bekamen, übertraf bei weitem noch unsere Erwartung. Straßen, Felder, Dörfer und Menschen machten einen vollkommen verwahrlosten und verluderten Eindruck. Diesen nahmen wir nicht nur mit dem Auge, sondern auch mit der Nase war: ein ganz eigentümlicher, muffiger Geruch lag über diesem Lande. Das erste Dorf, durch das wir kamen, hieß Panki. Die meisten seiner Bewohner standen oder saßen vor ihren Häusern und schauten mit gemischten Gefühlen und entsprechenden Mienen auf die grauen Kolonnen, die unaufhörlich an ihnen vorüber zogen.

In einem anderen Dorf, etwas weiter landeinwärts, sahen wir die ersten Kampfspuren. An der Straßensperre hatten sich die Polen verteidigt, mehrere Häuser wiesen teilweise beträchtliche Geschosseinschläge auf, viele Fenster waren zertrümmert. Auf dem Weitermarsch mussten wir dann einige Male kurz halten, da eine Sprengstelle der Straße passiert werden musste. Man sah es diesen Sprengungen an, dass sie im letzten Augenblick in aller Eile angelegt worden waren und keinen großen Schaden angerichtet hatten. Für unsere Pioniere war es daher leicht gewesen, diese Stellen wieder gangbar zu machen. In dem nächsten Dorf hatten die Polen die Brücke über den kleinen Fluss gesprengt. Doch auch das konnte unseren Vormarsch nicht aufhalten. Die Pioniere hatten für die Fußmannschaften einen Steg gebaut, und die Fahrzeuge konnten ohne Schwierigkeit durch das flache Wasser fahren. Im Dorf waren ebenfalls Spuren des Kampfes zu sehen. Weiter ging der Marsch; etwa einen Kilometer hinter der eben erwähnten Ortschaft kamen wir an einen Eisenbahndamm. Folgendes Bild bot sich:

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Die Polen hatten die Brücke gesprengt und damit die Straße gesperrt. Doch zum Glück war etwa 300 m rechts davon eine andere Brücke über einen kleinen Bach, unter der auch ein Feldweg hindurch ging. Doch auch das hatten die Polen bedacht und an dieser Stelle Minen gelegt. Wieder hatten unsere Pioniere uns den Weg frei und gangbar gemacht. Unbeschädigt passierten wir diese gefährliche Stelle. Kaum waren wir wieder auf der Straße, da bekamen wir zum ersten mal aus allernächster Nähe die raue Kriegswirklichkeit zu spüren. Wir hören ein Flugzeug, denken uns aber nichts weiter dabei. Plötzlich taucht es in geringer Höhe links von uns auf. Kurz hintereinander drei heftige Detonationen. 100 m links von uns 3 mächtige Erdfontänen. Das hatte uns gegolten. "Leider" waren die "Eier" zu früh ausgelöst worden und hatten uns allen keinerlei Schaden zugefügt. Das war unsere erste Bekanntschaft mit solchen "Knallkörpern". Aus sicherer Entfernung, aber doch recht anschaulich und vernehmlich, wurde uns die Wirkung solchen "Segens von oben" klargemacht. Schneller als vorher setzten wir unseren Marsch fort und kamen bald an einen Höhenzug, den die Straße in sanfter Steigung überwand. In Erkenntnis der Wichtigkeit dieser Höhe hatten die Polen auf der Kammlinie Gräben ausgehoben. Diese Stellung hatten sie aber beim deutschen Angriff fluchtartig geräumt und dabei allerlei Kriegsmaterial, Bekleidung und Ausrüstungsstücke zurückgelassen.

Weiter marschierten wir und verließen bald die Straße. Querfeldein fuhren wir auf ein Dorf zu. Wir waren etwa 40 m an das erste Haus herangekommen, da pfiffen uns plötzlich blaue Bohnen um die Ohren. So schnell, wie in diesem Falle waren wir noch nie abgesessen und in volle Deckung gegangen. Gedeckt arbeiteten wir uns an das Haus heran. Einer von uns, der polnisch sprechen konnte, forderte die Bewohner auf, das Schießen einzustellen und sofort das Haus zu verlassen. Bald darauf kam eine alte Frau heraus, die ein großes Bündel auf dem Rücken trug und uns in allen Tonarten anflehte, ihr ja nichts zu leide zu tun. Sie zeigte dabei immer auf das Haus. Tatsächlich zeigte sich jetzt jemand am Fenster, der zweifellos mit einer Waffe hantierte. Nochmals erging an diesen die Aufforderung, nicht zu schießen und sofort heraus zu kommen. Sie wurde mit Schüssen aus dem Haus beantwortet. Jetzt war's mit unserer Geduld zu Ende. Geschlossen feuerten wir auf jenes Fenster, während von beiden Seiten sich unsere Leute an das Haus heranmachten und das Strohdach anzündeten. In kurzer Zeit stand das ganze Gebäude in Flammen. Mit den anderen Häusern wurde das gleiche gemacht. Inzwischen war es Abend geworden. Auf eine Anhöhe in der Nähe des von uns niedergebrannten Dorfes bereiteten wir uns auf unsere erste Kriegsnacht [vom 1. auf den 2. September 1939] in Polen vor. Die Fahrzeuge fuhren zu einer Wagenburg zusammen, in deren Mitte sich die Kompanie für die Nacht niederließ. Nach allen Richtungen hin wurden Wachen ausgestellt. In der Nacht bot sich uns ein schauriges und doch gewaltiges Bild dar: wohin der Blick in die Runde ging, überall loderten wie bengalische Feuer die brennenden Dörfer in die dunkle Nacht hinein. Die Luft war von scharfem Brandgeruch erfüllt.

Am Morgen des 2. September brachen wir in der Frühe auf und rasteten am Mittag in einem Walde. Bis zum Nachmittag blieben wir dort, sahen in dieser Zeit auch ein polnisches Flugzeug, das bald darauf von unserer Flak heruntergeholt wurde. Erst in den späten Nachmittagsstunden gings wieder weiter. Durch kleinere und größere Ortschaften ging unser Marsch. Unterwegs begegneten uns das erste mal Flüchtlinge. Wir staunten über die Energie der kleinen dürren Panje-Gäule, die den hochbeladenen Panjewagen, auf dem oft noch ein Teil der meist zahlreichen Familie platzgenommen hatte, zogen. Dieses Bild sollten wir in den folgenden Tagen noch öfter sehen. Gegen Abend kamen wir in ein zum Teil verbranntes Dorf, das von seinen Bewohnern verlassen war. Auf einem günstigen Platz am Dorfrand rasteten wir gemeinsam mit dem Regimentsstab und blieben auch die Nacht dort. Der Flüchtlingsstrom nahm kein Ende.

Dann brach ein herrlicher Sonntag an, der 3. September, unser erster Sonntag in Polen. Der Tag machte seinem Namen alle Ehre. Alle waren wir in sonntäglicher Stimmung und malten uns aus, was wir wohl heute machen würden, wenn Friede wäre und wir noch in Göttingen weilten. Doch freudigen Herzens marschierten wir in den wunderbaren Sonntagmorgen hinein. Durch große Waldgebiete führte uns der Weg. Schließlich kamen wir aus dem Wald heraus. Vor uns lag eine Ebene, mittendrin ein Dorf, aber auf allen Seiten bildeten hohe Fichtenwälder die Kulisse. Um dieses Dorf hatte wohl in den frühen Morgenstunden der Kampf getobt. Das brennende Dorf war dann aber vom Feind geräumt, der sich in eine Stellung im Wald rechts festgesetzt hatte. Auf dieses Waldstück trommelte jetzt unsere Artillerie. Am Rande des Dorfes in einem kleinen Maisfeld rasteten wir. An uns ratterten Panzerwagen feindwärts, und bald kam eine ganze Kolonne polnischer Gefangener zurück.

Dann hieß es: "An die Fahrzeuge. Aufsitzen!" Und im Karacho fuhren wir durch das brennende Dorf, überquerten den Fluss und kamen auf eine Straße, die in den Wald hineinführte, der jetzt gesäubert war. Zum ersten Mal sahen wir jetzt in erschreckender Weise die Spuren des Kampfes und der überhasteten Flucht der Polen. Am Straßenrand lagen Pferdekadaver, vernichtete Munitionswagen und andere Militärfuhrwerke. Waffen und Geschütze mit dazugehöriger Munition lagen und standen herum, zum Teil noch fabrikneu und eingefettet. Die Polen hatte nicht mehr Zeit gehabt, sie unbrauchbar zu machen. Ein neues polnisches Pakgeschütz mit zwei Panjepferden davor als Bespannung nahmen wir uns mit. Obwohl es uns auf dem Vormarsch als Ballast erschien, behielten wir es doch, und es hat uns dann vor Warschau noch manche guten Dienste erwiesen. In diesem Wald hielten wir auch Mittagsrast und aßen eine herrliche Mahlzeit aus der Feldküche. Im Laufe des Nachmittags kamen wir dann nach einer Försterei, auf der wir den Rest des Tages und auch die Nacht blieben. Nachdem die Pferde versorgt und die Geschütze und Fahrzeuge vom gröbsten Dreck gereinigt waren, hatten wir Zeit für uns selbst und durchstöberten das Forsthaus, die Scheune und die nächste Umgebung. Es war ein herrlicher Sonntagnachmittag. Der gut gepflegte Wald erinnerte an den märkischen Wald. Dreimal im Laufe des Nachmittags flogen deutsche Bomber über uns hinweg ins feindliche Hinterland, dreimal kamen sie zurück und man hörte am Motorengeräusch und sah es an der größeren Geschwindigkeit, dass sie eine gewaltige Bombenlast bei den Polen abgeladen hatten. Auf dem weiteren Vormarsch hatten wir noch mehrfach Gelegenheit, die ganze Arbeit unserer Luftwaffe zu bestaunen.

In der Frühe des 4. September ging der Vormarsch weiter. Wieder zogen wir durch große Wälder, überquerten eine Bahnlinie und kamen dann an die Warte. Wenn die Polen auch die Straßenbrücke zerstört hatten, unsere Pioniere waren auf dem Posten. Auf der tadellosen Pontonbrücke kam alles sicher über den Fluss, der schon hier ganz schön breit und recht tief ist. Mit einem Schlage änderte sich jetzt die Landschaft. Während es vorher auffallend flach gewesen war, lag jetzt vor uns ein Hügelland. Am Abend kamen wir in ein Dorf, wo wir die Nacht blieben.

Früh am nächsten Morgen [5. September] brachen wir wieder auf. Am Nachmittag kamen wir in die Nähe des Barowaberges, einer Höhe, die schon im Weltkrieg eine Rolle gespielt hatte. Die Polen hatten auf dem Berge eine befestigte Artilleriestellung und beherrschten somit das ganze Vorfeld. Besonders auf unsere Vormarschstraße hatte es die polnische Artillerie abgesehen. Unserer Artillerie aber blieb ihre Antwort nicht schuldig. In einem Waldstück stellten wir uns bereit, um, wenn nötig, noch in den Kampf einzugreifen. Aber unsere Infanterie hatte nach mehrstündigem harten Kampf, die Höhe schon in ihren Besitz gebracht und die Polen zum Teufel gejagt. In der Nähe eines brennenden Dorfes blieben wir die Nacht. Wir rechneten mit Überfällen umherschweifender Polen und waren deshalb doppelt wachsam. Aber es passierte nichts. In der Nähe war eine sumpfige Wiese. Auf der lagen zwei Pkws fest, die mit ihrem Motor allein nicht wieder herauskamen. Man holte uns zu Hilfe, aber es gelang uns trotz allergrößter Anstrengung nicht, sie wieder flott zu machen. Irgendwie werden sie wohl am anderen Morgen aus dem Modder herausgekommen sein.

Wir marschierten am anderen Morgen wieder ein kleines Stück zurück und umgingen dann die Barowa-Höhe. Nachmittags kamen wir am brennenden Petrikau vorbei. Leider kamen wir nicht hinein, wir hätten uns manches gerne aus der Nähe angeschaut. In einem Dorf, dem man den deutschen Einschlag ansah, blieben wir zur Nacht. Am 7. marschierten wir weiter in nördlicher Richtung auf Lodz zu. Unterwegs sah ich zweimal Bodo Kreidt [ein Klassenkamerad], der bei der Weender Ari [Artillerie] war. Einmal überholte uns nämlich die Ari, und später fuhren wir an ihr vorbei. Beide Male winkten wir uns herzlich zu.

Am Nachmittag waren wir mit unserem I. Bataillon zusammen. So traf ich Hauptmann Kranz, mit dem ich mich dann eine Weile unterhielt. Es gab doch so allerlei zu erzählen an beiderseitigen Erlebnissen. Sehr spät kamen wir in unser Quartier.

Am folgenden Tag [8. September] marschierten wir weiter, nun aber in nordöstlicher Richtung auf Warschau zu. Gegen Nachmittag kamen wir auf eine wunderbare Asphaltstraße. Dass es so etwas in Polen auch gab, hatten wir nach den bisherigen Erfahrungen nicht mehr zu hoffen gewagt. Es war die Hauptstraße von Warschau über Rawa nach Lodz. Wir kamen durch Dörfer, denen man schon auf größere Entfernung ansah, dass sie deutsch waren. Die ganze Gegend machte einen sauberen, freundlichen Eindruck.

Dann kam uns eine wahre Völkerwanderung entgegen - Vertreter beiderlei Geschlechts und jeden Alters, Angehörige des auserwählten Volkes in allen, meist recht üblen Schattierungen. Die Bilder des "Stürmers" [Zeitschrift der SA], die uns früher übertrieben erschienen, wurden geradezu in den Schatten gestellt, von jener Wirklichkeit, die uns hier sicht- und riechbar wurde. "O Herr gib uns den Moses wieder..." dachten wir im Stillen. Am Abend kamen wir nach Rawa Maz(owiecka). Ein widerlicher Brand- und Verwesungsgeruch lag über dieser Stadt. Zum ersten Mal sahen wir hier, welch ganze Arbeit unsere Artillerie und besonders unsere Luftwaffe geleistet hatte. Von manchen Häusern stand nur noch die zerschossene Fassade, und viele riesige, mit Trümmern gefüllte Trichter, zeigten die Stellen an, wo eine schwere Fliegerbombe ein Haus dem Erdboden gleichgemacht hatte. Draußen in der Vorstadt quartierten wir uns in einem deutschen Gehöft ein. In der Nacht kam dann der deutsche Besitzer mit seiner Familie zurück. Er hatte noch der Wut der Polen mit seinen Angehörigen entrinnen können und war froh, dass die deutschen Truppen schon so schnell vorgedrungen waren.

Am 9. ging's dann flott weiter auf der guten Straße. Gegen Mittag erfuhren wir, dass es Teilen unserer schnellen Truppen gelungen war, bis Warschau vorzustoßen und in die Stadt selbst einzudringen. Es war die Rede davon, dass auch wir auf Lkws verladen und nach Warschau gebracht werden sollten. Zu unserem Leidwesen zerschlug sich dieser Plan. Weiter waren wir auf unsere eigenen Füße und PS angewiesen. Durch Mszczonów kamen wir. Diese Stadt hatte mindestens 80-90 % jüdische Bevölkerung. Man sah wieder die dollen Typen und fand an den vielen Läden die bezeichnenden Namen. Am Abend kamen wir in ein großes Dorf und blieben dort auf dem Pfarrhof. Befehlsgemäß nahmen wir im Dorf ein Dutzend wehrfähiger Männer als Geiseln fest und ließen die Dorfbewohner durch den Bürgermeister auf die Folgen aufmerksam machen, die jedwedes feindliches Vorgehen gegen deutsche Soldaten von Seiten der Dorfbevölkerung für die Geiseln haben würde. Würde ein deutscher Soldat verwundet oder gar getötet, so wäre das der Tod von drei Geiseln. Daraufhin verlief auch die Nacht sehr ruhig. Wir waren jetzt nur noch 44 Kilometer von Warschau entfernt. Jetzt stand es für uns alle fest, dass wir in kurzer Zeit die polnische Hauptstadt zu Gesicht bekommen würden.

Auch der zweite Sonntag in Polen [10. September] war ein schöner Tag. Gegen Abend kamen wir in ein sauberes deutsches Dorf und blieben auf einem der freundlichen Höfe. Der Bauer und seine Familie sorgten sehr nett für uns. Auch Montagvormittag blieben wir auf dem Hof. Wir hatten Zeit, unsere Waffen und Ausrüstungsstücke zu reinigen, auch die Geschütze und Fahrzeuge. Selbstverständlich wurden auch die Pferde anständig versorgt, und wir selbst nahmen die Gelegenheit wahr, uns einmal wieder anständig zu waschen und die Zähne zu putzen. Wir waren jetzt nur noch 15 Kilometer von Warschau entfernt. Am Nachmittag rückten wir ab Richtung Warschau. Abends kamen wir dann nach Immelin, 9 km vor Warschau. Dort übernachteten wir auf einem verlassenen Hof.

Am Vormittag des 12. wurde ganz in unserer Nähe ein polnischer Panzerwagen zur Übergabe gezwungen und die Besatzung gefangen genommen. Der Tank war vollkommen unversehrt; die polnische Besatzung hatte nichts getan, um ihn zu vernichten und so nicht in unsere Hände fallen zu lassen. Eine deutsche Besatzung hätte bestimmt anders gehandelt. Der Tank wurde mit deutschen Hoheitszeichen versehen und leistete uns später noch gute Dienste. Nachmittags gingen wir, uns nach allen Seiten hin sichernd, weiter vor und kamen an eine Straßenkreuzung 5 km vor Warschau. Jetzt sahen wir die polnische Hauptstadt vor uns liegen: rechts von uns Mokotów und das Fort, links die drei Funktürme des Senders Warschau II und im Hintergrund die Altstadt mit der Zitadelle. Die vordersten Teile unseres Regiments hatten schon die ersten Häuser von Mokotów besetzt.

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An der mit B.-Stelle bezeichneten Stellung blieben wir liegen und beobachteten das Vorgelände. Unsere Geschütze feuerten mit Erfolg nach Mokotów hinein. Die Nacht verbrachten wir in S³u¿ewiec. Im Straßengraben legten wir uns ins Stroh und deckten uns mit unseren Mänteln zu. An diesem Tage hatte an einer anderen Stelle der Regimentsstab ein Gefecht mit Polen. Dabei fielen der Regimentsatjutand, Freiherr von Freyberg, und unser Kamerad Fritz Pfau, der die Polen zuerst gesehen hatte und, schon verwundet, seinen Zug und den Regimentsstab auf die Gefahr aufmerksam machte.

Am 13. mussten wir wieder zurück nach Immelin "aus Sicherheitsgründen", denn es sollte ein Fliegerangriff auf Warschau steigen. Der fand dann auch statt und wir bedauerten es nur, uns die Wirkung nicht von der Nähe ansehen zu können. Am Abend fuhren wir wieder nach S³u¿ewiec. In der Nacht zogen wir mit den Geschützen noch weiter vor und blieben in einem Kohlfeld. Am Morgen des 14. gruben wir uns ein und kaum waren wir damit fertig, schossen auch schon die Polen aus einer Obstplantage drei bis vierhundert Meter vor uns. Die Kugeln pfiffen uns zwar um die Ohren, konnten uns aber in unserer Deckung nichts anhaben. Ein paar gut sitzende Schüsse aus unseren L.I.-Gs. [Geschossen] schafften uns bald Ruhe. Gegen Mittag verlegten wir uns dann unsere B-Stelle in einen ehemals polnischen Munitionsbunker, dicht bei den oben schon erwähnten Funktürmen von Warschau II. Einen hatten unsere Pioniere inzwischen vollkommen umgelegt, bei den zweiten war der Versuch nicht ganz geglückt, er stand noch, wenn auch schief, und der dritte stand noch unbeschädigt und aufrecht. In diesem Munitionsbunker hausten wir nun bis zum 22. Unsere Protzenstellung war in einem Gehöft in S³u¿ewiec. Verpflegung, Mittagessen und Post mussten wir von dort holen. Täglich schickte der Pole zu bestimmten Zeiten seine Grüße, bestehend aus 15 cm-Granaten, die mehr oder weniger in unserer Nähe einschlugen. Einer dieser Granaten fiel am Nachmittag des 15., unser Kamerad Reicht zusammen mit einem Kameraden vom 14. zum Opfer. Ein lieber Kamerad war uns in ihm durch ein unfassliches Geschick genommen wurden. Durch seine Erfahrung aus dem Weltkrieg hatte er uns jüngeren manchen guten Rat geben können und uns durch sein allzeit hilfsbereites und kameradschaftliches Wesen und seinen nie versiegenden Humor über manche schwere Stunde hinweg geholfen. Er wird uns allen, die wir mit ihm zusammen waren, unvergessen bleiben. Wir begruben ihn in dem Garten beim weißen Haus, dicht bei der Stelle, wo er gefallen war, neben dem Kameraden von der 14. Uns allen ist das sehr nahe gegangen. Noch eifriger als bisher taten wir unsere Pflicht und alle wurden wir ernster seitdem. Die Tage bis zum 22. verliefen sonst ohne nennenswerte Ereignisse. Die Polen versuchten in dieser Zeit mehrmals, so bei Wilanów, einen Durchbruch, wurden aber stets unter schweren Verlusten ihrerseits zurückgeschlagen. Am Abend des 22. wechselten wir unsere Stellung. Es war eine Heidenarbeit, die ganzen Klamotten nach S³u¿ewiec zu bringen, und da kam uns unser polnisches Pak-Geschütz mit den Panjegäulen davor gut zu Pass. Schließlich wurde auch das geschafft und nach einer Fahrt, die ein einziger großer Umweg war, langten wir endlich in den frühen Morgenstunden des 23. in Zaluski ein. Hier waren uns noch drei schöne Ruhetage vergönnt. Wir benutzten sie, um unsere Sachen noch einmal in Ordnung zu bringen. Am Sonntag, den 24. September musste unser Kamerad Keßler leider mit einem entzündeten Daumen ins Revier. Am anderen Tage wurde die Sache dann gleich geschnitten. Kamerad Keßler bedauerte es sehr, dass er uns so kurz vor Schluss verlassen musste und nicht mehr mit nach Warschau kam.

Am Abend des 25. wurde die ganze Kompanie noch einmal über das Verhalten im Straßenkampf belehrt. Dann ging's los. Auf der Straße nach Warschau fuhren wir bis zum Vorort Rackow. Dort bogen wir links ab und stellten dann an einer günstigen Stelle Pferde und Fahrzeuge unter. Im Morgengrauen des 26. September [fuhren] dann unsere schweren Geschütze in die vorher festgelegten Feuerstellen ein. Der Kompaniechef ging mit uns ebenfalls vor, erklärte uns das Gelände und einige auffallende Gebäude im Stadtbilde Warschaus. Um 8 Uhr sollte der Angriff beginnen, aber schon lange vorher bot sich unseren schweren Geschützen ein lohnendes Ziel: eine Ziegelei im Vorgelände, die gerade von einer Abteilung Polen besetzt wurde. Durch unser tadellos sitzendes Feuer wurden die Polen dort bald herausgejagt. Unsere Munitionskolonne versorgte uns reichlich mit Munition, auch vom Regiment bekamen wir noch eine ganze Menge. Etwa um ½ 8 machten wir uns auf den Weg zur B-Stelle. Diese lag in einem Garten dicht hinter dem Lattenzaun nicht gerade günstig, wie sich sehr bald zu unserem Schaden herausstellen sollte. Die Polen konnten uns tadellos einsehen und ließen es selbstverständlich nicht dabei bewenden. Schnell hatten sie sich eingeschossen und eh wir es uns versahen, hatten 4 Mann von uns, darunter auch ich, ihr Teil von zwei Wurfgranaten, die in unserer nächsten Nähe einschlugen, abbekommen. Uffz. [Unteroffizier] Schulz hatte Splitter im Rücken, Uffz. Bramburger im Bein, der Oberleutnant einen in der Wade und ich mehrere im Unterschenkel dicht unter dem Knie. Für Uffz. Schulz, Uffz. Bramburger und mich war damit der Polenkrieg vorzeitig zu Ende. Am meisten ärgerten wir uns, dass wir nun nicht mit nach Warschau hinein kamen. Der Oberleutnant ließ sich seinen Splitter aus der Wade herausnehmen und war dann wieder dienstfähig.

Uffz. Schulz und Bramburger wurden im Truppenverbandsplatz zuerst verbunden, mir legten die Sanitäter draußen einen Notverband an. In einem Sanka. kamen wir dann zum Hauptverbandsplatz. Uffz. Schulz und Bramburger kamen von hier gleich weiter. Ich wurde hier ordnungsgemäß verbunden (Tetanusspritze usw.). Der Stabsarzt meinte gleich zu mir, ich hätte viel Schwein gehabt, dass der Knochen heil geblieben wäre. Dann ging's wieder im Sanka. nach dem Feldlazarett Kostowice. Dort blieb ich bis zum 30. An diesem Tage kamen wir im Sanka. nach Lodz ins dortige Kriegslazarett, dass im Moscicki-Krankenhaus, einem modernen Krankenhaus, eingerichtet war. Die Fahrt dorthin ging über Rawa, auf der schönen Asphaltstraße, die wir kaum drei Wochen vorher in entgegen gesetzter Richtung marschiert waren. In Rawa machte sich die deutsche Aufbauarbeit schon recht deutlich bemerkbar. Die Spuren des Krieges waren hier schon fast verwischt, und das Leben vollzog sich wieder in gewöhnlichen Bahnen. Hinter Rawa kamen wir dann durch freundliche deutsche Ortschaften. Fast jedes Haus hatte die Hakenkreuzfahne gehisst. Kurz vor Lodz und in der Stadt selbst war scheußliches Kopfsteinpflaster und wir waren froh, als wir nach vierstündiger Fahrt in den Hof des Lazaretts einfuhren und bald darauf in freundlichen Zimmern und schönen weißen Betten lagen. Man kümmerte sich sehr nett um uns. Jeder hatte einen Kopfhörer, sodass wir nach Herzenslust Radio hören konnten Auf unserer Stube herrschte bald eine nette Kameradschaft. Am 3. Oktober wurde mein Bein geröntgt. Nun konnte man sehen, was los war: mehrere Splitter saßen in der Wade. Einer wurde mir am 5. herausgenommen.

Am 6. hörten wir die große Führerrede. Am 10. sprach wieder der Führer zur Eröffnung des Kriegs-Winterhilfswerkes 39/40. Am Nachmittag des 12. wurden wir zum Bahnhof transportiert und dort in den bereits stehenden Lazarettzug verladen, der uns nach Erfuhrt bringen sollte. Am Abend dampfte er dann los. Im Morgengrauen des 13. überfuhren wir bei Militsch [Milicz] die alte Reichsgrenze. Mittags kamen wir durch Breslau [Wroc³aw]. Dann ging's über Görlitz - Liegnitz - Bautzen nach Dresden, wo wir abends gegen 21 Uhr eintrafen. Überall auf den Bahnhöfen, wo wir hielten, wurden wir vom Roten Kreuz mit allerlei schönen Sachen versorgt. Am Morgen des 14. fuhren wir schon durch das schöne herbstliche Thüringer Land. Über Gera und Jena kamen wir am Mittag nach Weimar. Nachmittags gegen 16 Uhr waren wir in Erfurt. Doch wurden wir hier noch nicht, wie ursprünglich vorgesehen, ausgeladen, sondern fuhren weiter nach Gotha. Dort wurden wir dann ausgeladen und kamen ins Luftwaffenstandortlazarett. Dort blieb ich bis zum 10. November. Zweimal hatte ich Besuch: am 22. Oktober von Vater und Heide [-Sophie, war damals in der Wirtschaftlichen Frauenschule / Landfrauenschule in Kloster Reifenstein und wurde von ihrem Vater abgeholt], am 29. von Mutter und Hans-Jürn. Am 8. November hörten wir die Führerrede aus München und am folgenden Morgen von dem missglückten Anschlag. Am 10. wurde ich nach Göttingen überwiesen. Bis zum 30. November blieb ich dann in der Lazarettabteilung der Thüringischen Klinik, war bis zum 28. Dezember in ambulanter Behandlung, wurde wieder aufgenommen und am 6. Januar 1940 operiert. 3 Splitter wurden noch herausgeholt. Am 13. Januar wurde noch ein Gegenschnitt gemacht, damit der Eiter besser herauskam. Dann heilte die Wunde sehr gut und schnell.

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