Dieser Eintrag stammt von Renate Seifert (*1938) aus Wiesbaden (Ren5313.Seiwag@t-online.de), August 2008:
/lemo/bestand/objekt/seifert5 Ich bin ein Kriegskind. Es klingt etwas merkwürdig, wenn dies eine Frau von 70 Jahren sagt. Und doch bleiben die Erinnerungen des Kindes unauslöschbar ins Gedächtnis eingebrannt bis ins Grab. Mein ganzes Leben ist vom Krieg geprägt. Ich habe viel zu wenig danach gefragt und darüber gesprochen. Heute möchte ich wissen, wie unsere Flucht aus Königsberg abgelaufen ist und kann meine Mutter nicht mehr fragen.
Als wir im Januar 1945 auf die Flucht gingen, war ich ein kleines Mädchen von 6 Jahren, meine Mutter 44 Jahre alt, mein Vater kurz vorher im Krieg gefallen. Meine Mutter hatte die Nachricht von seinem Tod am 11. September 1944 mit Schreiben vom 2. Dezember 1944 des Stabs- und Chefarztes vom Luftwaffen-Lazarett in Krakau erfahren.
Meine Erinnerung an die Flucht besteht nur aus Sequenzen. Leider habe ich meine Mutter nie mehr nach Einzelheiten über die Flucht gefragt, weil in meinem Leben keine Zeit dafür war, und ich wohl auch nicht im Stress des Alltags daran dachte sie zu fragen.
Jetzt (2008) nach 63 Jahren tauche ich in die Vergangenheit ein und versuche, den Krieg und die Flucht für mich und mein Leben zu klären, aufzuarbeiten und zu analysieren. Es ist ungeheuer schwer, Einzelheiten zu rekonstruieren. Unsere Flucht war wie die vieler anderer Menschen fast einmalig in ihrem Ablauf, und so muss ich versuchen, aus Büchern und anderen Unterlagen herauszufinden, wie es gewesen sein könnte. Meine Mutter hat beide Weltkriege mitgemacht, aber zu ihren Lebzeiten von sich aus nie mehr über die Flucht mit mir gesprochen.
Etwa 1940 zogen meine Eltern in die Kummerauer Straße 38 in Königsberg. Sie lag in der Nähe des Heereszeugamtes, wo mein Vater als Waffenschlosser arbeitete. Die Wohnungen im ersten Eingang des Hauses waren zuerst bezugsfertig, und so zogen wir dort ein. Als dann die Wohnungen im zweiten Eingang Kummerauer Str. 38 b soweit waren, sind wir noch einmal umgezogen. Die Straße lag in Richtung des Devauer Flugplatzes. Die Wohnung hatte zwei Zimmer, Küche, Toilette und einen kleinen Flur. Gebadet wurde ich in einer größeren Zinkwanne in der Küche. Dort wohnten wir, als meine Schwester Bärbele Gertraud am 26. Juli 1941 geboren wurde, sie wurde getauft in der Universitäts-Kinderklinik in Königsberg durch die Küsterei der ev. Neuroßgärter Kirche in Königsberg, es war eine Nottaufe. Sie starb am 2. November 1941. Meine Mutter hat mir später erzählt, dass sie aus Angst, bei der Entbindung im Krieg im Bombenhagel allein zu sein, versucht hat, gegen die Schwangerschaft etwas zu unternehmen. Sie sprang vom Tisch, trank einen speziellen Tee. Im dritten Schwangerschaftsmonat bekam sie Blutungen. Als meine Schwester geboren war, hatte sie zwar keine Hasenscharte, aber einen Wolfsrachen, d. h. der Gaumen im Oberkiefer hatte ein Loch zur Nase, das äußerlich nicht sichtbar war. Sie konnte deswegen schlecht trinken, weil alles, was sie zu sich nahm, zur Nase wieder herauskam.
Eine Nachbarin warf einen Blick auf das Kind und sagte, dass es mit diesem Ausdruck in den Augen nicht am Leben bleiben würde. Meine Mutter brachte meine Schwester in die Universitätsklinik zur Behandlung, bis man ihr sagte, sie solle das Kind dort lassen, man könne es dann besser behandeln. Nach ca. einer Woche war meine Schwester tot. Die Familie vermutete, dass man in der Universitätsklinik nachgeholfen habe, das "unwerte Leben" zu Tode zu bringen. Angeblich hatte Bärbele Lungenentzündung bekommen. Über den Tod meiner Schwester war ich todunglücklich, ich hatte mich so sehr auf sie gefreut. Ich habe bei der Totenfeier, ich glaube, es war in einem Zimmer bei meiner Tante in der Stadt, nur kurz den weißen kleinen Sarg gesehen, dann wurde ich wieder hinausgeführt. Ich hätte meine tote Schwester so gern noch einmal gesehen.
Am 20. Mai 1943 wurde mein Vater zur Wehrmacht eingezogen. Sein Beruf als Waffenschlosser hatte ihn lange Zeit vor einem Einsatz als Soldat bewahrt und ihm die Stationierung in Königsberg gesichert. Er hatte den großen Rußlandfeldzug überlebt und war anschließend im Urlaub zuhause. Das muss Ende des Jahres 1943 gewesen sein. Aus Rußland hat er mir von den Leuten, bei denen er dort einquartiert war, Spielzeug, das sie extra für mich angefertigt hatten, mitgebracht. Es war eine giftgrüne bewegliche Schlange aus Holzklötzchen, die mit Lederstücken verbunden waren und so ihre Beweglichkeit hervorbrachten, wenn man mit Fingern und Daumen die entsprechenden Bewegungen machte und ein bunt bemaltes Holzhäuschen, das wie ein Lebkuchenhaus aussah. Die russische Familie mochte meinen Vater sehr, und er sagte, als er wieder zuhause war, er könne nicht verstehen, warum die Bolschewiken Untermenschen sein sollten, es seien doch Menschen wie wir.
/lemo/bestand/objekt/seifert1 Ein paar Erinnerungen an meinen Vater habe ich noch.
Bevor er am 15. März 1944 an die Frontgeschickt wurde, haben wir wohl noch am 6. März seinen Geburtstag gefeiert. Seine Schwester, meine Tante Lotte und Onkel Paul waren dabei. Es wurde gesungen, und mein Vater spielte Akkordeon, auch den Schlager "Heimat deine Sterne". Es wurde getrunken, aber mein Vater trank keinen Alkohol. Von den Anwesenden wurde er gedrängt, wenigstens mit anzustoßen. Ob er es getan hat, weiß ich nicht mehr. Er wollte nicht wie sein Vater anfangen zu trinken und lehnte Alkohol ab. Wie mir meine Mutter später erzählte, war sein Motto: "Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich beherrschen kann."
/lemo/bestand/objekt/seifert_30 Wenn ihm meine Mutter Briefe schrieb, musste ich mit meinen fünf Jahren auch immer etwas hinzu schreiben. Sie sagte mir oft den Text vor und führte meine Hand. Später hat mein Vater von der Front geschrieben, wir würden uns nach dem Krieg alle suchen müssen. Als mein Vater im Krieg war, und es im Jahr 1944 Winter wurde, heizte meine Mutter nur noch das Schlafzimmer, und ich spielte zu ihren Füßen mit Bauklötzchen, wenn sie stumm dasaß und strickte. Meine Mutter hatte lange nichts mehr von meinem Vater gehört, keinen Brief bekommen. Sie war voll banger Sorge und träumte des Nachts Schlimmes. Kurz vor Weihnachten 1944, der Brief datiert vom 2. Dezember, erhielt meine Mutter die Nachricht vom Tode meines Vaters. Er war am 11. September 1944 im Lazarett an einem Granatsplitter im Kopf verschieden. Der gängige Sprachgebrauch sagte "gefallen", und ich muss sagen, das klingt eher nach einem gewaltsamen Tod, als wenn ich "gestorben" schreiben würde, und man weiß, dass ihn der Tod im Krieg ereilt hat. Begraben ist er auf dem Kriegerfriedhof in Krakau. Mit dem Brief in der Hand hieß mich meine Mutter, sich neben sie auf die Wäschetruhe im Schlafzimmer setzen und sagte mir, dass mein Vater tot sei. Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte, bis sie mich verwundert fragte, ob ich gar nicht weinen müsse. Ich war damals sechs Jahre alt und konnte die Tragweite des Todes meines Vaters gar nicht begreifen.
Im Sommer 1944 hatte mich meine Mutter zu meiner Oma, ihrer Mutter, aufs Land gebracht, um mich vor den ewigen Bombenangriffen zu bewahren. Meine Oma wohnte mit im Hause von Märzhäusers in Popelken, das 1938 in Markthausen umbenannt worden war, im Kreis Labiau in Ostpreußen. So habe ich den großen Fliegerangriff auf Königsberg im August 1944 nicht miterlebt.
Im Herbst 1944 wurde ich in Königsberg eingeschult. Leider dauerte das Vergnügen nur ein paar Wochen, dann wurde der Schulbetrieb wegen Kohlenmangels eingestellt.
Wenig später erfolgte dann unsere Flucht aus Königsberg.
Der Stadtkommandant von Königsberg hatte im Januar 1945, das genaue Datum weiß ich nicht, im Radio verbreitet, die Russen seien kurz vor Königsberg, die Artillerie der Russen würde schon schießen, und er übernehme keine Verantwortung mehr für die Zivilbevölkerung. Unsere Nachbarn aus dem zweiten Eingang des Hauses Kummerauer Str. 38 a, eine Mutter mit ihrem Sohn, wollten sich auf den Weg machen und sagten meiner Mutter, sie müsse sich entscheiden, an dem selben oder dem nächsten Abend mitzugehen oder dazubleiben. Meine Mutter zögerte jedoch, da sie an ihre eigene Mutter dachte, die über Weihnachten nach Königsberg gekommen war und sich zu der Zeit bei der Schwester meiner Mutter in der Blücherstr. 20 in Königsberg aufhielt. Ich erinnere mich noch, dass die Nachbarn fragten, wo denn meine Oma sei. Meine Mutter sagte, sie sei bei ihrer Schwester, meiner Tante Ida. Die Nachbarn meinten, da sei sie doch gut aufgehoben, und so entschied meine Mutter dann doch, mit ihnen mitzugehen. Der Sohn verbrannte noch alle Hitlerbilder und Fotos, auf denen er in Uniform zu sehen war. Alle glaubten, wieder zurückkehren zu können. Im Keller hatte meine Mutter schon Wochen vorher alle Wertsachen in Koffern verstaut.
Wir sind dann an einem Abend im Januar 1945, ich war sechs Jahre alt, im Dunkeln zu viert in der Kälte losgezogen. Ich hatte meinen Schulranzen auf dem Rücken mit etwas Unterwäsche und meinem Kinderbesteck darin. Auf meinen Kinderschlitten hatte meine Mutter ein Federbett gepackt, was sie sonst noch mitgenommen hatte, weiß ich nicht. Es war jedenfalls nicht viel, nur ihre Handtasche, in der wenigstens alle Urkunden und ein, zwei Fotos waren und so etwas ähnliches wie einen Rucksack mit etwas Unterwäsche, den sie wohl noch schnell zusammengenäht hatte, denn einen richtigen Rucksack hatten wir gar nicht. Da es ein besonders kalter Winter war, möglicherweise fast 40° C Kälte und Schnee, hat sie mir die Socken meines Vaters über die Schuhe gezogen und gesagt: "Dann ist es nicht ganz so kalt". Wir sind durch das stockdunkle stille zerbombte Königsberg gegangen, bis pinkfarbene Leuchtkugeln vom Himmel fielen und sich die Ruinen mit ihren Fensterhöhlen gegen den Nachthimmel abhoben, es war gespenstisch. Auf unserem Weg durch Königsberg trafen wir andere Menschen, die von einem Zug berichteten, d. h. vermutlich einer Gruppe von Juden, die durch die Stadt getrieben wurden. Ich hörte nur, wie sie sagten, es sei ein entsetzlicher Anblick. Ich glaube, meine Mutter hatte als erstes Ziel entfernte Verwandte meines Vaters mit Namen Seifert in Juditten, einem Vorort von Königsberg, ins Auge gefasst, das lag auf dem Weg nach Pillau. Unterschwellig muss wohl jedem der drei Erwachsenen bewusst gewesen sein, dass es kein Zurück mehr geben würde. Wir haben dann mit den Nachbarn bei den Verwandten übernachtet bis sie uns sagten, wir könnten dort nicht länger bleiben, sie hätten auch nichts mehr zu essen.
Erinnerungen manifestieren sich in Bildern. Gespräche sind weniger zu behalten, es sei denn, einzelne Sätze haben eine besondere Aussagekraft, die wir uns merken. Jetzt kommen nur noch Bruchteile, wie ich die Flucht in Erinnerung habe:
Wieder war es abends und dunkel, Schnee, Eis, Kälte. Wir waren auf einer Landstraße, es waren noch andere Menschen unterwegs. Die Nachbarn hatten wir wohl verloren, weil meine Mutter es geschafft hatte, mir auf einem Pferdewagen in einem Treck auf dem Kutschbock einen Platz zum Sitzen zu verschaffen, für sie war kein Platz mehr. Ich war furchtbar müde und wollte immer einschlafen. Da kam meine Mutter vom hinteren Teil des Fuhrwerks, wo sie mit den Nachbarn zusammen hinterher ging, nach vorne gerannt, rüttelte mich von der Straße aus und rief: "Renate, schlaf nicht ein, Du stirbst mir sonst!" Das hat sie das so lange gemacht, bis sie total erschöpft war. Ich weiß nicht mehr, ob ich dann von dem Wagen runter und mit meiner Mutter zu Fuß weitergehen musste oder ob wir schon bei einem Gehöft waren. An diesem Abend haben wir dann die Nachbarn verloren.
In der Dämmerung waren meine Mutter und ich in einem Bauernhof (oder war es ein Gasthaus?) angekommen, zu dem uns Menschen hingeschickt hatten, weil es dort angeblich etwas zu essen gab. In dem Haus wimmelte es von Menschen. Die Bauersfrau rührte in einem Waschkessel eine Suppe (oder waren es Pellkartoffeln?). Sie schickte uns in einen weiteren Raum mit braunen Holzpaneelen an der Wand, in dem viele Menschen auf dem Boden saßen oder lagen. Es waren Flüchtlinge und auch ein paar Soldaten. Man erzählte, sprach miteinander und die Soldaten fingen an, mit den Frauen zu schäkern. Ich bin dann eingeschlafen. Dort haben wir die Nacht verbracht.
Dann sehe ich uns wieder mitten auf der Landstraße bei Tag, grau, düster und eiskalt. Durften wir, meine Mutter und ich, auf einem Wagen im Treck mitfahren? Ich weiß es nicht mehr genau. Neben der Straße lag ein Kinderwagen auf dem Feld. Die Leute sagten, es sei wohl wieder ein erfrorenes Kind darin. Irgendwann waren wir auf einem irgendeinem Dorfplatz. Meine Mutter ging von Wagen und Lastauto zu Wagen, ob uns vielleicht jemand Richtung Pillau mitnehmen könnte. Wir durften dann in einem Lastauto mit Holzvergaser mitfahren, mussten aber warten, bis der Fahrer Holz zum Fahren aufgetrieben hatte. Ich weiß nicht, von wo wir da fuhren und wie weit es war.
Einmal waren wir bei einer alten Frau in einem Insthaus untergekommen. Wir durften bei ihr übernachten. Es gab wieder Bombenalarm und die Sirenen heulten. Unsere Gastgeberin ging in den Bunker und wollte uns mitnehmen. Meine Mutter war so erschöpft, daß sie sagte, sie bleibe im Bett und wenn die Welt unterginge. Wir haben in dem sauberen Bett wunderbar geschlafen, der Angriff ist an uns vorbeigegangen. Ein anderes Mal waren meine Mutter und ich mutterseelenallein auf einer Landstraße unterwegs. Der Schnee war schon etwas weggetaut, und die Kufen des Schlittens mit dem Federbett darauf bremsten immer wieder. Es wurde schon dämmrig. Da kam ein Pferdewagen mit zwei kräftigen Pferden, es muss eine kleinere Rasse gewesen sein, mit zwei Soldaten auf dem Kutschbock von rückwärts angefahren. Der Wagen hielt bei uns, und der eine - ich nehme an, es war ein Offizier - fragte meine Mutter, wo wir hinwollten: nach Pillau. Wir durften dann mit auf den Kutschbock. Es war inzwischen schon dunkel, wir fuhren durch ein brennendes Dorf. Alle Konturen der Häuser, der Dächer, der Fenster und Türen brannten lichterloh. Man sah kein Lebewesen dort. In der Dunkelheit sah es für mich faszinierend aus. Der eine Soldat drückte meinen Kopf unter die Decke, die sie über den Knien liegen hatten, aber ich kam immer wieder hoch und konnte den Blick nicht von diesem Bild wenden.
Die Soldaten haben uns mit in ihren Bunker genommen, damit wir dort übernachten konnten. Es gab aber keine Pritsche, nichts, worauf wir hätten schlafen können. Wir haben uns dann auf dem eiskalten Zementboden schlafen gelegt. Ich konnte lange vor Kälte nicht einschlafen. Gott sei Dank hatten wir noch das Federbett, das meine Mutter von zu Hause auf dem Schlitten hinter sich her zog. Es war ein größerer Raum, und am Kopfende neben der Eingangstür saßen die Soldaten an einem großen Tisch (in meiner Erinnerung sah er aus wie ein Tapeziertisch) mit einer baumelnden Glühbirne (oder war es eine richtige Lampe?) darüber. Im Nachhinein nehme ich an, es war ihr Kartentisch, über dem sie ihre Angriffs-, nein eher Verteidigungs-Strategie für den nächsten Tag berieten. Am nächsten Morgen mussten wir weitergehen. Das Federbett hat meine Mutter den Soldaten überlassen, weil der Schnee schon allmählich weggetaut war, so dass der Schlitten nicht mehr richtig lief. Vielleicht war es auch Dankbarkeit oder Mitleid den Soldaten gegenüber.
Ich möchte auf der Landkarte unseren Weg nachverfolgen: von der Kummerauer Straße in Königsberg nach Juditten, einem Vorort, dann weiter über Großheidekrug?, Fischhausen? nach Pillau?. Wie viele Kilometer sind das, und wie viele Kilometer sind wir am Tag weitergekommen? Und wie viele Tage haben wir gebraucht, um nach Pillau zu kommen? Jetzt im Nachhinein habe ich erfahren, dass die Strecke zwischen Königsberg und Pillau ca. 40 km betrug. Unser Weg bis Pillau muss dann wohl mindestens vier bis sechs Tage gedauert haben.
Irgendwann waren wir in Pillau. Dort kamen wir am Morgen auf dem Weg zum Hafen am Roßgarten vorbei, er war voller Toter. Sie lagen wie Ziegel aneinandergereiht nebeneinander. Es war der große Angriff auf Pillau gewesen - oder war es eine Munitionsexplosion?, wie ich später einem Buch: Helmut Blocksdorf: Pillau - Chronik eines Untergangs: die Flucht aus Ostpreußen, 2000, Verlag E.S.Mittler & Sohn, entnommen habe. Gott sei Dank habe ich nie direkt in das Gesicht eines Toten geblickt, sonst wäre alles wahrscheinlich noch schrecklicher gewesen. Meine Mutter wollte Schiffskarten kaufen. Der Mann, der aus dem Kartenhäuschen trat, erklärte ihr mit einem etwas sarkastischen Lächeln, wir würden keine brauchen, wir sollten direkt an den Hafen gehen und sehen, dass wir auf ein Schiff kämen.
Im Hafen lag ein Schiff, vor dem sich unheimlich viele Menschen drängten. Plötzlich gab es Alarm, und alle gingen zu Boden. Ein schießendes Flugzeug raste über uns hinweg, möglicherweise wurde aber niemand getroffen, da ich nichts dergleichen mitbekommen habe. Dann wurde der schmale Steg zum Schiff geöffnet, und alle Menschen drängten dorthin. Meine Mutter und ich standen seitlich vom Steg in der großen Menschenmenge. Irgendwie habe ich mitbekommen, dass wir keine Chance hatten, an den Steg und aufs Schiff zu kommen. Als mir jemand zu nahe kam, fing ich an zu schreien, als würde ich zertrampelt. Innerlich hatte ich die Angst, jemand aus dem Umkreis würde merken, dass mein Geschrei nicht echt war. Jedenfalls hieß es: "Das Kind, das Kind." "Mütter mit Kindern zuerst." Die Menschen machten uns Platz, und wir konnten zum Steg gehen. So sind wir auf das Schiff gekommen, das so voller Menschen war, dass man sich kaum bewegen und den Platz verändern konnte. Meine Mutter hat mir später nicht geglaubt, dass ich absichtlich so geschrieen habe, um auf das Schiff zu kommen. Ich war immerhin fast sieben Jahre alt. Auf dem Schiff gab es eine rosa Suppe mit weißen Kügelchen drin. Wir hatten kein Gefäß, um uns eine Suppe zu holen. Da hat uns jemand gesagt, meine Mutter solle sich doch eine Kaffeetasse von der Schiffsausstattung geben lassen, das sei besser als gar nichts. Und so haben meine Mutter und ich uns den Inhalt einer Kaffeetasse dieser Suppe geteilt. Als wir noch einmal etwas Suppe holen wollten, gab es keine mehr. Die Kaffeetasse aus dickem weißem Porzellan mit einem blauen Strich unter dem Rand habe ich noch. Ich kann mich nicht von ihr trennen.
Das Schiff fuhr nach Danzig. Unterwegs musste es aus Furcht vor U-Booten immer wieder still liegen. Ich meine, damals von Minen gewusst zu haben und immer in Angst vor ihnen gewesen zu sein, obwohl ich mir nichts genaues vorstellen konnte. Leider weiß ich nicht mehr, ob es damals schon bekannt war, dass die "Wilhelm Gustloff" untergegangen war; das war am 30. Januar 1945 gewesen mit ca. 6600 Menschen an Bord. Wir sind möglicherweise danach in Pillau auf das Schiff gekommen oder war es doch schon vorher? Wie lange die Reise dauerte, weiß ich nicht mehr. Aus den Toiletten kam die Kloake wieder heraus, weil alles von den vielen Menschen verstopft war.
Irgendwann landeten wir in Danzig und erhielten die Weisung, in einer von einem hohen SS-Führer verlassenen Wohnung zusammen mit vielen anderen Menschen zu übernachten. Wie lange wir dort waren, weiß ich nicht, vielleicht eine Woche? Ich weiß nur noch, dass wir zusammen ein Bad nehmen konnten. Meine Mutter setzte sich mit dem Rücken zu mir in die Wanne, damit ich sie nicht von vorne sehen konnte. Ich fand das lächerlich, aber so prüde war sie groß geworden.
Ich glaube, wir sind in Danzig immer wieder zum Bahnhof gegangen, ob ein Zug nach Westen fuhr. Wie oft weiß ich nicht mehr. Vielleicht war es hier, dass wir in einem Zug mitfahren konnten, dessen Waggons einzelne Abteile mit separaten Türen hatten. Die Leute aus dem ersten Abteil, zu dem meine Mutter mit mir an der Hand ging, ließen uns nicht einsteigen. Im nächsten Abteil fanden wir dann Platz. Wir durften jedoch nur eine kurze Strecke mitfahren, es würden dann die anderen Leute mit den Platzkarten kommen. Möglicherweise mussten wir dann in Karthaus aussteigen, denn an diesen Ortsnamen kann ich mich auch noch erinnern.
Wir waren in einem großen Gutshaus gelandet - war es in Karthaus? Ich weiß es nicht mehr genau. Die Bewohner waren geflüchtet. Es waren viele Flüchtlinge dort. Wir suchten etwas zu essen. Größere Kinder fanden in der Küche Blattgelatine, die sie gegessen haben. Mir mit meinen sechs Jahren kam das nicht ganz geheuer vor, und es schmeckte auch nicht, ich kannte damals keine Blattgelatine. Ob es hier war oder später woanders, weiß ich nicht mehr. Man suchte in der Küche des verlassenen Gutshauses etwas zu essen. Ein paar Frauen haben in der Küche mit Zucker und Sahne Karamellbonbons in einer Pfanne gekocht. Die schmeckten wunderbar, nur leider waren es nicht viel für jeden.
Irgendwann konnten wir in einem Zug, der aus Viehwagen bestand, mitfahren. Der Viehwagen war so voll von Menschen, dass meine Mutter nur stehen konnte. Ich bin eingeschlafen und als ich aufwachte, war meine Mutter nicht mehr neben mir. Ich fing an zu weinen, da haben mich die Menschen in der Nähe beruhigt, meine Mutter stünde an der Wand, weil sie nicht mehr frei stehen konnte und wohl ohnmächtig geworden war. Wir sind vier Tage und vier Nächte mit Unterbrechungen nach Schleswig-Holstein gefahren und in irgendeinem Flüchtlingslager gelandet, war es in Neumünster? War es hier, dass wir entlaust werden sollten? Es war ein Ort, wo wir die Nacht verbringen konnten. Meines Wissens hatten meine Mutter und ich keine Läuse. Die Menschen sagten unter der Hand: "Hoffentlich werden wir nicht auch vergast." Wir mussten uns nackt ausziehen, und eine ganze Schar nackter Menschen wurde in einen Raum getrieben. Auf Geheiß meiner Mutter blieb ich ganz nah bei ihr. An der Decke des Raumes waren dreizackige Düsen, unter die wir uns stellen mussten. Dann wurde es dunkel, und wir wurden berieselt. In meiner Erinnerung dauerte es nicht sehr lange. Vielleicht war es ein KZ. Meine Mutter hat später noch sehr ihrem Persianer-Pelzkragen nachgetrauert, der bei dieser Prozedur (die Kleider wurden extra behandelt) brüchig geworden war. Ein in einer Schule eingerichtetes Flüchtlingslager in Heide war eine weitere Station. Von dort wurden die Flüchtlinge auf andere Orte verteilt und mit Lastwagen zu verschiedenen Familien gebracht.
Meine Mutter und ich wurden in Lunden am 6. März 1945 bei einer Schlachterei abgeladen. Als wir in den Laden kamen, saß die damals 60 Jahre alte Inhaberin wie eine dicke schwarze Matrone hinter der Kasse neben der Fleisch- und Wursttheke. Sie fiel mir am meisten auf, weil sie ein grimmiges, pikiertes Gesicht machte. Der alte Herr und sein Sohn waren nett zu uns. Und dann war da noch die Tante, sie war die Frau des ältesten Sohnes und lebte mit im Haus. Später erhielt sie die Nachricht, dass ihr Mann in Pillau gefallen war. Zuerst bekamen wir ein winziges Zimmer, dass an den Stall grenzte, es war sehr kalt. Wir mussten zusammen in einem Bett schlafen. Der Schrank war ein Brett, in das Haken geschraubt waren, daran konnte man etwas aufhängen, das Brett war von einem Vorhang umgeben. Das Nachttischchen war ebenso wie eine Bretterkiste mit einem gestärkten Vorhang drumherum. Alles war pieksauber, und es war endlich eine Freude, wenigstens gemeinsam ein Bett zu haben. Nach längerer Zeit, es war, als der Stenograf aus dem vorderen etwas größeren Zimmer ausgezogen war, durften wir in dieses ziehen. Zu der Zeit habe ich nachts immer wieder das Bett eingenässt.
Es ist unglaublich, was man aus Dokumenten alles herauslesen kann. Aus dem "Antrag auf Ausstellung eines Ausweises für Vertriebene und Flüchtlinge", deren Kopien ich erst mit Umschlag vom 13.Februar 2007 vom Kreisarchivar beim Landratsamt Tuttlingen auf Nachfrage erhalten habe und die ich selbst für meine Mutter und für mich am 27. Juni 1955 ausgefüllt hatte, waren der Ort und der Zeitpunkt der Flucht Königsberg am 26. Januar 1945 angegeben. Möglicherweise war das der Tag, an dem wir in Pillau auf das Schiff gekommen sind, dann hätten wir an diesem Tag mit der ZENITH in Richtung Danzig abgelegt. Bei der Frage "Von welchem Zeitpunkt an halten Sie sich ständig im Bundesgebiet oder in Berlin-West auf?", habe ich sicher auf Veranlassung meiner Mutter geschrieben, 6. März 1945 bzw. 28. Februar 1945. Die Frage "Wo haben Sie Ihren ersten Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt genommen: Im Bundesgebiet?" wurde von mir eingetragen "Lunden/Holstein, Krs. Husum, Friedrichstr. 47". Die Daten kann ich nur so interpretieren, dass wir möglicherweise am 28. Februar 1945 mit dem Zug vielleicht in Neumünster/Holstein angekommen sind und nach Stationen in Flüchtlingslagern in Lübeck, Hamburg? und sicher in Heide/Holstein am 6. März 1945 bei einer Schlachterei in Lunden Kr. Husum, Holstein, einquartiert wurden. Die Aufenthaltsbescheinigung wurde am 1. Juni 1956 vom Kirchspielslandgemeindevorsteher, Kirchspiels-Landgemeinde Lunden Kr. Norderdithm., für die Zeit vom 6. März 1945 bis 10. Oktober 1949 ausgestellt.
/lemo/bestand/objekt/seifert2 Leider kann ich die Stationen unserer Flucht nur im Nachhinein interpretieren: Wenn wir am 6. März 1945 in Lunden angekommen sind und mindestens 6 Tage in Heide im Flüchtlingslager waren, sind wir also dort am 28. Februar 1945 gewesen. Vorher waren wir möglicherweise in Neumünster, Hamburg und in Lübeck. Jedenfalls sind wir 4 Tage und 4 Nächte von Danzig mit dem Zug nach Schleswig-Holstein gefahren. Rechne ich ca. 4 Tage zurück, sind wir in Danzig zwischen dem 20. und 24. Februar 1945 losgefahren. Unser Aufenthalt in Danzig dauerte vielleicht eine Woche bis 14 Tage, also waren wir in Pillau spätestens am 10. Februar aufs Schiff gegangen, das vielleicht 2 Tage auf See war. Aber da war schon das Chaos total ausgebrochen und deckt sich nicht mehr mit meiner Erinnerung.
Irgendwie hatten meine Mutter und ihre Schwester sich gefunden, leider weiß ich nicht mehr, ob schon zu der Zeit als meine Tante Grete mit ihrer Tochter Hannelore und den beiden angeheirateten Kindern Erika und Hans in Dänemark waren. Sie waren aus dem Lager in Dänemark nach Württemberg entlassen worden. Am 10. Oktober 1949 erfolgte unsere Umsiedlung nach Tuttlingen in Württemberg. Meine Mutter hatte sich vorher noch bei meiner Tante erkundigt, ob es in Tuttlingen auch alle Arten von Schulen gäbe. Auch diesen Antrag auf Familienzusammenführung, ausgefüllt am 22. Januar 1949 (überschrieben 22.9.48, da wohl mehrfach eingereicht) von meinem Onkel Otto Eichelbaum in Tuttlingen, erhielt ich zusammen mit den oben genannten. Aus ihm geht hervor, dass unsere letzte Adresse Lunden, Friedrichstr. 14, brit. Zone, war. Der Zuzug wurde vom Staatskommissar für die Umsiedlung in Tübingen am 15.3.1949 befürwortet "Avis favorable".
Heute bin ich froh, in Tuttlingen gelandet zu sein, weil ich wenigstens die Mittelschule und die höhere Handelsschule, wo ich das "Einjährige" gemacht habe, besuchen konnte.
Die Mutter meines Vaters war eine geborene Kohn. Bei den Urkunden, die meine Mutter in ihrer Handtasche von zu Hause mitgenommen hatte, fand ich den Ariernachweis, es ist ein Auszug aus dem Kirchenbuch. Ich erinnere mich noch, dass es im Familienkreis eine Diskussion darüber gab, ob meine Großmutter jüdischer Abstammung sei, denn der Name Kohn mit "C" geschrieben war jüdisch. Es hieß, sie könne dann aber höchstens eine Vierteljüdin sein. Ende 1943 oder war es erst Anfang 1944 trat meine Mutter auf Drängen der Nachbarn in die NS-Frauenschaft ein. Noch in Königsberg, das Geschehen in Nemmersdorf war bekannt geworden, hatte meine Mutter die Nachricht erhalten, dass ihre Cousine in Alt Domhardtfelde im Kirchspiel Popelken bzw. Markthausen, Kreis Labiau aus Angst vor den Russen in den Brunnen gesprungen war. Wie ich erst jetzt von der Enkelin ihrer Nachbarn des Ehepaars Naujoks erfuhr, hieß diese Cousine Lydia Baltruweit, denn ihren Namen hatte ich vergessen. Sie lebte allein in einer Bauernkate in Friedrichswalde, das ab 1938 zu Domhardtfelde gehörte, wo ich als Kind mit meiner Mutter zu Besuch war. Im Januar 1945 ging Lydia zu den Nachbarn Naujoks, da sie in ihrem Haus nicht allein bleiben wollte. In einem Brief an die Tochter Naujoks schreibt Frau Kahlau, was ihr eine Cousine von Pauline Naujoks, die das ganze miterlebte, erzählt hat. Als in der Nacht von Sonntag, den 21. Januar 1945, zum Montag die zweite Horde Russen kam, vergewaltigten die Russen Lydia auf dem Küchenboden. Frau Kahlau schreibt in ihrem Brief vom 7.2.49 an Johanne geb. Naujoks, der Tochter der Nachbarn Lydias: 'Die hat sehr geschrien. Die Mutter hat gesagt der Vater soll ihr helfen gehen, er ist aber nicht gegangen. Als die da fertig waren, sind sie reingekommen ohne ein Wort zu sagen und haben den Vater mit einem Schuß erschossen.' und weiter: 'Lydia war in Ihren Brunnen gesprungen und wurde am 23. April von Max Solies aufgefunden. Am 24. haben dann die Männer Solies, Weiß, Hunsalz und mein Mann sie rausgeholt und begraben.' Familie Kahlau wohnte noch bis zum 15. Sept. 46 in Domhardtfelde.
Meine Mutter muss eine furchtbare Angst vor den Russen, die sicher noch aus dem ersten Weltkrieg herrührte, gehabt haben. Anders kann ich mir nicht erklären, dass wir so früh und in so kurzer Zeit, schon am 6. März 1945, in Schleswig-Holstein waren. Noch vor der Flucht dachte sie an ihre eigene Mutter, doch ich war ihr wichtiger. Meine Mutter hatte über den Suchdienst ihre ehemalige Freundin aus der Jugendzeit wiedergefunden, von der sie dann die Nachricht bekam, dass ihre Mutter, meine Oma, und ihre Schwester, Tante Ida, in Königsberg verhungert wären. Die offizielle Nachricht vom Tode ihrer Mutter erhielt sie von der Heimatortskartei für Ostpreußen, Neumünster, unter dem Datum vom 6.4.1959. Wie meine Mutter das alles verkraftet hat, ist mir heute noch ein Rätsel. Wahrscheinlich, weil es allen Menschen ähnlich ging oder noch viel schlimmer.
Ich fühle mich vom Naziregime relativ unbelastet. Auch den Krieg und die Flucht habe ich einigermaßen unbeschadet überstanden. Und doch trage ich mein Flüchtlingsschicksal wie einen Rucksack mit ins Grab. Kälte ist für mich heute noch das Schlimmste, nicht so sehr der Hunger, denn uns ging es immer noch vergleichsweise gut bei den Inhabern der Schlachterei in Lunden.
Ebenso versuche ich, mich an meine Cousine Dora, der Tochter der Schwester meines Vaters, deren Eltern in Königsberg am Oberhaberberg wohnten, zu erinnern. Denn zehn Jahre nach ihrem Tod begegnet sie mir in zwei Büchern wieder.