> Rochus Zentgraf: Flucht und Vertreibung meiner Mutter

Rochus Zentgraf: Flucht und Vertreibung meiner Mutter

Dieser Eintrag stammt von Rochus Zentgraf (*1956) aus Gotha, August 2004:

Meine Mutter, Jahrgang 1926, wurde in Rudinen, Kreis Heydekrug, im heutigen Litauen, geboren. Sie war ein uneheliches Kind und lebte bis zu ihrem 4. Lebensjahr mit Mutter und Großeltern in Rudinen. Sicher war mein Urgroßvater nicht sehr erfreut über das Kind meiner Großmutter, und es ist auch nicht überliefert, was es damals für ein Theater wegen der Schwangerschaft meiner Oma gegeben haben muss. Ich bin aber überzeugt, dass es bestimmt großen Ärger gegeben hat, was man am Verhalten meiner Oma gegenüber meiner Mutter (nach Erzählungen meiner Mutter) gespürt hat. Nach der Heirat meiner Oma (nicht mit dem Kindsvater, der nach Gerüchten Selbstmord begangen haben soll) mit meinem Opa (den ich noch heute als Opa betrachte) zog die Familie nach Memel (heute Klaipeda).

Im Jahre 1944 musste meine Mutter zum RAD, sie hatte schon die Immatrikulation zur Handelsschule in Königsberg, aber ohne RAD-Zeit war da nix zu machen. Ihre RAD-Zeit verbrachte sie in der Nähe von Rastenburg, der Ort hieß Kröligkeim oder so ähnlich. Von dort aus ging es dann nahtlos weiter auf die Flucht über Königsberg. Als die kleine Gruppe von Arbeitsmaiden sehr diszipliniert auf dem Bahnhof von Königsberg stand, wurde der Lokführer auf sie aufmerksam. Er ging zur Führerin der Gruppe und sagte ihr, er würde ein Zeichen geben, wenn der Zug abfuhr. Dann sollte die Gruppe möglichst schnell in den Zug steigen, was auch reibungslos passierte. Vermutlich entkam meine Mutter deshalb der russischen Gefangenschaft.

Nachdem sie im "Altreich", wie das Gebiet des heutigen Deutschland damals genannt wurde, angekommen waren, ging es über Berlin per Fußmarsch weiter nach Schleswig-Holstein. Dort wurden die Arbeitsmaiden formell entlassen und konnten (oder mussten) ihren eigenen Weg gehen. Das war für meine Mutter nicht einfach, glaubte sie doch als damals 18jährige, sie könne zurück in ihre Heimat. Von den Plänen der Alliierten war ihr damals nichts bekannt. Nun ja, sie kam nur bis Berlin, wo sie einen Menschen traf, der ihr klar machte, dass sie nicht mehr nach Ostpreußen zurück konnte. Glücklicherweise erinnerte sie sich, dass mein Opa Verwandte in Berlin hatte. Diese fand sie dann auch und kam dort unter. Sie wurde dort aber nur ausgenutzt, und zum Glück kannten andere Verwandte auch diese Adresse. Als meine Großtante, sie lebte damals in Waltershausen, eines Tages dort zu Besuch kam, nahm sie meine Mutter mit nach Thüringen. Tja… meine Mutter blieb in Thüringen, lernte meinen Vater kennen und heiratete. Meine Großtante ging nach Münster, dort lebten inzwischen meine Großeltern. Ja, meine Großtante heiratete dort einen Angestellten der Firma ihres verstorbenen Mannes aus Memel, aus der Ehe entstand ein Sohn, der nur 5 Jahre älter ist als ich und heute Geschäftsführer einer großen Brauerei in NRW ist.

Auf Grund des Einflusses meines Vaters konnte meine Familie vor dem Mauerbau nicht in den Westen flüchten. Die Möglichkeit war da, man hat sie nicht genutzt. Mein Vater hat das auch nie als Fehler akzeptiert (er war kein Kommunist). Ich hab später meinen Eltern den Vorwurf gemacht, meine Mutter sah es ein, mein Vater nicht. Da er sehr plötzlich, im Jahre 1993, verstarb, denke ich, dass er an den inneren Konflikten, die er nie offenbarte, verstarb.

lo