> Rochus Zentgraf: Flucht und Vertreibung meiner Patentante

Rochus Zentgraf: Flucht und Vertreibung meiner Patentante

Dieser Eintrag stammt von Rochus Zentgraf (*1956) aus Gotha, August 2004:

Meine Patentante, Ingrid Pfeifer, wurde 1927 in Gablonz an der Neiße geboren. Leider verstarb sie, viel zu früh, im Jahre 1987, mit 60 Jahren. Sie hatte durch die Regelung für Rentner in der DDR die Möglichkeit, noch zwei Reisen in den Westen anzutreten, von der zweiten kam sie im Dezember 1987 nicht mehr lebend zurück nach Gotha. Sie verstarb im Krankenhaus in Mutlangen.

Ja, ihre Geschichte war folgende. Sie wurde in Gablonz an der Neiße (heute: Jablonec nad Nisou) geboren und wuchs dort auch auf. Ihre Mutter, schwere Epileptikerin, konnte nie einen Beruf ausüben und war auf die Hilfe der Familie angewiesen. Der Vater starb schon sehr früh an Magenkrebs, den genauen Zeitpunkt weiß ich nicht mehr, es muss aber in den frühen Dreißigern gewesen sein. Ein Bruder ihrer Mutter wurde nach der Heimkehr aus der Gefangenschaft von Tschechen ermordet, wohlgemerkt nach Kriegsende. Die Mörder sind bis heute nicht bestraft worden und die Mutter meiner Patentante hat auch nie erfahren, wie ihr Bruder zu Tode kam. Meine Patentante wollte immer Lehrerin werden, ging dann auf die Lehrerbildungsanstalt nach Reichenberg (heute: Liberec) und war dann mit 17 schon ausgebildete Lehrerin! Aus dieser Zeit gibts auch eine Freundin, die heute in Österreich lebt und zu der ich noch heute Kontakt habe.

Der Bruder meiner Patentante war Jahrgang 1923, genau wie mein Vater. Er wurde auch zur Wehrmacht eingezogen. Eines Tages aber, kurz vor Kriegsende, als er von Amerikanern aufgegriffen wurde, glaubte er anscheinend noch an den "Endsieg" und versuchte, ihnen zu entwischen. Durch den Schusswaffengebrauch der Amerikaner wurde er so schwer verwundet, dass er querschnittsgelähmt in amerikanische Gefangenschaft kam. Ich weiß nicht, wer nun die Hauptschuld trägt, ein junger deutscher Soldat, verblendet von der Ideologie der Nationalsozialisten, oder die Amerikaner, die ihn sicher auch mühelos ohne zu Schießen wieder hätten einfangen können. Also, er kam in amerikanische Gefangenschaft und wurde über Marseille nach Oklahoma in den USA verschifft. Es gab damals die Regelung, dass im Rahmen des Gefangenenaustauschs für je einen Deutschen 10 Amerikaner freigelassen werden mussten.

So kam auch der Bruder meiner Patentante zurück nach Deutschland, und zwar nach Siegmaringen, wo er in einem Krankenhaus verstarb. Dort liegt er auch bis heute begraben, auf einem Soldatenfriedhof. Auf seinem Grab steht: Helmut Pfeifer. Meine Patentante, die dieses Grab im Jahre 1987 zum ersten Mal besuchen durfte, brach davor weinend zusammen. Ich weiß das deshalb, weil mein Bruder Zeuge war, es war auch seine Patentante, und er hatte die Möglichkeit, damals schon im Rahmen eines Familienbesuchs in die Bundesrepublik zu reisen. Aus den Erzählungen meiner Patentante weiß ich, dass sie beim letzten Fronturlaub ihres Bruders im Streit mit ihm auseinander ging, wahrscheinlich wegen einer Lappalie. Sie hörte nach seinem Weggehen noch lange die Stiefelschritte ihres Bruders im Dunkel der Nacht verhallen.

Wie der Weg des Bruders meiner Patentante weiterging, weiß ich nicht genau, aber irgendwie kam er auch nach Ungarn. Von dort schrieb er nach Hause, dass er ein Mädel kennengelernt hätte, "und das blieb nicht ohne Folgen". Vermutlich gibt es dort noch eine Nichte oder einen Neffen meiner Patentante. Ich hab noch nicht nachgeforscht, vielleicht mache ich das noch, denn ich denke, ich bin das meiner Patentante schuldig. Sie hat viel für mich und meinen Bruder getan. Ja, der Bruder meiner Patentante war nach dem Tod des Vaters der einzige Ernährer der Familie, sein Wehrsold wurde der Mutter überwiesen, die damit sich und meine Patentante durchbringen konnte.

Im Jahre 1945 wurden viele Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei ausgewiesen, darunter auch meine Patentante und ihre Mutter. Sie sollten erst nach Rügen verschleppt werden, kamen aber durch einen glücklichen Umstand, den ich nicht mehr genau weiß, nach Thüringen, genauer gesagt nach Winterstein im Kreis Gotha. Dort lernte sie meine Mutter kennen und sie wurden lebenslange Freundinnen. Diesem Umstand verdanken mein Bruder und ich auch ihre Patenschaft. Ich weiß noch, dass meine Mutter, die ja aus Memel stammte, und meine Patentante, die aus Gablonz an der Neiße stammte, sich schworen: "Wo es die erste Reisemöglichkeit hin gibt, zu dir oder zu mir, wir fahren gemeinsam hin!" Diese erste Reisemöglichkeit gab es dann in die Tschechoslowakei, und meine Mutter und meine Patentante fuhren also 1964 zusammen dorthin. Sie besuchten alle Wirkungsstätten meiner Patentante. Übrigens ist noch anzumerken, dass meine Patentante sehr gut tschechisch sprach und auch sonst sehr sprachbegabt war. Ungarisch hat sie auch sehr schnell gelernt, das merkte ich, als ich mit ihr 1980 und 1981 dort in Urlaub war.

Später durften, das weiß ich aus Erzählungen von Bekannten in der Tschechei, nur noch Deutsche ausreisen, die eine Unterschrift von Verwandten brachten, die eidesstattlich erklärten, in der Tschechoslowakei zu bleiben. Daher finde ich, dass viele, die aus der

Tschechei nach dem Westen flohen, lügen. Zurück zu 1964. Sie kamen an einem Haus vorbei, wo sie von einem Tschechen übelst beschimpft wurden, meine Patentante verstand das, sie konnte ja tschechisch. Konnte man aber was dagegen tun?

Ich war nach dem Prager Frühling im Jahre 1972 zum ersten Mal in der Tschechei, natürlich mit meiner Patentante. Ich fand dort, das hab ich weder ihr noch sonst jemandem jemals erzählt, bei einem Spaziergang in Gablonz ein Abzeichen der NSDAP mitten auf der Straße liegen. Ich habs verscharrt und natürlich, wie gesagt, niemandem erzählt.

Ja, was ist noch zu sagen: Meine Patentante hatte ebenfalls eine solche in der Tschechoslowakei. Dort deponierten sie Sachen, die sie damals bei der Ausweisung nicht mitnehmen konnten. Bei späteren Besuchen bestritt diese Tante den Besitz und rückte nichts mehr davon heraus. Mein Bruder, der mit Vornamen Stefan heißt, bekam als zweiten Vornamen den Namen Helmut, den Namen des Bruders meiner Patentante. Ich war noch nie in Sigmaringen, möchte aber vor meinem Tode dort gern nochmal hin, es ist mir wichtig.

Ja, und es gab ein Schwarz/Weiß-Foto des Bruders meiner Patentante. Ein Maler hat dies im Auftrag als Gemälde coloriert. Dieses Bild ist heute im Besitz meines Bruders, wie auch alle Unterlagen und Briefe, die meine Patentante je von ihrem Bruder bekam.

Also, ich denke heute, dass zwar Tschechien als unser Nachbarland EU-Mitglied ist, aber es hat sich noch nicht zur deutschen Frage erklärt, und auch nicht zu Verbrechen von Tschechen gegenüber Deutschen. Ich sehe daher Tschechen nicht als Feinde, keineswegs, aber als Verbrecher ohne Entschuldigung schon. Willi Brandt hat einen Kniefall in

Warschau getan. Fällt das einem tschechischen Präsidenten so schwer, sich für unschuldig ermordete Deutsche zu entschuldigen??

lo