> Rosemarie Feix: Die Flucht aus Ostpreußen nach Brandenburg mit den Augen eines Kindes festgehalten

Rosemarie Feix: Die Flucht aus Ostpreußen nach Brandenburg mit den Augen eines Kindes festgehalten

Dieser Eintrag stammt von Rosemarie Feix (*1938 ), August 2003:

Am Bahnhof der Abschied von den Großeltern, herzlich und tröstend - sie würden bald folgen, nur noch dies oder das in Sicherheit bringen, das Haus ordnen und verschließen. Im Zug nur Frauen und Kinder, ein Transport aus der gefährdeten Stadt aufs Land. Die letzten Nächte in Insterburg verbrachten wir im Gewölbekeller des großelterlichen Hauses. Zwischen Pfeilern und Bögen befanden sich festgefügte Holzbetten. Auf Regalfächern im Nebenraum stand der Notvorrat: Eingemachtes vom Hühnchen bis zur Erdbeere, dazwischen große Holzfässer mit Kraut, blau und weiß. Die Holzdeckel beschwert mit einem schweren Feldstein, den wir Kinder nicht anheben konnten. Es gab Pakete mit Kerzen und Verbandmaterial - Dinge, deren Notwendigkeit wir erst später begreifen sollten. Dieser Keller steigerte sich in unserer kindlichen Phantasie zu der Erlebniswelt in einer Höhle. Hier durften wir zu zweit im Bett schlafen, im Anfang noch in Nachtkleidung. In den letzten Tagen mit einer kleinen Karte in Klarsichthülle um den Hals. Name, Adresse sagten, wer wir sind. In den letzen Nächten durften wir nur noch angezogen auf dem Bett liegen. Jetzt also würde es diese Nächte nicht mehr geben. Das Land erschien ruhiger. Unser Ziel: ein Bauernhof auf dem benachbarten Land. Wir bezogen ein kleines Backsteingebäude.

Wir Kinder tollten, durch Hof und Garten. Die Dorfstraße bot uns einen idealen Spielplatz. Welch ein Genus barfuss, mit den Zehen spielend, den Boden zu erforschen. Mit den Holzsandalen in den Händen trockneten wir die Füße in den Grasnaben am Straßenrand. Die Schule begann. Gespannt warteten wir auf den ersten Tag. Mein älterer Bruder hatte die ersten Schreibübungen auf der Schiefertafel schon hinter sich. Mir fiel der Garten der Großeltern ein - ein Foto zeigte einen blonden Jungen mit zwei Schultüten, in jedem Arm eine - nun also würde ich eine dieser spitzen Tüten bekommen, so groß, daß man sie kaum tragen konnte, voller Überraschungen. Der erste Schultag kam, es gab keine Schultüte, auch keinen Tornister, aber ein Kleid , weiß mit zahlreichen kleinen Rosen für mich. Die Dorfschule hatte einen großen Klassenraum, einen dunklen Holzfußboden, und ebenso dunkel wirkten die Bänke - vorn kleinere, hinten größere. Ganz vorn stand höher als alle Bänke und noch eine Spur dunkler der Katheder. Von hier aus beaufsichtigte der Lehrer links die Mädchen, rechts die Jungen, vorn die kleinen, hinten die großen.

Nur wenige Tage besuchten wir diese Schule. Leiterwagen wurden bepackt mit Hausrat, oben drauf die Betten und wir - ein Wagen für die Tante und Onkel, ein Wagen für uns. Auch das Land bot keine Sicherheit mehr. Es blieb nur der Weg nach Westen. Dort aber gab es für uns eine weitere Anlaufadresse - ein Weg ins Ungewisse. In einer kleinen Ortschaft trafen wir die Großeltern wieder. Sie hatten ein Zimmer auf einem Gutshof bezogen und wir bekamen eines auf dem benachbarten Hof. Die Bäuerin machte keinen sehr freundlichen Eindruck und unser Zimmer, durch die große Küche erreichbar, erwies sich bedeutend zu klein. Wir konnten nicht einfach, wie gewohnt durch Hof und Umgebung tollen - immer mussten wir die Bäuerin fragen. Auch in diesem Ort hielten wir uns nicht lange auf. Erneut stand ein Leiterwagen fertiggepackt vor dem Nachbarhof. Der Bauer des Hofes hatte Großvater einen Platz angeboten für seine Habe und Großvater hatte auch ein Plätzchen für uns ausgehandelt. Viel brauchten wir nicht mehr, die größeren Dinge blieben bei der Bäuerin - sie wollte den Hof nicht verlassen.

Alle vorhandenen Pferde zogen die Wagen weg vom Hof. Diesmal entfiel für uns der Platz oben auf. Nur die beiden jüngeren Geschwister saßen gut gesichert vorn. Wir liefen neben dem Wagen und abwechselnd trugen Großeltern und Mutter uns. Der Bauer mahnte unentwegt zur Eile. Wir mussten den letzen Güterzug in F. erreichen. Auf der Straße zum Bahnhof wuchs die Zahl der Pferdewagen schnell an. Umladen, Pferde in die Waggons bringen. Wir bezogen eine weichgepolsterte Ecke in einem Güterwagen. Die Betten lagen eingenäht in Säcke und wir schliefen darauf. Durch die Nähe der Tiere blieb es warm, draußen schneite es. Eine Art Stall-Laterne erleuchtete das Wageninnere. Die Tür musste von außen bis auf einen Spalt zugeschoben werden. Ständig blieb der Zug stehen, Waggons angehängt und die Lokomotive gewechselt. Wohin sollte es eigentlich gehen? - Unter den Erwachsenen machte sich Unruhe breit, für die Pferde gab es so gut wie kein Futter mehr , auch wir hatten oft Hunger und vermissten das freie Herumtollen, sogar die Schulstunden. Der ganze Güterzug bildete nun ein Flüchtlingstreck, der sich langsam von Ost nach West bewegte. Die Luftangriffe auf die Städte hatten begonnen und tieffliegende Militärmaschinen bombardierten auch den Zug. Es entstanden schreckliche Minuten, die Angriffe dauerten nicht lange. Das Geräusch der anfliegenden Maschinen konnten auch wir Kinder bald deutlich ausmachen. Dann hieß es raus und flach ins Gras oder besser in das Strauchwerk legen - eng zusammen damit niemand verloren ging. Nach einem solchen Angriff musste der Zug stets neu zusammengekoppelt werden - einige Wagen brannten - einige Menschen versuchten mit ihrer Habe auf den Rücken und den Kindern an der Hand den Weg zu Fuß fortzusetzen. Ungefährlicher stellte sich auch diese Fluchtart nicht heraus. Oft genug machten Tiefflieger solche Flüchtlingstruppen aus. Unsere Zuglänge verkleinerte sich stetig, die Pferde notgeschlachtet - wir mussten überleben - besonders ältere Menschen erfroren, manch ein Verwundeter starb. So säumte die Bahnstrecke bald ein Gräberfeld. Irgendwann verließen wir den Zug - es gab keine Kohlen für die Lokomotive mehr.

Ein normaler Kellerraum bildete den Luftschutzraum, jedoch hingen zwei Spitzhacken und ein Apothekenkasten an der Wand. Die Hausbewohner hatten sich zum Teil Feldbetten oder Holzespritschen in den Raum gestellt, so daß wir Kinder und die älteren Leute sitzen oder schlafen konnten. Und dann passierte es. Im Nachbarhaus schlug eine Bombe ein. Wir lernten die Bedeutung der Spitzhacken kennen. Klopfzeichen aus dem Nachbarkeller zeigten, wo ein Durchbruch zu erfolgen hatte. In Windeseile entstand ein Loch durch das grauer dicker Staub in den Keller drang, dann wurde eine Gestalt durchgeschoben, nicht erkennbar ob Mann oder Frau. Männer trugen sie auf den Hof. Es folgten weitere. Auf dem Hof lagen aufgereiht fünf Menschen. Leute beteten im Keller.

Eines Tages standen Soldaten in der Zimmertür. Die Sprache klang unverständlich, aber die Gestik verdeutlichte, was sie wollten. Großvater gab eine Uhr, Großmutter die ihre - das genügte aber nicht. Großvater hatte in der Lampe eine Taschenuhr versteckt, nur nicht bedacht, daß das Sonnenlicht auf die Stofflampe fiel. Die Männer wurden böse, Mutter verließ den Raum und kam mit einem schwarzen Schmuckkoffer zurück. Sie kippte den ganzen Inhalt auf den Tisch. Zwei Elfenbeinfiguren kollerten unter das Sofa, auf dem wir Kinder hockten. Einer der Männer kroch ihnen nach und entdeckte am Hals von uns beiden Mädchen Silberketten. Er machte sie nicht auf, er riss sie uns mit einem Griff ab. Alles das, was da glitzerte und glänzte auf dem Tisch, rettete uns vor weiteren Zugriffen, bedeutete aber auch, daß wir jetzt völlig mittellos dastanden. Die Männer verschwanden, tätschelten meiner Mutter im Hinausgehen die Wangen, Großmutter erbleichte, aber es war vorbei. Großvater hängte ein weißes Laken aus dem Fenster.

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