> Ursula Sabel: Einmarsch der Amerikaner und Kapitulation 1945

Ursula Sabel: Einmarsch der Amerikaner und Kapitulation 1945

Dieser Eintrag stammt von Ursula Sabel (* 1924) aus Kenn bei Trier , 25.04.2000:


Seit 1943 lebte ich alleine mit meiner Mutter in unserem großen Haus in Duisburg-Wedau. Mein Vater und mein Bruder waren zum Militär eingezogen.

Nachdem seit 1942 nicht nur nächtliche, sondern auch tagsüber feindliche Luftangriffe geflogen wurden, wir hörten oft das Brummen der Kampfmaschinen über uns, begann nun die Endphase des Krieges. Am 6. Juni 1944 begann die alliierte Invasion an der französischen Atlantikküste in der Normandie. Von dort aus wurden die deutschen Einheiten allmählich zurückgeschlagen und Frankreich sowie Holland und Belgien befreit.

Am 7. März 1945 gelangen den Alliierten zwei Rheinübergänge, einer über eine unversehrte Brücke bei Remagen, der andere am Niederrhein. Aus unserem Dachfenster konnten wir nachts in weiter Ferne die hell erleuchtete künstliche Nebelwand sehen; wir wußten damals jedoch nicht, was der Anlaß dafür war. Am anderen Tag erfuhren wir in den Nachrichten im 'Wehrmachtsbericht', daß die deutschen Truppen zur Stabilisierung der Front auf das rechte Ufer des Rheines zurückgenommen seien. Jeder wußte, was das in Wirklichkeit bedeutete.

Etwa Ende März 1945 sah ich auf unserer Dorfstraße in Wedau die Truppen der Amerikaner einmarschieren. Einige Soldaten gingen zu Fuß, andere fuhren mit ihren riesigen Fahrzeugen (die Reifen waren alleine überlebensgroß!) an unserem Haus vorbei. Wir verzogen uns natürlich schnell in die Häuser und hofften, daß wir unversehrt davon kämen. Die Truppe schien durchzuziehen, und so konnten wir uns einigermaßen beruhigt zu Bett begeben.

Obwohl wir natürlich alles gut verschlossen hatten, wurden wir in der Nacht jäh aufgeschreckt durch lautes Rufen. Die Soldaten, es waren junge Offiziere, hatten sich Einlaß verschafft, ohne das Türschloß oder das Fensterchen zu beschädigen. Es blieb uns auch später ein Rätsel, wie das möglich war. Wir standen schnell auf, schlossen unser Schlafzimmer ab und zogen uns provisorisch an. Damit klopfte es schon an unsere Türe, und in höflichem Englisch bat man uns, heraus zu kommen. Nach kurzer Erklärung war uns alles klar: wir mußten das Haus verlassen und zwar sofort. Es wurde als Quartier und Büro benötigt, das große Haus von Dr. Helpenstein neben uns schien den Soldaten zu eng. Aber wir könnten für diese Nacht dort unterkommen, ein wohlmeinendes Angebot.

Wir packten und griffen so viel wir konnten, holten im zweiten Gang auch noch unser Bettzeug und baten nebenan um Unterkunft. Leider war das Haus schon von Fremden belegt, die Arztfamilie hatte sich ins Sauerland zu Verwandten abgesetzt. So verbrachten wir diese Nacht provisorisch auf dem Fußboden und hofften, am anderen Morgen ein besseres Quartier finden zu können.

Während meine Mutter am anderen Tag bei unseren Sachen 'Wache hielt', lief ich durch das Dorf und hörte mich um, wo eine leere Wohnung zu finden sei. Ich hatte Glück, und so zogen wir mit einem geliehenen Handkarren wie arme Leute in eine nahe gelegene, unbewohnte Arbeiterwohnung. Dort räumten wir allerlei auf, damit wir unsere Sachen unterbringen konnten, und nachdem alles etwas gemütlich hergerichtet und das Essen aus ein paar spärlichen Lebensmitteln bereitet war, suchte ich in Wedau Bekannte auf, um die neuesten Begebenheiten zu erfahren. Schon nach einigen Tagen oder einer Woche wußte jemand, daß unser Haus schon leer sei. Bei meinem Eintreffen sah ich schon die Männer aus unserem Nachbarhaus ein- und ausgehen. Sie gingen mit mir durch das Haus, und wir sahen von den 'Amis' in der Küche größere Reste von Weißbrot, gutem Fett und anderen Lebensmitteln, die für uns inzwischen zu Kostbarkeiten geworden waren. Als ich eine Stunde später mit meiner Mutter wieder einzog, fanden wir nichts mehr davon, es waren bestimmt die deutschen Nachbarn. Die Soldaten hatten den Schreibtisch von meinem Vater aufgebrochen, aber sonst hatten sie sich gut benommen, nichts von dem, was man sonst oft hörte.

Obwohl man das Kriegsende und alles was damit zusammenhing als einen totalen Zusammenbruch empfand, war es einem aber doch wie eine Befreiung von dem schrecklichen Krieg und der Herrschaft des Nationalsozialismus von Hitler und seiner Partei.

In anderen Häusern in unserer weiteren Nachbarschaft blieben die Soldaten länger. Eines Tages hörte ich eine Frau klagen, sie müsse in den Garten, um die Gemüsebeete zu bestellen. Auch die Bäume müßten geschnitten werden. Da bot ich mich mit meinen Englischkenntnissen an, die Soldaten zu fragen, ob sie ihnen Zutritt gewährten. So gelang es mir, mich zu verständigen und bekam auch die gewünschte Erlaubnis. Wie stolz ich da auf meinen Erfolg war - gut daß ich Englisch sprechen konnte!

Nun noch ein paar Daten: die alliierten Truppen drangen unaufhaltsam nach Mitteldeutschland vor, während vom Osten die russischen Truppen in Deutschland einmarschierten. Am 15. April befreiten die britischen Truppen das Konzentrationslager Bergen-Belsen, am 25. April trafen amerikanische und sowjetische Truppen bei Torgau an der Elbe zusammen, am 7.-9. Mai 1945 war die Kapitulation der deutschen Wehrmacht.

Schon vorher, am 30. April hat Hitler Selbstmord begangen. Als nun durch die Kapitulation alles in Auflösung begriffen war, und keiner wußte, wie es weiter gehen würde, wem die verlassenen Gebäude der Verwaltung und Industrie gehören würden, machten sich viele Leute auch der Not gehorchend über die Werkstätten und Büros des Reichsbahnausbesserungswerkes in Wedau her. Viele kamen mit Leiterwagen voll guter Dinge heim, da hat es mich auch getrieben, etwas Nützliches für meine Mutter und mich zu finden. Es waren nur ein paar Kleinigkeiten, aber erst später kam mir in den Sinn, daß das nicht erlaubt sein konnte. So war ich auch der Auflösung der Begriffe von Eigentum und Recht zum Opfer gefallen.

Auch die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln brach fast ganz zusammen. Während des ganzen Krieges erhielt jeder gemeldete Bürger eine Lebensmittelkarte, ausgestellt auf seinen Namen und Adresse. In vielen kleinen Einzelfeldern stand die Bezeichnung der Grundnahrungsmittel wie z.B. Butter, Fleisch, Wurst, Zucker, Brot, Teigwaren usw. Für jede Woche (die Karte galt für einen Monat) war eine bestimmte Menge angegeben, außerdem gab es noch Nummern-Abschnitte zur Verfügung bei besonderem Aufruf. Für Säuglinge, stillende Mütter, Schwer- und Schwerstarbeiter wurden Karten mit besonderen Zuteilungen ausgegeben. Diese Regelung hat sich grundsätzlich bewährt, obwohl jeder versuchen mußte, noch an zusätzliche Lebensmittel zu kommen. Auch tauschten manche gegen andere Raritäten ihre Brotmarken ein, natürlich nur bei guten Bekannten.

Aber mit der Kapitulation brach diese letzte kleine Sicherheit bezüglich Ernährung fast ganz zusammen. So schnell konnten die Alliierten die notwendige Organisation nicht bewältigen. Die Geschäfte blieben leer, manchmal wurde zufällig dies oder jenes angeliefert, dann stand man schnell 'Schlange' und hoffte, etwas zu ergattern, wenn es auch gerade nicht das Notwendigste war. Mit meinem Fahrrad konnte ich zum Glück immer sehr schnell sein, auch scheute ich damals keine weiten Touren z.B. nach Kaiserswerth bei Düsseldorf. Dort bekam ich auf kleine Marken, die bei uns keinen Wert hatten, ein ganzes Pfund Hackfleisch.

Die ersten Monate waren die schlimmsten. Wir hatten einfach nicht genug, der Hunger machte uns erfinderisch. Als ich hörte, daß es bei uns im Konsum Sauerkraut ohne Marken gäbe, machte ich mich mit zwei Putzeimern schnell auf den Weg und kam stolz vollbeladen heim. Meine Mutter fragte ganz erschrocken, wer das denn essen sollte. Aber schon bald waren wir froh damit: morgens eine Portion mit etwas Zucker, mittags warm gemacht als Gemüse und abends in ein wenig Kaffee gebraten, natürlich ohne Fett. Ebenso hilfreich wurde uns etwas später ein Eimer mit gesalzenem Steckrübengemüse. Im übrigen lebten wir im Mai und Juni von unserem Spargel, die Delikatesse wurde zu unserem Lebensretter. Anderes gab es um diese Jahreszeit nicht in unserem Garten.

Die meisten Stunden der letzten Kriegswochen verbrachten meine Mutter und ich in den beiden Kellerräumen: der Einmachkeller, splittersicher, war unser Schlaf- und Vorratsraum, die Waschküche diente als Küche, Aufenthalts- und Eßraum und von hier aus konnten wir ein wenig an die frische Luft in den Garten. Geheizt haben wir erst mit einem kleinen Allesbrenner, als uns das Brennmaterial ausging dann mit einem kleinen Elektro-Heizöfchen. Auf die Rückseite gelegt konnten wir sogar auf den offenen Heizschlangen kochen.

Eines Tages baute meine Mutter durch körperliche Erschöpfung ab, der Arzt riet dringend, zusätzliche Nahrung zu beschaffen. Da bat ich eine Bekannte, mich mit dem Fahrrad mit nach Mündelheim zu nehmen. Dort gab es Großbauern, bei denen vielleicht etwas zu erstehen war. Seit ich mit meiner Mutter alleine war, fühlte ich mich in vielen Dingen verantwortlich für sie. Weder Mann noch Sohn konnten ihr helfen, wir hatten kein Auto und auch kein Telefon zu Verfügung. Mein Fahrrad gab mir die Möglichkeit, Verbindungen nach außen zu tätigen. Oft bin ich in diesen Wochen die weite Strecke von etwa 15 km an den Rhein nach Mündelheim gefahren, z.T. gegen heftigen Westwind und auch hungrig. Mit einigen Tricks erbettelte ich mir mal hier ein paar Möhren, mal da ein paar Kohlrabi auf dem Feld. Und wenn ich ohne Brille und ohne Kopftuch von der anderen Seite kam, gab man mir noch einmal ein paar Möhren. Das ging nur mit großem Zeitaufwand, und manchmal wurde man mit wütenden Antworten abgewiesen. Zum Glück lernte ich eines Tages eine Kriegerwitwe kennen, die bei den Bauern in ihrem Dorf auf den Feldern half und ihren Lohn in Form von Kartoffeln und Gemüse erhielt. Als ich ihr mein Leid klagte, füllte sie mir meine Tasche. Als kleine Anerkennung für ihre Selbstlosigkeit half ich ihr ab und zu, aus alter Garderobe etwas für ihre Jungen zu nähen. So lange ich in Wedau lebte, hielt ich die Verbindung zu ihr aufrecht.

lo