> Walter Koch: Machtübernahme 1933

Walter Koch: Machtübernahme 1933

Erinnerungen von Walter Koch (* 1870) aus Dresden, deutscher Botschafter in Prag, (DHM-Bestand; Inv.-Nr.: Do2 2000/2128):


Am 30. Januar trat der große Umbruch in Deutschland ein; Hitler übernahm die Führung. Damit begannen für mich die schwersten Jahre des Lebens.

Ich litt unter der Erniedrigung und der Schmach der Nachkriegsjahre schwer. Eine Auflehnung dagegen war, solange Deutschland moralisch zermürbt und materiell ohnmächtig war, unsinnig und hätte nur zum Einmarsch der allzeit bereiten Kriegsgegner und zur völligen Zerrüttung des Landes geführt. Mit unendlicher Geduld und Kleinarbeit war immerhin in jenen Jahren manches erreicht worden: Wir hatten uns aus den tödlichen Fesseln der Reparationen befreit. Wir hatten den Rahmen eines künftigen Reichsheeres geschaffen und den Spartakismus niedergeschlagen. Wir hatten die Besetzung des Rheinlandes rückgängig gemacht. Es ist historisch nicht richtig, und es ist nicht gerecht, wenn der Nationalsozialismus die Sache so darstellt, als sei in diesen 14 Jahren überhaupt nichts für den Wiederaufbau Deutschlands geschehen.

Aber ich und viele andere sahen ein: das war alles nur Wegbereitung. [...] Die alte Generation, zu der ich gehörte, war verbraucht; sie würde nicht die Kraft haben, eine neue Zeit heraufzuführen. Die mittlere Generation lag begraben auf den Schlachtfeldern. Und die junge Generation, die 15-30jährigen schienen uns noch nicht reif. Wie immer, wenn die tragende mittlere Generation ausgefallen ist, standen sich Alter und Jugend verständnislos gegenüber.

Aber dazu kam noch zweierlei: Infolge der Herabsetzung der Sterblichkeit waren die alten Leute viel zu zahlreich geworden, und infolge ihrer gegen frühere Zeit gestiegenen Rüstigkeit waren sie wenig bereit, von der Bühne des Lebens abzutreten. Und infolge der katastrophalen Arbeitslosigkeit fand andererseits die heranwachsende Jugend keine Arbeitsplätze und lungerte ohne Beschäftigung und Lebenszweck herum.

Es blieb der Jugend, die ein neues Ideal in sich trug und ein neues Ziel erreichen wollte, gar nichts übrig, als mit Gewalt die Alten aus ihren Stellungen herauszuwerfen und selbst die Zügel der Regierung zu ergreifen.

Damals sah freilich auch ich die Dinge nicht in dieser schonungslosen Beleuchtung. [...] Wohl hörten wir vom Aufstieg des Führers und der gewaltigen Begeisterung der ihm zuströmenden Jugend. Aber wir hatten in Prag keinen unmittelbaren Eindruck und vermochten an dieser Begeisterung nicht teilzunehmen. Ich war, als ich nach Prag ging, aus der Deutschen Volkspartei ausgetreten, also parteilos geworden, weil ich als Vertreter des Reiches keine Bindung außer meinem Amte tragen wollte. Ein Anschluß an die neue Bewegung in der Heimat kam aus dem gleichen Grunde nicht in Frage. [...]

Das Vorgehen der Nationalsozialistischen Partei gegen die Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten erregte in der ganzen Welt Empörung und Entsetzen. Und dies Gefühl wurde von der ausländischen Presse um so eifriger gepflegt und vertieft, als es sich ja um drei internationale Mächte handelte, die dabei die Angegriffenen waren. Wenn in Deutschland der gesamte Adel hingeschlachtet worden wäre - die internationale Presse hätte gleichmütig zugeschaut. Aber das Bismarcksche Wort, daß sich in New York ein Wehgeschrei erhebt, wenn man in Berlin einem Juden ein wenig auf die Zehen tritt, bewahrheitete sich wieder.

In Prag waren alle Teufel los! Hier gingen die Wogen am höchsten. Alles Gesindel, dem in Sachsen der Boden zu heiß wurde, strömte hier zusammen. Auch eine ganze Anzahl prominenter Juden und Sozialdemokraten suchte hier Zuflucht; meist ohne alle Geldmittel, einige davon verwundet und bandagiert. Sie erzählten den Passanten in den Straßen die schrecklichsten Greuelgeschichten und logen das Blaue vom Himmel herunter. Aber die Prager Einwohner glaubten alles.[...]

Die Gesandtschaft sah sich in ein paar Tagen vollkommen isoliert. Kein Hund nahm mehr einen Bissen Brot von uns! Unsere tschechoslowakischen und ausländischen Freunde und Bekannten zogen sich scheu zurück. Die Blätter brachten ihre Greuelmeldungen in großer Aufmachung, insbesondere der "Sozialdemokrat" setzte darüber riesige Schlagzeilen: "Herr Gesandter Koch, was sagen sie dazu?" "Herr Gesandter Koch, Ihr Minister belügt Sie!" "Herr Gesandter Koch, warum schweigen Sie jetzt?"

Es war schwer, die Ruhe zu bewahren; aber kaltes Blut war vonnöten. Von Berlin kam in sehr energischen Tone die Weisung: zu dementieren, den Greuelmärchen mit größter Energie entgegezutreten. Ich schrieb sofort zurück: "Ich bin bereit, meine ganze Person einzusetzen, wenn mir das Auswärtige Amt die Unterlagen liefert. Aber ich lehne es ab, durch leichtfertige Dementis meine Ehre, meinen durch lange Jahre erworbenen Ruf als Mann, der der Wahrheit dient, hinzuopfern." [...]

Am 20. April 1933 wehte zum ersten Male die Hakenkreuzflagge vom Gesandtschaftsgebäude. Aus dem Reiche kamen zeitweilig Parteigenossen mit dem angeblichen Auftrage der Partei, die Haltung der Gesandtschaft zu überwachen. Es waren üble Subjekte darunter, die in den Cafes gegen uns hetzten; sie fielen gewöhnlich nach einiger Zeit in die Hände der tschechischen Polizei. Denn die tschechische Regierung verfolgte jeden, der sich zur nationalsozialistischen Partei Deutschlands bekannte und in Böhmen getroffen wurde, strafrechtlich und belegte ihn mit schweren Freiheitsstrafen. Die Partei in Deutschland hatte zur strafrechtlichen Verfolgung ihrer Mitglieder selbst die Handhabe geliefert: Punkt 1 des nationalsozialistischen Programms, das nach §1 der Parteisatzung unabänderlich ist, bestimmt, daß alle an Deutschland angrenzenden, von Deutschen bewohnten Gebiete mit dem Reiche zu einem Großdeutschland zu vereinigen seien. Jeder Nationalsozialist war auf diese Programm verpflichtet, und, da es die Losreißung von Gebietsteilen der Tschechoslowakei vorsah, nach tschechischem Recht ein Hochverräter und wurde als solcher verfolgt.

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