> Werner Brähler: In einem sowjetischen Auffanglager 1945

Werner Brähler: In einem sowjetischen Auffanglager 1945

Dieser Eintrag stammt von Werner Brähler (*1925 ) aus Bendorf-Sayn, März 2010 (Homepage: www.ausmeinerzeit.de):

Nach meiner Gefangennahme durch die Rote Armee Anfang Februar 1945 kam ich östlich von Frankfurt a.d. Oder in ein provisorisches Auffanglager, das in einer Scheune eines Bauernhofes"eingerichtet" worden war. Auf dem großen Platz vor der Scheune wurden wir von deutsch sprechenden Personen - wahrscheinlich Mitglieder des "Nationalkomitees Freies Deutschland" (NKFD) - empfangen. Ich hatte schon bei meinem ersten Fronteinsatz in Russland von dieser Gruppe gehört, welche sich im Juli 1943 - vielfach aus gefangenen deutschen Soldaten und Offizieren, wie auch aus emigrierten Kommunisten - gegründet hatte.

Waren die Reaktionen der Russen bei den Begegnungen mit deutschen Kriegsgefangenen bis dahin mehr spontaner Art, so merkten wir hier sofort, dass nunmehr eine geplante, organisierte deutsche Gründlichkeit sich an uns vollzog. Wie beim Rekrutenappell mussten wir Aufstellung nehmen, unsere verbliebenen Habseligkeiten vor uns ablegen, sämtlich Taschen, Brotbeutel und andere Behältnisse entleeren und ebenfalls ablegen und wurden aufgefordert, versteckten Schmuck, Uhren, Ringe und dergleichen - unter Androhung des Erschießens bei Nichterfüllung - abzugeben. Die Leute, die das im barschen Befehlston forderten, waren alle gut ernährt, gut gekleidet, meistens hatten sie Offiziershosen und Stiefel an, oder trugen russische Uniformen, jedoch ohne Rangabzeichen, hatten Pistolen, mit denen sie herumfuchtelten, um den Ernst ihrer Drohungen zu unterstützen. Sie liefen durch die Reihen der Gefangenen und sahen sich die auf dem Boden ausgebreiteten Sachen an. Alles, was irgendwie noch einen Wert hatte, z.B. ein zweites Paar Socken, doppelte Unterwäsche, Offizierskoppel, Brieftaschen, Geldbörsen u.ä. Dinge, wurden abgenommen. So nahm man mir auch die kurz vorher erstandenen Gebirgsjägerschuhe ab, die ja besonders robust und langlebig waren. Die zu kleinen Schnürschuhe, die ich auch mitgenommen hatte, ließ man mir. Meine Äußerung, dass diese Schuhe mir absolut nicht passen, ignorierte man völlig.

Die Offiziere unserer Kolonne wurden dann in einem separaten Teil der Scheune verbracht, wo bereits andere Offiziere waren, die schon ein paar Tage früher hier eingetroffen waren. Es waren Dienstgrade vom Leutnant bis zum Hauptmann und bis zum Stabszahlmeister. Wir Ankommenden stellten uns vor und fragten nach dem woher, und den Erfahrungen, die sie bisher in dieser Scheune gemacht hatten. Noch am gleichen Abend wurde der Älteste von uns, ein Hauptmann, der schon im 1. Weltkrieg war, abgeholt. Kurz darauf hörten wir Schüsse in unmittelbarer Nähe auf der Rückseite der Scheune. Wir haben diesen Offizier nie wieder gesehen.

Die Versorgung mit Lebensmitteln in diesem Auffanglager war katastrophal und völlig unzureichend. So wurde ein fast leerer Marmeladeneimer, der von den Bewachern hereingereicht wurde, fast zum Hindernislauf unter den von uns getrennten Mannschaftsteilen, den ein ca. 16-17-jähriger Flakhelfer letztlich für sich entschied. Er konnte sich aufgrund seiner Schnelligkeit in den Besitz des Eimers bringen und den Restinhalt gierig mit den Fingern ausleeren. Vorher rauften sich um diesen Eimer etliche Leute. Schon hier, ganz am Anfang der Gefangenschaft, lernte ich, dass der Hunger bei vielen Menschen alle Barrieren der Würde auflöst und zu zügellosem, brutalem Verhalten führt. Jeder Tag brachte dafür neue Beispiele. In meiner unmittelbaren Nähe ging es aber in dieser Hinsicht disziplinierter zu. Wir waren in dem abgetrennten Sektor der Scheune mit sieben Offizieren getrennt von den Mannschaften eingewiesen.

Als Tagesverpflegung erhielten wir drei russische Brote, was einer Gesamtmenge pro Kopf von ca. 450 g entsprach. Dazu gab es ein paar Kannen Wasser am Tage. Warmes Essen wurde hier nicht ausgegeben, da es nur eine Hausküche gab, die von den russischen Wachsoldaten und ihren deutschen Helfern, den Überläufern, Emigranten, Kommunisten, die sich jetzt "Antifaschisten" nannten, genutzt wurde. Hinter der Scheune, auf einer Wiese, die umzäunt war, war der Notdurft-Bereich. Dahinter waren die Wachposten platziert. Der Innenhof dieses Bauernhofes war durch ein großes Tor verschlossen und bewacht. Eine Waschmöglichkeit bestand für uns nicht. Mein dringlichstes Problem waren die nicht passenden, ausgelatschten Schuhe. In mühevoller Weise schnitt ich mit einem Stückchen Blech, was ich in der Scheune gefunden hatte und an einem Kieselstein schärfte, das vordere weiche Leder an den Schuhen ab, so dass meine Zehen genügend Platz hatten, wenngleich sie auch ca. 1 cm über die Schuhsohlen hinausragten. So hatte ich wenigstens meine Füße annähernd geschützt und brauchte nicht mehr barfuss herumzulaufen. Da wir kein Messer besitzen durften - und das auch bei Androhung des Erschießens - war ich froh, mit der scharfen Blechkante zurechtgekommen zu sein.

Zweimal am Tage war Zählappell, wo wir uns im Innenhof aufstellen mussten. In dieser Zeit stöberten die Bewacher unsere Liege- bzw. Schlafplätze nach versteckten Wertsachen durch. Gesucht wurde auch nach Waffen oder waffenähnlichen Gegenständen. Der Besitz eines dicken Knüppels, als Gehhilfe, musste sogar von den verwundeten Gefangenen begründet und verteidigt werden. Die Bewacher hatten wohl Angst oder zumindest Respekt vor uns. Sie wurden schon nervös, wenn ein messerähnlicher Gegenstand gefunden wurde, der keinem Gefangenen persönlich zuzuordnen war. Für das Aufteilen der Brotportionen wurden Messer ausgeliehen, die nach einer viertel Stunde wieder eingesammelt wurden.

Den plötzlichen Wandel vom Soldaten zum Kriegsgefangenen mussten wir erst einmal verkraften. Das geschah auch dadurch, dass wir uns kritisch beobachteten und vor allen Dingen keinerlei Anbiederungen bei den Russen oder ihren deutschen Helfershelfern unternahmen. Wir sprachen darüber miteinander und waren uns einig, dass wir uns soldatisch korrekt verhalten wollten. Eine erhebliche Verunsicherung brachten aber dann plötzlich Verhöre durch die "Antifaschisten". Kurzfristig wurden einzelne Gefangene zum Verhör abgeholt. Einige kamen nach ein paar Stunden wieder, andere kehrten nicht mehr zurück. Was mit ihnen geschah, wussten wir nicht genau, vermuteten aber, dass sie erschossen wurden, weil jeweils in der Dunkelheit an mehreren Abenden, in unmittelbarer Nähe der Scheune geschossen wurde. Wir nahmen an, dass es sich bei diesen Gefangenen um ehemalige SS-Leute handelte, die, das wussten wir schon auf der Kriegsschule, von Anfang an intensiv gesucht wurden. Es war ein "offenes Geheimnis", einige SS-Leute hatten sich kurz vor ihrer Flucht oder Gefangennahme in Wehrmachtsuniform umgekleidet, die sie sich von gefallenen deutschen Soldaten angeeignet hatten. Bei den Verhören mussten die Gefangenen alle ihren Oberkörper frei machen, um zu sehen, ob eine Blutgruppen-Tätowierung unter dem linken Oberarm vorhanden war, wie sie für die Waffen-SS-Leute obligatorisch bei ihrer Einberufung, spätestens jedoch während ihrer Rekrutenausbildung vorgenommen wurde. Diese Tätowierung war ein Ehrenkodex dieser Truppe, hat aber vielen Leuten in russischer Gefangenschaft das Leben gekostet.

Solche Tatbestände hatten wir in der Gefangenschaft nicht erwartet, sie wurden mit großer Bitterkeit zur Kenntnis genommen. Keiner von uns war auf eine solche extreme Situation vorbereitet. Es ist ein erheblicher Unterschied, theoretisch davon zu wissen, und später in der Realität mitzubekommen. Man behandelte die Angehörigen der Waffen-SS wie Schwerverbrecher. Aus meiner eigenen Kenntnis und Beobachtung hatte ich nichts Ehrenrühriges über die Waffen-SS miterlebt. Sie hatten gekämpft, wie wir auch. Zu diesem Zeitpunkt sickerte es aber schon langsam durch, dass in den von uns besetzten Ostgebieten in Russland und anderswo die SS an Massenexekutionen teilgenommen hatten, gemeinsam mit Einsatzkräften der Polizei. Das hörte man auch in Äußerungen der Antifaschisten.

Wir waren verunsichert und konnten eigene Maßstäbe darüber nicht finden. Kann man diesen "Kerlen" Glauben schenken? War das wahr, was sie erzählten, oder war es die schon bekannte, typische kommunistische Agitation? Am dritten Tag in dieser Scheune erhielten wir überraschend zu unserer Brotportion einen Teelöffel Zucker und drei Papirossi (russische Zigaretten mit Hohlmundstück). Die Mannschaften bekamen solche Zuwendungen nicht. Bissige Kommentare waren die Folge. Man hatte wohl geglaubt, dass nun alle Menschen gleich seien, und es keine Privilegien mehr gäbe. Es war uns auch nicht klar, welchem Umstand wir diese Bevorzugung zuzuschreiben hatten? Einige meinten, dass dies auf die "Genfer Konvention" zurückzuführen sei, die auch genaue Verpflegungsvorschriften inkl. Mengenangaben für Kriegsgefangene Soldaten und Offiziere vorschreibt; andere sagten, was ich bisher nicht wusste, dass die Russen sich an ihr eigenes Mehrklassensystem in der Armee orientierten, wo es verschiedene Verpflegungskategorien gibt: Mannschaften, Unteroffiziere, Offiziere, Stabsoffiziere und Generale.

Der Neid über die uns gegebene Extraversorgung war hier hautnah zu spüren, und es kam auch zu einzelnen Aggressionen. Einige Soldaten glaubten, dass sie sich nun in ihrer Haltung uns gegenüber den Antifaschisten anpassen müssten. Sie wurden rüde, unbeherrscht und versuchten sogar einigen von uns, die Rangabzeichen abzureißen. Es entstand ein Handgemenge, worauf ein russische Posten Warnschüsse in die Luft abgab. Ein russischer Offizier erschien mit einem Dolmetscher und drohte mit härtesten Strafen, falls sich solch ein Vorgang wiederholen würde. In unserem abgeteilten Scheunensektor debattierten wir über den Verfall der Disziplin dieser Soldaten. Waren das die deutschen Soldaten, die mit uns gemeinsam den Krieg geführt, die sich uns anvertraut hatten?

Täglich verloren immer mehr Kriegsgefangene die Kontrolle über sich. Wir lernten, dass die Disziplin auch eine Funktion des satten Bauches ist. Nun, wo sich alle bisherigen Verhältnisse umkehrten, gedieh Blindheit, Egoismus und Neid. Für uns war das eine neue Erfahrung. In immer neuen sich ergebenden Situationen lernten wir die Verhaltensweisen von Menschen unter sehr schlechten Lebensumständen kennen. Es lohnte sich beileibe nicht, über die von den Russen angeordnete Bevorzugung überhaupt zu diskutieren. Sie war so geringfügig, dass man zur Tagesordnung hätte übergehen können. Ihr optischer Eindruck jedoch stiftete Unfrieden. Wir baten daher um eine gleiche Behandlung wie sie die Mannschaften erfuhren. Das wurde von einem russischen Offizier, der mit einem deutschen Antifaschisten zu uns kam, abgelehnt. Unser internes Verhältnis zu den mitgefangenen Soldaten wurde dabei nicht besser, obwohl einige Besonnene sich um eine Versachlichung bemühten. Rückblickend kann man sagen, dass in der Masse von Menschen immer wieder ein kleiner Teil - heute würde man von einer Minorität sprechen - versucht, durch extremes Verhalten den anderen, größeren Teil, zu beeindrucken.

Mittlerweile waren hier in der Scheune ca. 300 deutsche Soldaten untergebracht. Täglich wurden neue Gefangene zugeführt und die Enge wurde langsam unerträglich. Auch eine Anzahl von Verwundeten waren hier, die praktisch ohne jede ärztliche Betreuung waren. Sie konnten nicht einmal ihre Wundverbände wechseln bzw. auch nicht waschen.

Eines Morgens mussten wir alle mit unserem dürftigen Gepäck im Innenhof antreten und wurden mit einem großen Aufwand an Bewachung durch russische Soldaten, die mit aufgepflanztem Seitengewehr neben uns her gingen, in Marschkolonne abgeführt, wobei alle Offiziere an der Spitze marschierten. Über unser nächstes Ziel war nichts bekannt. Aber es ging in Richtung Osten.

lo