> Werner Kohler: Kriegsstationen 1944/45

Werner Kohler: Kriegsstationen 1944/45 - Freiburg, Donaueschingen, Gurtweil

Dieser Eintrag stammt von Werner Kohler aus Gundelfingen, Juni 2008:

Es war November 1944, mein Zwillingsbruder war kurz zuvor nach der Nationalsozialistischen Zwillingsforschung (Anatomisches Institut in der Albertstraße Freiburg) verstorben. Die Westfront der alliierten Streitkräfte rückte immer näher. Mein Vater bekam Urlaub von der Front im Osten, um die Familie evakuieren zu helfen. Aber sein Urlauberzug fuhr im Freiburger Bahnhof ein, als wenige Minuten später der schwere Luftangriff auf Freiburg begann (27.11.1944).

Erst Tage später fanden wir unseren Vater schwer verletzt mit vielen anderen Bombenopfern in der Turnseeschule im Flur liegend. Er hatte sein rechtes Bein verloren. Wir waren ausgebombt und verließen Freiburg mit Mutter, zwei Brüdern, ein und drei Jahre' Oma und Tanten und einem überladenen Leiterwagen. Wir fanden Unterschlupf bei Verwandten in Neuhäuser-Kirchzarten. Es war sehr kalt. Mein Vater kam erst nach Tagen mit einem Frontlazarettzug ins Fürstenberglazarett nach Donaueschingen. Dies teilte uns erst Tage später eine Rotkreuzschwester mit. Meine Mutter und ich versuchten am Tag darauf, unter großen Strapazen mit einem Militärzug nach Donaueschingen zu gelangen. Das ging nur nachts, weil die Jagdbomber am Tag auf alles schossen, was sich bewegte.

Der Zustand der Verwundeten im Lazarett war erbärmlich. Es fehlte an Verbandsmaterial, Narkotika und vor allem an Nahrung. Täglich trafen neue Züge von der Front ein mit Verwundeten. Amputationen wurden in den Fluren durchgeführt. Blut und Eiter überall. Wir besuchten den Vater noch einige Mal, vor allem, um ihm Brot, Eier, Wein und organisierten Cognac zu bringen. Jede Fahrt war lebensgefährlich. Oft auf offenen LKWs abseits der Hauptstraßen.

Und nun, so schien es, war der Krieg bald zu Ende. Zwei Tage vor der Besetzung Donaueschingens durch die Französische Armee fanden meine Mutter und ich in der Nacht - es herrschte Schneetreiben und war sehr kalt - noch Platz in einem Truppenzug am Kappler Bahnhof (bei Freiburg).Wir erreichten Donaueschingen. Wir erlebten einen Bombenangriff und hatten fürchterliche Angst. Auch das Lazarett wurde bombardiert. Es herrschte ein unglaubliches Durcheinander. Wir konnten nochmals zu unserem Vater. Der Bahnhof war vollständig zerstört. Es fuhr kein Zug mehr zurück. Meine Mutter und ich saßen fest. Von allen Seiten erwartete man die vorrückenden französischen Truppen.

Am nächsten Spätnachmittag'es war jetzt gegen Ende April, verbreitete sich in Windeseile die Nachricht im Lazarett: "Die Marokkaner kommen!" Angst machte sich breit. Es gingen schlimme Gerüchte um. Die Nazi-Propaganda hatte dafür im Vorfeld gesorgt. Es erfolgte nochmals ein letzter Fliegerangriff. Donaueschingen brannte überall. Die Panzer kommen, hieß es, Gefechtslärm war aus Richtung Bad-Dürrheim zu vernehmen. Aber jetzt begann die Flucht. Alles was einigermaßen laufen konnte, machte sich auf den Weg Richtung West-Südwest nach Hüfingen. Der Chefarzt des Lazaretts flehte meine Mutter an, mit mir das Lazarett doch endlich zu verlassen. Wir mussten unseren Vater zurücklassen. Sein Zustand war bedenklich. Der Arzt und die Schwester hatten uns keine große Hoffnung mehr gemacht. Es war ein schwerer Abschied, vielleicht für immer. Wir weinten.

Zusammen mit einem jungen, frisch operierten Soldaten, verließen wir das Lazarettgebäude. Alles befand sich in Auflösung. Die Heeresverpflegungsstelle wurde für die Bevölkerung freigegeben, bevor alles dem Feind in die Hände fiel. Alles rennet, rettet Käseräder, Mehlsäcke' Brot' Reis' Speck, Zigaretten und Schnaps. Alles wurde von den Menschen abtransportiert - unter großer Gefahr, denn die Jagdbomber schossen auf alles.

Wir hatten nur ein Ziel, die große Brücke über die Bahnlinie noch überqueren zu können. Es brannte überall in der Stadt. Die Brücken waren alle bereits zur Sprengung vorbereitet worden. Wir kamen über die Brücke und auf die weiterführende Strasse nach Hüfingen. Ein Soldat hatte uns auf einen Traktor mit zwei Hängern aufmerksam gemacht, der eiligst von NSKK-Leuten noch mit Kisten und anderen Dingen beladen wurde. Wir durften mit dem Verwundeten auf den Hänger. Es war mittlerweile dunkel. Am Horizont hinter uns Abschussfeuer. Wir waren übermüde, hungrig und durstig und hatten Angst. Der Soldat ebenfalls. Es kamen noch andere Soldaten auf den Hänger.

Endlich setzte sich der Traktor mit seiner schweren Last in Bewegung. Es war ein Fahr-Traktor mit "Holzvergaser". Das Gefährt war hoffnungslos überladen. Wir fuhren Richtung Hüfingen links ab in Richtung Blumberg. Es herrschte überall Chaos. Plötzlich blieb das Gefährt stehen. Die Straße war durch andere Fahrzeuge blockiert. Die Straße war unter Feindeinsicht und lag unter Beschuss. So behaupteten die Soldaten. Also alles runter vom Hänger und zu Fuß weiter. Jeder half jedem. Es war stockfinster, die Straße führte durch ein Waldstück. Eine Elendskolonne im Dunkel. Irgendwie erreichten wir Blumberg. Dort herrschte ein noch größeres Durcheinander. Soldaten aller Heeresgruppen waren in Auflösung und versuchten, irgendwie in die Schweiz zu gelangen. Wir verabschiedeten uns von den Verwundeten, die wir bis hierher begleitet hatten. Eine liebe Rotkreuzschwester kümmerte sich um sie.

Unsere Familie war an diesem letzten Tag mit einem LKW von Kappel bei Freiburg bzw. Neuhäuser-Kirchzarten nach Tiengen-Waldshut-Gurtweil zu unseren dortigen Verwandten ins vermeintlich sicherere Gebiet gekommen. Was für ein Glück. Meine Mutter und ich machten uns zu Fuß auf den Weiterweg .An einem Bauernhaus bekamen wir eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken. Wir setzten unseren beschwerlichen Weg fort. Plötzlich eine barsche Stimme aus dem Dunkel: "Wo kommen Sie her, wo wollen Sie hin"? - "Wir wollen zu unserer Familie"' war die Antwort meiner Mutter. Der Offizier schien noch einen Rest von Soldaten und Volksturmmännern zu befehligen. "Gute Frau, Sie müssen von der Straße' die Panzersperre wird geschlossen. Wir erwarten die feindlichen Panzer von beiden Seiten' auch von Waldshut her. Deshalb erteile ich den Befehl' auch die Sperren weiter westlich zu schließen."

Das waren die Worte des Kommandanten, die mir heute noch in den Ohren klingen. Meine Mutter war verzweifelt. Schließlich fuhr er uns in seinem Kübelwagen bis hinter die nächste Panzersperre. Dort stand ein wieder fahrbereit gemachter unheimlich großer LKW. Dessen Fahrer' ein Soldat' wurde vom Kommandanten aufgefordert, uns mit aus der Gefahrenzone heraus zu nehmen. Meine Mutter und ich konnten sogar im Führerhaus Platz nehmen. Wir fuhren mit bis Tiengen an die Abzweigung ins Schlüchttal.

Es war gegen 3 Uhr morgens, als wir uns zu Fuß nach Gurtweil auf den Weg begaben. Es war alles unheimlich. Am Stromumspannwerk in Tiengen kamen wir in erneute Schwierigkeiten. Feldpolizei ("scharfe Kettenhunde") versperrten uns plötzlich den Weg. Wir wurden total untersucht. Sämtliche Papiere' die meine Mutter bei sich führte' wurden genauestens geprüft. Auch hier erwartete man die Panzer. "Los, machen sie' dass sie zu ihrer Familie kommen!" Mit diesen Worten entließen sie meine Mutter und mich. Mit letzter Kraft kamen wir am Haus unserer Verwandten in Gurtweil an. Alle hatten sich fürchterlich um uns gesorgt. Jetzt lagen wir uns weinend in den Armen. Aber wie erging es wohl unserem Vater im Lazarett, lebte er noch?

Oma mit Tante und meinen beiden kleinen Brüdern waren am Abend noch glücklicherweise mit dem beladenen LKW von Kappel bei Freiburg in Gurtweil angekommen. Jetzt wollten alle erst einmal etwas essen und trinken, dann nichts als schlafen. Wir waren alle übermüdet. Jetzt waren wir zunächst einmal in Sicherheit. Aber auch hier in Gurtweil (Tiengen-Waldshut) war man in großer Sorge. Die Panzer waren gemeldet. Hier in dieser Südwestecke, nahe der Schweizer Grenze, hatte man bisher wenig vom Krieg gespürt. Es war eine ziemlich sichere Ecke. Aber sie kamen' die Panzer der Franzosen, am nächsten Mittag über Schluchsee, Grafenhausen, Uhlingen, Witznau langsam das kurvenreiche Schlüchttal herab. Die Brücke am Gasthaus "Bruckhaus" war zur Sprengung vorbereitet. Die große Panzersperre vor der Brücke blieb offen. Die Sprengung der Brücke wurde in letzter Minute verhindert. Die Jagdbomber (Jabos) waren am Himmel, aber sie griffen nicht mehr ein.

Der erste Panzer, der erschien' war auf dem Turm mit einer großen orangen Plane als Führungspanzer für die Flugzeuge markiert Es gab keinen Widerstand. Die wenigen Soldaten hatten sich zurückgezogen. Die Bevölkerung war aufgefordert worden, weiße Tücher an den Häusern anzubringen. Dies bedeutete: Wir ergeben uns und leisten keinen Widerstand. Wir waren alle nervös und angespannt. Was wird nun werden? Was machen die Franzosen und vor allem was machen die Marokkaner mit uns? Langsam kam die Kolonne, bestehend aus Panzer, Halbkettenfahrzeuge, LKWs, Jeeps' Verpflegungs- und Funkfahrzeugen, auf den Vorplatz am Ortseingang vor dem Gasthaus "Bruckhaus". Jetzt waren sie da' die Befreier, die Sieger. Es lief Gott sei Dank alles sehr ruhig ab. Die französischen Soldaten lachten auf ihren Fahrzeugen den Leuten entgegen, die sich vorsichtig nach draußen gewagt hatten. Auch die Mädchen und Buben'darunter ich, getrauten sich an die fremden Militärfahrzeuge heran.

Es war ein eigenartiges Gefühl. Auf den Wagen saßen auch Marokkaner. Sie versuchten, vor allem zu den Kindern Kontakt herzustellen und verteilten Schokolade. Aber da war die fremde Sprache. Es gab aber jemanden aus der Gemeinde, der die französische Sprache beherrschte und das Dorf praktisch an den Offizier der Kolonne zunächst einmal übergab. Während die Soldaten rauchten und lachten und wahrscheinlich auch froh darüber waren, dass es zu keinen Kampfhandlungen gekommen ist' machten sich die Dorfbuben - und da war ich auch dabei - über den Verpflegungswagen her, der etwas abseits abgestellt war. Alle füllten sich die Taschen mit Käsedosen' Butter, Marmelade, Zucker, Milchpulver. Alles war in so genannten Frontverpflegungspaketen verpackt. Zigarren und Zigaretten waren zu Hunderten lose in einer Holzkiste. Hier bedienten sich alle recht kräftig. Ich hatte mir vorne ins offene Hemd alles reingepackt und rannte heim, stolz über die wertvollen Errungenschaften. Die Rauchwaren sollten unserer Familie noch gute Dienste als "Tauschware" leisten. Für Zigaretten und Schnaps konnte man später in der kommenden großen "Not -und Hungerszeit" so ziemlich alles haben.

Nachdem für das französische Vorauskommando alles gesichert schien, sich niemand gegen die Besatzer wehrte, machte sich ein Teil der Truppe auf den Weg zum Rathaus. Auf dem Weg dorthin - wir "mutigen" Buben hatten unsere Beutegut längst daheim in Sicherheit gebracht - begleiteten wir die französischen Fahrzeuge.

Und es kam doch noch zu einem Zwischenfall. Aus dem oberen Stockwerk des Schulhauses wurde kochendes Wasser auf die Soldaten geschüttet. So hatten es die Nazis als letzte Verteidigung verlangt - als so genannte "Werwolftaktik". Die Kolonne stoppte und mehrere bewaffnete Soldaten stürmten in das Haus und brachten die fanatische Lehrerin und ihre Eltern mit erhobenen Händen auf die Straße. Sie wurden ins Waschhaus gesperrt' streng bewacht und am nächsten Tag abtransportiert. Die Verwaltung wurde provisorisch von der französischen Armee übernommen. Es erging am nächsten Tag die Aufforderung an die deutsche Bevölkerung, sofort sämtliche Waffen, Radios und Fotoapparate auf dem Rathaus abzugeben. Ab sofort durfte ab abends 19 Uhr niemand mehr das Haus verlassen, das bedeutete absolutes Ausgangsverbot. Ortsgruppenleiter und Bauernführer wurden verhaftet und abgeführt. Man konnte ihnen als so genannten Naziführer nichts nachweisen und nach Tagen kehrten sie heim.

Die nächsten Tage vergingen recht ruhig. Grund dafür war sicherlich auch die Nähe der Schweiz. Diese hatte ihre Grenzen dicht gemacht und entlang des Rheins große beleuchtete Bundesfahnen ausgelegt. In den folgenden Wochen wurde auf deutscher Seite noch ein doppelter, vier Meter hoher Stacheldrahtzaun errichtet. Die Übergänge und Straßendurchfahrten wurden mit Schlagbäumen besetzt und von den Franzosen strengstens bewacht. Ohne einen" Laissez passer"-Schein konnte niemand in diese Sicherheitszone. Das ärgerte die jungen Dorfburschen, weil der Schienenstrang einer stillgelegten Feldbahn abgeschnitten wurde. Also beschloss man, gegen "die Franzosen" etwas zu unternehmen. Die Burschen beluden tags darauf einen der zwei Lorewagen mit Steinen und ließen diesen am Abend mit Schwung hinab rauschen. Die Lore durchbrach diesen verhassten "Zaun" auf einer Breite von mehreren Metern. Keiner hatte etwas beobachtet und schon gar nicht gesehen. Keiner erzählte davon. Der Kommandant ließ einen Aushang am Rathaus platzieren und sprach von Sabotage.

Es kehrte wieder Ruhe ein. Die Bauern mussten ihre Felder bestellen. Wir hatten zu essen' es gab noch keinen Schulunterricht. Aber die Väter und Söhne waren noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Was war mit ihnen passiert? Lebten sie noch? Wir bangten um unseren Vater. Was war im Lazarett zwischenzeitlich passiert? Es vergingen noch Wochen, bis eines Tages die Nachricht vom Roten Kreuz über Freiburg ' Neuhäuser, Kirchzarten auf Umwegen bei uns in Gurtweil eintraf. Unser Vater war noch am Leben. Das Lazarett war von den französischen Truppen besetzt worden. Mein Vater galt als Kriegsgefangener trotz seines verlorenen Beins. Wir waren überglücklich.

Meine Mutter und die Verwanden setzten daraufhin alle Hebel in Bewegung, um irgend eine Mitfahrgelegenheit bei der Fahrbereitschaft in Waldshut zu finden. Wir hatten Glück. Es war ein Sammeltransport für Polen'Russen und andere nach Donaueschingen geplant. Tage später konnten meine Mutter und ich an einem vereinbarten Ort im Dorf auf die offene Pritsche des LKWs steigen. Die ehemaligen Zwangsarbeiter machten uns auf dem LKW nur widerwillig Platz. Jetzt halfen ein paar der "organisierten" Zigarren und Zigaretten.

Es wurde eine abenteuerliche und gefährliche Fahrt. Sie führte über Tiengen, Lauchringen, Fützen, Weizen, Blumberg nach Donaueschingen. Auf der Strecke Fützen-Weizen musste es zu Kampfhandlungen gekommen sein. Überall links und rechts der Straße lagen zerstörte und ausgebrannte Militärfahrzeuge, sowohl deutsche wie französische. Ausgebrannte Bauernhäuser an der Straße. Was war passiert? Von Kampfhandlungen in den letzen Tagen vor der Besetzung war nichts bekannt geworden. Erst später erfuhren wir' dass eine deutsche fanatische Einheit (vielleicht SS?) gut ausgerüstet sich im Hinterhalt verborgen hielt und erst losschlug, als die Besatzer sich sicher gefühlt hatten. Der Ort war wie ausgestorben, die Bevölkerung war evakuiert worden. Von Übergriffen der Franzosen war zu hören.

Die Fahrt auf der Pritsche, meine Mutter und ich gefährlich auf dem Pritschenladeschild sitzend, ging nur langsam weiter. Erstens, weil der LKW auch einen Holzvergaser besaß und immer wieder Holz nachgefüllt werden musste, und zweitens, weil die Straße durch die Kampfhandlungen beschädigt war. Es war kalt und wir saßen alle wetterungeschützt auf der Pritsche. Erst abends erreichten wir Donaueschingen, wurden in der Nähe der Kasernen "abgeladen" und in einer Halle mit den Fremdarbeitern untergebracht. Versehentlich' so glaubte meine Mutter. Aber wir gehörten zu dem Transport und durften das Lager nicht verlassen. Ich weinte und hatte schreckliche Angst. Eine alte Polin hatten Mitleid mit mir und gab mir ein Stück weißes Franzosenbrot, welches ich mit meiner Mutter teilte. Wir besaßen keine Transportpapiere und mussten die Nacht im Lager bleiben. Zum Schlafen gab es keinen Platz.

Erst am darauf folgenden Morgen entließ uns der Lagerleiter. Wir waren froh und suchten eiligst den Weg ins Fürstenberglazarett zu unserem Vater. Wir waren schockiert, ein Teil des Lazaretts war zerstört und wir getrauten uns kaum weiter, wir hielten uns ganz fest, meine Mutter und ich. Am großen, schmiedeisernen Tor hing über offenem Feuer ein geschlachteter Ochse. Drum herum eine Menge gestikulierender Algerier mit ihren Turbanen und ihren langen grob gewobenen Umhängen. Wir erhielten keinen Zutritt ins Lazarett. Der wachhabende französische Offizier war jedoch bereit, meinem Vater wenigstens eine Nachricht und ein Lebenszeichen von uns allen zu überbringen. Wir versuchten in der Nähe des fürstlichen Schlosses am Park privat eine Unterkunft zu finden. Wir hatten Glück, bei einer Frau mit Kind, deren Mann gefallen war, schlafen zu dürfen. Die Frau empfand Mitleid mit uns. Wir bekamen zu essen und zu trinken. Die Frau umsorgte uns liebevoll und hatte für unseren Vater Milch, Brot und etwas Honig besorgt.

Am Morgen versuchten wir erneut, ins Lazarett zu kommen. Wir erhielten wieder keinen Zutritt und waren enttäuscht - nach all den Strapazen' die meine Mutter und ich durchgemacht hatten. Aber durch Vermittlung der Kommandantur durfte der deutsche Chefarzt wenigstens ans Außentor kommen und die Lebensmittel nach strenger Kontrolle für meinen Vater in Empfang nehmen. Von ihm erfuhren wir' dass es meinem Vater den Umständen entsprechend gut geht. Aber alle Insassen des Lazaretts galten als Kriegsgefangene.

Auf erneut beschwerlichem Weg kehrten wir mit Milchwagen, Pferdefuhrwerk, z.T. mit Arbeiterbus und zu Fuß nach Gurtweil (Tiengen-Waldshut) zurück. Die Entlassung und jämmerliche Heimführung meines Vaters erfolgte dann erst nach Wochen. Erbärmlich, armselig bekleidet, in einem mit Kissen und alten Militärdecken gepolsterten geliehenen Leiterwagen oder besser Wägelchen transportierten meine Mutter und ich meinen Vater auf dem fast gleichen Weg, den wir mühsam gekommen waren, nach Gurtweil zurück. Streckenweise sogar mit der Kleinbahn, die nicht regelmäßig verkehrte, mit dem Milchauto und zu allerletzt auf einem Heuwagen.

Schwierig gestaltete sich der Transport in der Drei-Kilometer-Zone am Rhein entlang. Die Durchgänge waren mit Schlagbäumen versehen, die von jungen Franzosen besetzt waren.Wir, mit unserem Vater im Wägelchen' wurden immer wieder erneut kontrolliert. Nach der letzten Kontrolle besaßen wir so gut wie nichts mehr von unseren Habseligkeiten. Die Taschenuhr, das Geld, die Wolldecken und vor allem die Briefe der Lazarettkameraden meines Vaters, die er versprochen hatte, an die Angehörigen weiter zuleiten, hatten sie uns abgenommen.

Meines Vaters Entlassungsschein lautete auf die im Wehrpass eingetragene Heimatadresse von Freiburg. Mit diesem kamen wir auf gar keinen Fall mehr aus der Sicherheitszone heraus. Meine Mutter verfrachtete mit Hilfe von Bauern, die auf dem Acker waren, meinen Vater auf einen hochbeladenen Heuwagen und so gelang uns, ich weiß nicht mehr genau wie, die letzte Sperre zu nehmen. Unweit des letzten Hindernisses hievte meine Mutter mit den Bauern zusammen meinen Vater wieder vom Heuwagen und setzten ihn zum Weitertransport in den Leiterwagen. Jetzt hatte er starke Stumpf-Wundschmerzen. Es waren nur noch wenige Kilometer zu unserer Familie und unseren Verwandten. Es gab ein freudiges, aber auch trauriges Wiedersehen.

Der schlimme Krieg war zu Ende, und wir lebten noch. Zunächst waren wir alle gut versorgt, hatten zu essen und ein Dach über dem Kopf. Dennoch wollten wir mit unserem Vater und der restlichen Familie sobald als möglich heim nach Freiburg.

Diese Geschichte habe ich vor allem im Gedenken an meine lieben Eltern niedergeschrieben.

lo