> Werner Mork: Begegnung mit einem Rotarmisten 1945

Werner Mork: Begegnung mit einem Rotarmisten 1945

Dieser Eintrag stammt von Werner Mork (*1921) aus Kronach, Februar 2010:

Im Februar 1945 war ich als Soldat in der Nähe von Glogau an der Oder eingesetzt und erlebte dort den Vormarsch der Roten Armee. Meine Einheit wurde aus der bisherigen Reservestellung in eine Frontstellung verlegt. Beim Einrücken in diese "Stellung", die nur ein Abschnitt in der Frontlinie war, wurde uns bekannt gegeben, dass am nächsten Morgen um 5 Uhr ein Gegenstoß gegen die Rote Armee unternommen werde, bei dem wir Soldaten unsere Pflicht bedingungslos zu erfüllen hätten. Dabei wurde ein entsprechender Tagesbefehl vom als "Bluthund" bekannten General Ferdinand Schörner verlesen, der uns besonders deutlich klar machte, was er von unserer bedingungslosen Pflichterfüllung hielt. Dabei vergaß Schörner nicht, auch die Standgerichte "gebührend" zu erwähnen.

Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass bei diesem Gegenstoß keine Gefangenen zu machen seien. Die könne man nicht mehr nach "hinten" schaffen, dazu gäbe es derzeit keine Möglichkeiten mehr. Bei den uns gegenüberliegenden russischen und nun auch polnischen Einheiten sei es so, dass tote Russen und tote Polen die besseren Menschen seien, Lebende könne man nicht mehr gebrauchen, wie der zuständige Kompanieführer noch hinzufügte. Damit war ja alles klar, alles gesagt, wir brauchten nur noch einen erfolgreichen Gegenstoß zu unternehmen, mehr nicht!

Wir Grenadiere, wie die Infanteristen seit geraumer Zeit genannt wurden, wurden nun für den Gegenstoß bestens ausgestattet. Es wurde ausreichend Gewehr-Munition ausgeteilt, vor allem aber jede Menge an Handgranaten, Stielhandgrananten und die lieben, kleinen, niedlichen Eierhandgranaten. Die erfahreneren Landser steckten die Stielhandgranaten in die Knobelbecher, soweit sie noch solche besaßen, sonst wurden sie einfach ins Koppel gesteckt. Die Eierhandgranaten wurden am Koppel eingehängt, der verbleibende Rest kam in die Taschen der Uniform. So waren wir wirklich nun doch hervorragend ausgestattet mit Mordwaffen in großer Anzahl. Wir waren so richtig schön vollgepackt mit Explosivkörpern, um damit Tod und Verderben in die feindlichen Linien zu bringen, wenn wir denn dazu kommen würden, so von Angesicht zu Angesicht. Nur fühlten sich nicht alle wohl bei diesem "Behängtsein" mit solch gefährlichen Dingern am Körper. Auch mir war sehr unbehaglich zu Mute, mit all dem gefährlichen Zeugs, das auch ich an mir und mit mir schleppen sollte, am anderen Morgen um 5 Uhr. Dazu kam, dass ich doch noch nie einen Angriff mitgemacht hatte, davon verstand ich nichts, aber das zählte nicht mehr. Wichtig war nur, das Landser vorhanden waren, die angreifen würden, weil sie angreifen mussten, egal was und wie viel sie davon verstanden oder auch nicht.

Am nächsten Morgen setzte dann noch vor 5 Uhr eine für uns unerwartet starke eigene Artillerie-Unterstützung ein und dazu auch das Feuer eigener, schwerer Granatwerfer. Solch eine Feuerwalze war für uns überraschend, wir wussten gar nicht, dass es noch so viele schwere Waffen gab. Der Einheitsführer hatte vor Angriffsbeginn Einzelheiten über das zu erreichende Ziel des Angriffs bekannt gegeben. Auf einer breiten Front sollte der Gegenstoß zu einer Frontbegradigung führen und die russischen Garde-Einheiten, die uns gegenüber lagen, sollten dabei möglichst weit zurückgeschlagen werden. Es sollte und musste mit allen Mitteln erreicht werden, den "Iwan" hier zumindest zum Stehen zu bringen, wenn nicht zum Zurückweichen. Daher auch der massive Einsatz so vieler schwerer Waffen. Als diese dann ihr Feuer vorverlegten, kam das Signal zum Angriff der Grenadiere auf die russischen Stellungen, die sich in einem Waldgelände uns gegenüber befanden. Zwischen der eigenen Ausgangsstellung und der gegnerischen gab es ein großes, völlig freies Wiesengelände, das nun überwunden werden musste.

Bei dem "Gang" über die Wiese in den Wald fühlte ich mich ziemlich unwohl, weil ich mich auch sehr alleine fühlte. Den direkten Anschluss hatte ich wohl etwas verpasst, der Kompanietrupp war irgendwo im Gelände. Mit dem Karabiner in der Hand ging ich weiter in die Richtung, die meine Kompanie eingeschlagen hatte, was daran erkennbar war, das ab und zu einzelne Männer, deutsche Soldaten links und rechts von mir zu sehen waren.

Plötzlich sah ich etwas völlig Überraschendes. Ich stand mit einem Mal vor dem Eingang einer Stellung, die in dem Waldboden eingegraben war und aus der völlig unvermittelt ein russischer Soldat auftauchte. Ein Soldat mit einer Maschinenpistole im Anschlag. Ich war ganz schön erschrocken bei diesem Anblick, aber auch mein Gegenüber war nicht nur überrascht, sondern auch ziemlich erschrocken bei meinem Anblick. Beide hatten wir das gleich ungute Gefühl, dass es gleich knallen wird und einer von uns dann wohl draufgehen würde. Es fragte sich nur, wer der erste sein wird der anfängt zu schießen. Beide, die wir uns da gegenüberstanden, waren noch junge Kerle, und beide hatten wir sicher auch die gleiche Angst, aber auch Angst kann schlimme Folgen haben. Beide waren wir allein auf weiter Flur, bei beiden war es vielleicht die gleiche Situation, den Anschluss an den eigenen Haufen verloren zu haben. Und bei beiden war es wohl so, dass wir nicht die Absicht hatten, nun den "tapferen Helden" zu spielen.

Es vergingen einige bange Augenblicke, in denen wir beide unsere entsicherten Waffen in den Händen hielten, und die hätten schnell losgehen können. Ich war es dann, der den Ausschlag gab, nicht zu schießen. Ich senkte meinen Karabiner mit dem Lauf zum Erdboden hin, gab damit dem Russen zu verstehen, dass ich nicht schießen würde und machte ein Handzeichen, mit dem ich andeutete, dass er schnell verschwinden solle. Da geschah etwas sehr anrührendes: das Gesicht des Russen, das vor Angst genau so verzerrt war wie meines, entspannte sich, es kam ein leichtes Lächeln zum Vorschein. Aus seinem Mund kam ein Laut, der sich wie "Madka" anhörte, was sicher Mutter heißen sollte, und dazu die Worte: "nix schießen!" Daraufhin sagte ich auch mit einem leichten Lächeln: "nix schießen!" Der junge Russe nahm nun seine Pelzmütze ab, grüßte mich damit, den deutschen Soldaten, und verschwand dahin, wo er seine Kameraden vermutete. Nur seine Maschinenpistole nahm er nicht mit. Die legte er vor mir auf dem Boden ab und deutete damit an, dass er auch nicht schießen würde, wenn er von mir entfernt sei. Diese Waffe habe ich dann aufgehoben und sie eine Weile behalten, bis mir der Besitz einer Beutewaffe zu heiß wurde.

War das, was da geschehen war, nun etwas Besonderes? Oder war das nur der Ausdruck einer beiderseitigen Feigheit? Im Sinne der Soldatengesetze wäre es sicher als Feigheit ausgelegt worden, auf beiden Seiten. Und dem einem wie dem anderen wäre es übel bekommen, wenn das Verhalten bemerkt worden wäre. Aber geschehen war ganz einfach nur, dass sich zwei Menschen gegenüberstanden, die sich nicht gegenseitig umbringen wollten. Und das war doch wohl etwas Besonderes, so meine ich. Wir hatten voreinander Respekt und Achtung bewiesen, Achtung vor dem Leben des anderen. Wer das als Feigheit auslegen will, soll es tun, für mich war das der Ausdruck einer Menschlichkeit mitten im Krieg. Dass wir beide Angst hatten, war ein doch sehr menschliches Verhalten, und ich meine, dass wir beide uns deswegen nicht zu schämen hatten. Ich bin jedenfalls stolzer auf dieses Verhalten, als auf die Erfüllung sinnloser Befehle. Und ich bin nach wie vor sehr stolz darauf, dass ich niemals einen Menschen getötet habe, dass ich kein Menschenleben ausgelöscht oder "nur" verwundet habe. Ich konnte später nicht mit solchen "Heldentaten" prahlen, wie es nach dem Krieg immer wieder geschehen ist. Ich habe keinen Menschen auf dem Gewissen.


  • Werner Mork: Drohendes Standgericht 1945

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