> Willi Witte: Hitler-Jugend und Kriegserlebnisse in Sylt

Willi Witte: Hitler-Jugend und Kriegserlebnisse in Sylt

Dieser Eintrag stammt von Willi Witte (*1928) aus Westerland/Sylt, April 2001

Ich wurde am 19. Juni 1928 in der Paulstrasse in Westerland geboren. Es war eigentlich eine sehr ruhige Strasse. Meine erste Bekanntschaft mit den Nationalsozialisten machte ich als Kind von ca. 5 Jahren, als ich abrupt von meiner Mutter von der Strasse geholt wurde. Denn es kam ein LKW mit laut grölenden und singenden Männer die Strasse Richtung Neue Strasse hochgefahren. Diese waren SA Leute (Schlägertruppe), wie ich durch Erwachsenengespräche erfahren konnte. Diese Leute sollen auch in der Neuen Strasse von jüdischen Bewohnern Betten usw. rausgeschmissen haben. Habe da aber nur eine schwache Erinnerung davon. Aber dieses Rollkommando habe ich wie heute noch in der Erinnerung. War wohl der Schreck oder die Angst als Kind. Weitere Entwicklungen bekam ich als Kind auch nicht mit.

Vater und Mutter hatten meistens Arbeit, und so ging es uns auch wirtschaftlich entsprechend gut. Politisch war keiner von den beiden besonders interessiert. Später zogen wir in die Bismarkstrasse, von da aus in ein mit Eigenleistung gebautes Doppelthaus in die Deckerstrasse. Als ich ca. neun Jahre alt war, kam ich in die DJ (Deutsches Jungfolk). Zuerst war dieses mehr freiwillig und brachte sogar Spass. Wir hatten uns im Süden von Westerland in einem ehemaligen Bunker aus dem ersten Weltkrieg eine Art Heim eingerichtet.

Das ganze war mehr so richtig nach Pfadfinderart gehandhabt. Etwas später, ca. 1938 - 39 kam dann immer mehr Zwang hinein. Ich erschien immer in Zivil zum Dienst. Denn ich bekam und bekam von Zuhause einfach kein Braunhemd mit Schlips und Knoten gekauft (Geld war auch knapp). Aber man konnte zum Aussenseiter werden, wenn man da nicht mitmachte. Das wollte ich zu der Zeit auch nicht. Denn zu alternativen Denken wurden wir nicht erzogen. So bekam ich dann eines Tages von meiner Grossmutter das gewünschte Hemd (Fünf Reichsmark zu der Zeit). Mittlerweile hatte uns die DJ so im Griff mit Mittwochs und Sonntagsdienst. Laufend Sport usw. Und immer im militärischen Stil. Auch die Schleiferei gefiel mir in dem Stil nicht.

Aber andererseits waren wir in diese Entwicklung reingewachsen und fanden uns damit ab. Ich fehlte schon mal beim Sonntagsdienst. Auch schon mal dreimal hintereinander. Das hiess zu der Zeit eigentlich: Wochenend - Jugendarrest Flensburg. Zuerst musste ich, wenn ich dreimal hintereinander gefehlt hatte, zur Kripo. Da wurde ich dann zusammengestaucht. Der Kripo-

Beamte (Konrad) hatte es aber irgendwie immer unter den Tisch fallen lassen und deshalb brauchte ich nie zum Jugendarrest. Da gab es wohl nichts zu lachen. Ich machte dann auch einigermassen weiter mit. Die Eltern hatten zu der Zeit auch überhaupt keinen Einfluss auf diese Dinge. So kam dann, wie wohl für viele voraussehbar, der 1.September 1939 mit dem Kriegsanfang. Wir waren, kann ich mich erinnern, zu der Zeit gerade am Strand. Ich dachte, hoffentlich kommen wir noch heil nach Hause bevor geschossen wird. Als Kind hatte man eben noch keine Vorstellung vom Krieg.

Am Strand hat sich die Nachricht vom Kriegsanfang wie ein Lauffeuer verbreitet. Es war auch schon viel Militär zu dem Zeitpunkt auf der Insel. Trotzdem lief der Kurbetrieb normal ungestört mit Kurkonzert usw. weiter. Ab und zu hatten wir Besuch von meinem Onkel (Bruder meines Vaters). Der war zu der Zeit Offizier im Heer. Von Hitler hielt er aber nicht viel. Sein Eid als Soldat war ihm heilig. Das wusste ich zu der Zeit auch noch nicht. Hätte ich wahrscheinlich vom Alter her auch nicht begriffen. Wenn es darüber Gespräche der Erwachsenen gab, passten sie sowieso auf, dass wir Kinder nichts mitbekamen.

Es gab auch einiges Kurioses zu erzählen. Zum Beispiel, gab es im Soldatenheim einen Feiertag, wo SA, HJ und alles, was es sonst noch gab, aufmarschiert war. Dann hiess es:

"Präsentiert die Flaggen!"

Da war H.W. wohl zu übereifrig und stiess den Flaggenmast mit der Spitze so fest in den Holzbalken, unter dem er mit seiner Gruppe stand, dass er diesen nur mit Mühe wieder herausbekam. Das sah so lustig aus, dass ich grinsen musste. Dabei wurde ich erwischt und musste nach der Feier strafexerzieren (bin geschliffen worden).

An etwas ähnliches kann ich mich noch erinnern. Inzwischen war ich von der HJ (Hitlerjugend) über nommen worden. Es war ein grösserer Aufmarsch an dem Tag von HJ und DJ. Wir marschierten vom Bahnhof Westerland los und wurden von einem grösseren Musikzug angeführt. Ganz vorne an der Spitze lief der Tambourmajor H.Br. (Sehr eifrig in seinem Amt). Wir sollten laut Marschbefehl hinter dem Hotel "Deutscher Kaiser" (heute Kaisers Kaffee Geschäft) rechts in Richtung Norden (Rathaus) abbiegen. Was wir einschliesslich Musikzug auch taten ! Nur der Tambourmajor hatte wohl nicht richtig zuge- hört. Dieser marschierte statt nach rechts, alleine gerade- aus die Friedrichstrasse hoch. Irgendwann hat er es dann auch gemerkt Lustig war auch dieses, nur gelacht haben wir erst später darüber !

Unser Vater wurde gleich am Anfang des Krieges eingezogen. Es hat sehr viel Tränen beim Abschied gegeben. Wir sind drei Geschwister. Wenn mein Vater auf Urlaub war, sagte er immer zu mir: "Wenn du dich freiwillig zum Militär meldest, fliegst du Zuhause raus!"

Solche Bemerkungen haben damals schon gereicht, um ins KZ (Konzentrationslager) zu kommen. Die Soldaten, die fern der Heimat waren, wussten auch nicht, was so in der Heimat politisch vor sich ging. Ich hatte schon als 15jähriger meinen Wehrpass als Kriegsfreiwilliger. Wir wurden so darauf gedrillt, uns freiwillig zu melden, dass uns gar nichts anderes übrig blieb.

Was es hiess Frontsoldat zu sein, mit all seinen grausamen Erlebnissen, sollte ich später auch noch erfahren.

Zwei, eigentlich drei Begegnungen, mit Hermann Göring hatte ich auch. Ich mag etwa zwölf Jahre alt gewesen sein. Wir waren mit mehreren Kindern in der Nähe vom Hotel "Miramar". Da hiess es: Hermann Göring kommt zum Strand und wird hier am Strandübergang Friedrichstrasse aussteigen. Wir waren natürlich neugierig und wollten ihn sehen. Er kam dann auch mit einem Wagen vorgefahren. Ich stand ziemlich vorne und wurde soweit von der Menge zum Wagen geschoben, dass Hermann Göring fast die Wagentür nicht mehr aufbekam.

Alles schrie: "Sieg heil !" Ich selber war nie für lauten Jubel. Das hatte zu der Zeit nichts mehr damit zu tun, dass ich vielleicht ein Gegner, oder Ähnliches, dieser Leute war. Ich war, wie alle anderen in meinem Alter auch, in diese Entwicklung reingewachsen und fand diese Welt, wie sie war, absolut in Ordnung.

Meine zweite Begegnung mit Hermann Göring war in Berechtesgaden. Dort war ich für ca. neun Monate am Königssee mit der KLV (Kinderlandverschickung). Dieses war mit Schuldienst verbunden, und natürlich gab es auch jede Menge HJ-Dienst. Eines Tages, wir hatten Freigang, ich war am Bahnhof von Berechtesgaden und stand an so einer Art Zeitungsstand in der grossen Bahnhofshalle. Mit einem Mal sah ich, ich dachte ich gucke nicht richtig, Hermann Göring eilig und grossen Schrittes die Bahnhofshalle durchqueren. Es war noch ein Bayer in der Halle. Dieser rief laut: "Sieg Heil", als er Hermann Göring sah. Wenn einer in so einer grossen Halle "Sieg Heil" ruft, klingt das doch recht komisch. Göring war auf dem Weg zum Obersalzberg. Den Obersalzberg bekamen wir aber während unseres KLV Aufenthaltes nie näher zu sehen.

Wieder zuhause ging es mit der Schule, HJ-Dienst usw. wie gehabt weiter. Meine Mutter hatte einmal ein besonderes aufregendes und gefährliches Erlebnis in der oberen Friedrichstrasse. Ein groes Flugzeug, eine HE 111 oder ähnliches, hatte versucht am Strand notzulanden. Dabei flog es dicht über die Dächer der Friedrichstrasse hinweg und streifte dabei mit einem Flügel das Hotel "Miramar". Das Flugzeug ist dann ins Wasser abgestürzt. Die Mannschaft ist dabei ums Leben gekommen.

Was noch erwähnenswert ist: Die in den ersten Kriegsjahren angeschwemmten englischen Seeleute und Piloten wurden mit Ehrensalven beigesetzt. Dieses war für uns Kinder natürlich interessant, da wir unter anderem die leeren Patronenhülsen sammeln konnten. Der Ehrensalut wurde von Luftwaffensoldaten gefeuert. Später, als man anfing die Städte zu bombardieren, hörte diese Art von Beisetzungen auch auf.

Noch ein erwähnenswertes Erlebnis hatte ich in der Nähe der Hauptwache zum Fliegerhorst. Diese war unmittelbar am heutigen, nördlichen Friedhofseingang. Wir hatten da in der Nähe auch unser Elternhaus. Mein Vater hatte gerade seinen Fronturlaub. Er lag zu der Zeit mit seiner Einheit vor Leningrad. Wir spielten in der Nähe der Flugplatzwache. Da kam ein HJ-Führer mit ein paar Mädchen des Weges. Weil ich ihn nicht grüsste, rief er mich zu sich. Er hat mich dann so richtig runtergeputzt. So etwas musste man erlebt haben !

Die Vorgehensweise lässt sich nicht überliefern. Ich ging nach Hause und erzählte diesen Vorfall meinem Vater. Zufällig kam auch noch dieser HJ-Führer mit den Mädchen an unserem Haus vorbei. Mein Vater bekam so einen Wutanfall und stürzte auf diesen, nicht Gegrüssten zu, dass ich dachte, den prügelt er wohl durch. Aber zum Glück, für meinen Vater, tat er dies nicht, sondern schimpfte ihn, im wahrsten Sinne des Wortes, so richtig aus. Er wäre ein "Rotzbengel" usw.

Hätte dieser HJ-Führer meinen Vater angezeigt, hätte es für ihn bös aussehen können, obwohl er Frontsoldat war. Aber gerade weil er an der Front so viel gesehen hatte und nun dieses Zuhause erleben musste, war er wohl so erbost. Mein Vater hatte allerdings ein gestörtes Verhältnis zu Uniformträgern und zum Militär überhaupt. Deshalb wurde er wohl auch nur Gefreiter. Sein Bruder dagegen war Oberstleutnant, wurde später Oberst. Die beiden trafen sich durch grossen Zufall vor Leningrad. Sie hatten sich schon lange Zeit nicht mehr gesehen. Das war ein Treffen, der "Vollblutsoldat" und der "Musssoldat"!

Der Vater der beiden Brüder (mein Grossvater) wohnte in einem kleinen Dorf bei Flensburg. Er war ebenfalls ein grosser Hitlergegner. Dies ist mir zu der Zeit alles nicht besonders aufgefallen. Denn man musste doch sehr vorsichtig sein. Mein Grossvater liess aber doch hier und da mal eine entsprechende Bemerkung los. Das begriff ich auch erst später.

Denn für mich, wie schon erwähnt, war die Welt, wie ich sie erlebte, in Ordnung.

Ein ins sehr nahestehendes älteres Ehepaar auf dem Festland, (er war Frührentner) bekam vom Winterhilfswerk einige Kleidungsstücke geliefert. Da war eine Jacke dabei, mit einem ganz deutlichen Einschussloch drin. Natürlich weigerte er sich diese Jacke anzunehmen, (wohl auch mit unpassender Bemerkung). Darauf hatte er dann auch Gestapobesuch! Aber er hatte Glück. Es passierte nichts weiter. Inzwischen wurden die Bombenangriffe auf unsere Grossstädte intensiver. Wir auf Sylt wurden aber verschont. Ausser mal ein Notabwurf. Einmal hatten wir, wie ich mich erinnere, zwei Luftminen als Blindgänger in Westerland. Eine war in der Feldstrasse im Garten von Walter Lange runtergegangen und guckte über einen Meter aus der Erde. Ich bin morgens auf dem Weg zur Arbeit daran vorbeigegangen. Warum da nicht abgesperrt war, weiss ich auch nicht mehr. Die andere Luftmine war in dem heutigen Westhedig runtergegangen. Zu der Zeit war ein Bauernhaus (Friesenhaus) auf dem Grundstück. Dieser Blindgänger war tiefer in den Boden gedrungen. Zur Bergung dieser Luftminen hatte man KZ Häftlinge herangezogen. Es hat wohl Schwierigkeiten bei der Bergung gegeben, da diese immer tiefer absackte. Die Bergung glückte aber später ohne Verletzte.

An die Postboten der damaligen Zeit möchte ich erinnern. Diese hatten nämlich nicht immer leichte Aufgaben zu erfüllen. Wenn Briefe (Feldpostbriefe) vom Mann oder Sohn zu überbringen waren, war das gewiss eine freudige Angelegenheit. Die Postboten waren meistens weiblich und zu diesem Dienst vom Staat verpflichtet worden. Wenn aber die Gefallenenmeldungen gebracht werden musste, dann war das gewiss ein besonders schwerer Gang. Ich weiss, da eine Nachbarin von uns, die als Postbotin verpflichtet war, meiner Mutter mal erzählte, dass sie es einfach nicht über das Herz brachte, so eine Gefallenenmeldung bei Frau X abzugeben. Am nächsten Tag musste sie dann doch den schweren Gang machen.

Viele Frauen mussten im Krieg auch reine Männerarbeit machen. Die Männer waren ja meistens zum Militär eingezogen worden.

  • Willi Witte: Zigaretten und Brot für Gefangene

 

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