> Wolfgang Bohnes: Kriegsende, Gefangennahme und Flucht

Wolfgang Bohnes: Kriegsende, Gefangennahme und Flucht

Dieser Eintrag stammt von Wolfgang Bohnes (*1928) aus Bad Waldsee, Juli 2007:

Die ganze Kolonne wird kurz vor Jungbunzlau (Mladá Boleslav) von bewaffneten Freischärlern in Zivil gestoppt (am 9. Mai gegen 11 Uhr) , die Offiziere verhandeln mit ihnen und es heißt, die Deutsche Wehrmacht habe kapituliert und wir müssen unsere Waffen abgeben. Bereits am 5. Mai 1945 hatte die deutsche Stadtkommandantur die Stadt kampflos an die tschechische Miliz übergeben. Ich gehe nach hinten an den Lkw und frage, ob jemand was zu essen und zu trinken hat. Jemand gibt mir eine handvoll Pfeffernüsse und aus einer Kanne bekomme ich meinen Kochgeschirrdeckel mit Weinbrand gefüllt. Wir stehen mit unserem Lkw auf einer kleinen Bogenbrücke, die die Iser (Jizera) überquert; ich nehme meine 08-Pistole auseinander, werfe sie in den kleinen Fluß und bin entwaffnet.

Bei der Entwaffnung, auf einem freien Platz nach der Brücke, wurden auch die Brotbeutel durchsucht. Ein junger Soldat hatte noch einen Rahmen Gewehrmunition vergessen. Der Tscheche schlug dem Soldaten den Brotbeutel mit der Munition mehrmals ins Gesicht. Dann fahren wir weiter und ich bin richtig kaputt. Die Pfeffernüsse machen noch mehr Durst und der Schnaps gibt mir den Rest. Mitten auf dem Marktplatz bleibe ich auf dem Trittbrett eines Autos sitzen und schlafe ein. Ein deutscher Offizier spricht mich an und ich sehe noch seine schlanken Stiefel vor meinen Augen. Ich muß mich erbrechen und schlafe weiter.

Im Halbschlaf höre ich ganz in der Nähe Bombeneinschläge und einstürzende Häuser, aber ich war zu blau und müde, um daran aufzuwachen. Am selben Tag wurde Prag von deutschen Fliegern bombardiert und die Brücke von Melnik mit Bordwaffen angegriffen. Ich vermute, daß es von dem Geschwader "Rudel" kam. Denn es war bekannt, daß die Stadt Jungbunzlau kampflos übergeben worden war. Erst die unsanfte Hand eines Mannes, der mir eine Pistole vor das Gesicht hielt, ließ meine Müdigkeit verfliegen. Hinter dem schwarzen Loch der Pistolenmündung stand ein Soldat in brauner Uniform mit rotem Kragenspiegel und stieß mich in Richtung der eingestürzten Häuser, damit ich beim Bergen der Verschütteten helfen soll. Auf den Trümmern liefen einige Tschechen mit gezogener Pistole herum und trieben die Deutschen zur schnelleren Arbeit an. Im Hof stand ein Eimer voll Wasser, den habe ich mir über den Kopf gegossen, damit ich wieder klarer aus den Augen sehen konnte. Inzwischen wurden die Verletzten auf Tragen aus den Trümmern geborgen.

Am Nachmittag wurden alle entwaffneten Soldaten vom Marktplatz aus in westlicher Richtung durch die Stadt geführt. Rechts und links standen die Einheimischen mit den Pistolen und Gewehren bewaffnet, die unsere Landser am Morgen weggeworfen hatten und zielten auf die Vorübergehenden. Es war ein schauriges Gefühl und wir waren machtlos der Willkür ausgeliefert. Am Ortsrand von Èejetice, einem Vorort von Jungbunzlau, wurden wir auf ein Fabrikgelände mit zwei parallel liegenden Gebäuden geführt und mußten in Dreierreihen vor dem nördlichen Fabrikgebäude Aufstellung nehmen.

Vor uns waren zwei Maschinengewehre russischer Bauart "Maxim Gorki" aufgebaut und es sah aus, als würden wir hier exekutiert. Wir mußten unser Soldbuch abgeben, dann Brotbeutel, Feldflasche, Gasmaske, Seitengewehr und alles was sonst noch an die Koppel hing, auf einen Haufen werfen. Es wurde auf einmal leicht um Schultern und Hüften, aber die Angst verschnürte mir den Hals und der kalte Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich nahm meine Brieftasche und besah noch die Fotografien meiner Eltern, drehte mir von meinem Tabak eine Zigarette, gab meinem Nebenmann eine und wartete der Dinge, die da kommen.

Die erste Flucht

Es wurde allmählich dunkel und wir standen seit drei Uhr nachmittags noch immer auf dem Fabrikhof und starrten auf die besetzten Maschinengewehre. In mir regte sich ein Überlebenswille, und da unsere Hausseite bereits im dunklen Schatten des Gebäudes lag, kletterten wir, ein Flaksoldat, ein Mann von der Organisation Todt und ich, von der hinteren Reihe aus unbemerkt am Gebäudesockel entlang auf dem Boden kriechend am Gebäudeende auf die angrenzende Straße, in die angrenzenden Felder. Der Raps stand schon in voller Blüte und war so hoch, daß wir darin untertauchen und ungesehen in die Nacht verschwinden konnten. Die Orientierung in der sternenklaren Nacht war sehr einfach, denn wir wollten schnellstens nach Westen und hatten den Polarstern immer über dem rechten Ohr, der uns die Richtung zeigte. Da die Russen noch nicht in diesem Gebiet waren, hofften wir ungehindert voranzukommen, haben aber trotzdem um größere Ansiedlungen einen Bogen gemacht und meistens nur Waldwege benutzt. Als endlich der neue Tag anbrach und wir schon weit von Jungbunzlau entfernt waren, trafen wir an einer Abzweigung im Wald einen jungen Mann. Der Flaksoldat fragte ihn nach dem Weg und ich griff, aus Angst und aufgrund der gestrigen Erfahrung mit der bewaffneten Bevölkerung, an seine Jacke, um zu sehen ob er eine Waffe bei sich trage. Ich wollte verhindern, daß wir wie Hunde abgeknallt werden, denn solche Übergriffe sind ja vorgekommen.

Meine Begleiter teilten meine Vorsicht nicht und waren der Meinung, daß der Tscheche uns jetzt erst recht verraten werde. Daraufhin habe ich mich von ihnen getrennt und bin meinen Weg alleine gegangen. Etwa fünfzehn Kilometer vor Melnik kam ich auf eine Landstraße, auf der schon eine ganze Menge Flüchtlinge und Landser unterwegs waren, so daß ich mich ein wenig sicherer fühlte und mit ihnen auf der Straße weitermarschierte. Da ich nichts zu essen und zu trinken hatte - Feldflasche und Brotbeutel gab es nicht mehr - habe ich mich mit einem Auge immer nach etwas Genießbarem umgeschaut, entdeckte aber nichts außer einem Schächtelchen "Maggi-Suppe". Auch sonst war jeder nur bemüht, so schnell wie möglich nach Melnik zu kommen, denn angeblich sollte die Elbbrücke bis neun Uhr frei sein. Als wir dann auf der östlichen Seite von Melnik, kurz vor dem Ortsteil Chloumek, in die Nähe einer Rundfunkstation kamen, wurden alle in einem rechts an der Straße gelegenen Waldstück gesammelt, um angeblich gemeinsam über die Brücke zu gehen.

Gefangenenlager Melnik

Es war 10. Mai und wir wollten alle bis um neun Uhr über die Elbbrücke, aber es wurde immer später und die Zeit verrann, und erst nachdem eine größere Gruppe versammelt war, wollten wir zur Stadt hinunter bis kurz vor die Elbbrücke. Da hieß es auf einmal, daß dort Befestigungen aufgebaut und Maschinengewehre in Stellung gebracht worden seien, so daß man nicht über die Brücke könne. Unsere Gruppe wurde nach links, südwestlich an das Ende der Stadt weitergeleitet. Dort kamen wir in einen mit hohen Drahtzäunen umgebenen Lagerplatz einer Zuckerfabrik in Melnik-Rousovice seitlich an einem Industriegleis. Im Laufe des Tages wurden immer mehr Soldaten hereingebracht und es waren schon über tausend Gefangene auf dem Platz. Wir setzten uns auf den gepflasterten Boden und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Außer "Scheißhaus-Parolen" gab es nichts zu essen und zu trinken, und wer selber keinen Vorrat hatte, war arm dran. Unsere Bewacher, die nur außen am Zaun entlang liefen, machten keine Anstalten, unsere Lage zu mildern.

Als es Abend wurde, haben wir uns für die Nacht nebeneinander auf den gepflasterten Boden gelegt. Ein Kamerad hat seinen Mantel mit mir geteilt, damit ich mich etwas zudecken konnte. Meine Mütze hatte ich als Kopfkissen unter meinen Kopf gelegt und hoffte, die Nacht zu überstehen. Die Bewacher, tschechische Milizen und einige KZ-Leute, die in ihrer weiß-grau gestreiften Häftlingskleidung bis an die Zähne bewaffnet um den Zaun liefen, hatten zur Überwachung des Lagers an mehreren Stellen kleinere Feuer außen am Zaun entzündet. Einige Male wurden Leuchtpistolen in niedriger Höhe über unseren Köpfen abgeschossen und das brennende Magnesium fiel auf die liegenden und schlafenden Menschen herab und es gab Verletzungen und Verbrennungen und einige tumultartige Proteste, aber es half nichts. Als wir am nächsten Morgen die Sonne aufgehen sahen, waren wir wieder voller Hoffnung und hatten die Nacht schnell vergessen. In der Sonnenwärme krochen auch die Kleiderläuse aus den Nähten der Jacken und Hosenbeine und begannen wieder aktiv zu werden. Wir jagten die lästigen Plagegeister und zerdrückten die Läuse und Nissen und schauten immerzu mit hungrigen und durstigen Augen zum Haupteingang und hatten die Hoffnung, verpflegt zu werden. Aber es wurden ständig mehr Gefangene durch das Tor hereingebracht und der Lagerplatz füllte sich in immer größerem Ausmaß. Im hinteren Bereich waren einige Gefangene mit dem Ausheben einer Grube beschäftigt und ich dachte schon an Massengräber, doch es waren Latrinen, die dort gebuddelt wurden.

Ich habe in der Nacht arg gefroren und meine Blase entzündet und nun andauernd das Gefühl, ich "müßte" - und kann doch nicht, da ich nichts zu Trinken habe. Was soll aus der ganzen Misere noch werden? Aber irgendwie mußte es doch weiter gehen. Die Bewacher befahlen, uns in Landsmannschaften einzuteilen, und zwar immer zu hundert Mann. Dadurch bilden sich neue Gruppen und ich melde mich zu den Westfalen und bin erstaunt über eine Gruppe "Austria", die mit rot-weiß-roter Fahne etwas Besonderes zu sein scheint - bis dahin kannte ich "Austria" nur als Zigarettenmarke. So entfernten sich die Einen und die Anderen von dem großdeutschen Reich.

Nach etwa drei oder vier Tagen ohne Essen und Trinken werden wir am 13. Mai durch ein Dröhnen und Rattern von russischen Panzern aufgeschreckt, die vorne am Haupteingang Halt machen. Einige Soldaten springen von den Panzern und wollen Brot gegen Uhren tauschen, eine Uhr für ein halbes Brot - ich habe keine Uhr, also was soll's. Da nun die Russen hier sind, haben wir Hoffnung, etwas zu Essen zu bekommen. Am nächsten Tag, es ist bereits der 14. Mai, bringt ein Tankwagen Wasser und von einem Lkw wird Brot abgeladen, für zwanzig Mann ein Brot - und eine Dose Wasser! Das war wie warmer Regen nach meinem letzten Bratkartoffelessen, doch wie mag es weitergehen, denn solche Strapazen kann man nicht lange aushalten. Es wurden einigen Soldaten und Offizieren die Stiefel abgenommen, ein Offizier mußte auf grauen Socken dort herumlaufen und suchte nach was Eßbarem.

Am selben Tag machen wir uns zum Abmarsch fertig, stellen uns in Fünferreihen auf und langsam setzt sich die Kolonne in Bewegung. Wir sind ca. 5.000 Mann, eine lange Schlange von einem Kilometer, die sich mühsam durch die Landschaft bewegt. Die russische Begleitmannschaft sitzt teilweise auf Fahrrädern, sie fahren lärmend neben uns her und brüllen "Dawai, dawai" und "Brava, brava", was so viel wie "Weiter, weiter" und "Rechts bleiben" heißen soll. Ich laufe an der Außenseite unserer Gruppe und blicke dauernd den Straßengraben entlang, ob sich nichts Eßbares darin befindet. Es ist sehr heiß und die Sonne scheint unbarmherzig auf die Gefangenen. Wenn die Kolonne Halt macht, müssen wir auf dem heißen Straßenbelag bleiben und dürfen nicht in den Straßengraben oder gar in die angrenzende Wiese zum Ausruhen. Erst am Abend bilden wir ein großes Areal und legen uns in die nasse Wiese zum Schlafen. Die russischen Bewacher sitzen in ihren langen Mänteln eingehüllt und mit dem Gewehr im Arm vor kleinen Lagerfeuern und träumen von Frieden und Heimat und sind froh, daß der unselige Krieg für sie zu Ende ist. Wir haben jedoch eine ungewisse Zukunft und der Weg, der vor uns liegt, ist noch schwarz und dunkel.

Der Weg nach Prag

Am Morgen des 15. Mai machen wir uns weiter auf den Weg nach Prag und sehen rechts der Straße die feuchten Niederungen der Elbe mit Sträuchern und Gebüsch und einem unwegsamen Gelände. Doch wer hat schon ein Auge für die Schönheit der Natur, wenn über der Auenlandschaft ein russisches Aufklärungsflugzeug auftaucht und nach einigen Runden ins Trudeln kommt und knapp einen Kilometer von der Straße entfernt in den sumpfigen Boden stürzt. Ein Raunen geht durch die Kolonne und ich glaube, ein schadenfrohes Lachen zu hören. Das Glück wechselt schnell und plötzlich werden wir aus heiterem Himmel mit Gewehrfeuer belegt, das aus einem größeren Gebäudekomplex kommt, der etwa einen Kilometer rechts von der Straße am Ortsrand von Krenek (Kly) zu sehen ist. Alles verkriecht sich auf der linken Straßenseite im Graben und im Acker, Russen und Deutsche liegen einträchtig auf dem Bauch und warten, bis es Nacht wird, um dann den Rückmarsch anzutreten.

Das Gebäude sah aus wie ein großes Kloster, aus roten Ziegel erbaut und nur zwei bis drei Stockwerke hoch. Es stand einzeln auf weiter Flur inmitten der Aue zwischen Elbe und Moldau, und man munkelte, daß die Waffen-SS das Gebäude besetzt habe, um uns zum Abschied eine Lektion zu erteilen. Nach kurzem Marsch haben wir wieder in einer sumpfigen Wiese unser Camp aufgeschlagen und uns ins nasse Gras zum Schlafen gelegt. Die Brotration war schnell gegessen und die Nacht kalt und unendlich lang.

Unsere Kolonne befand sich wieder auf dem Weg zurück nach Melnik, aber die Beine waren schwer und der Hunger groß und wir kamen nicht mehr so schnell weiter. Unsere Kolonne biegt von der Straße ab und wir gehen in ein Barackenlager, das noch von der Wehrmacht oder vom RAD stammte. Ich komme in eine kleinere Stube und schaue als erstes in die Holzkiste neben dem Ofen. Darin finde ich einige "schmalzgebackene Küchle", leicht verstaubt und angeschimmelt - welche Freude!

Der nächste Tag führt uns wieder nach Melnik auf den gepflasterten Lagerplatz derselben Zuckerfabrik. Dort waren inzwischen neue Gefangene eingetroffen und es war schon sehr bedrückend, was sich in der einen Woche so alles abgespielt hat. Am Tag darauf mußten wir wieder auf die Straße, diesmal ging es in nördlicher Richtung etwa sechs Kilometer dem Elbtal entlang bis Liboch (Libéchov), dort zweigt die Straße nach Norden ab in Richtung Dauba (Dubá). Wir machen unser Nachtlager auf einer nassen Wiese und frieren jämmerlich

Beim Marsch an der Labe (Elbe), auf einer gut ausgebauten Landstraße, gingen wir in Fünferreihen, dabei fast die ganze Straßenbreite einnehmend, auf der Allee. Auf der linken Straßenseite fuhren unsere Bewacher auf klapprigen Fahrräder und riefen ständig "Dawai, Dawai" und "Brava, Brava", was heißen soll schneller laufen und rechts bleiben. Ein Militärlastwagen überholte unsere Kolonne, unter seiner Plane standen Soldaten in Uniform der Afrikatruppen. Ich nahm an, daß es sich alliierte Truppenteile handelt und hoffte auf eine Besserung unserer Lage. Wie ich später erfahren habe, hat sich die tschechische Miliz aus den deutschen Militärbeständen eingekleidet.

Meine zweite Flucht

Ich befinde mich in der Gruppe der Westfalen und laufe seit einigen Tagen neben einem Kameraden aus Osnabrück, etwa achtzehn Jahre alt, und bespreche mit ihm die Möglichkeit einer Flucht. Mir war aufgefallen, daß uns ab und zu Männer entgegen kamen, die durch Uniformteile noch als Wehrmachtsangehörige zu erkennen waren. Warum sie nicht aufgegriffen wurden, oder ob es sich um Sudetendeutsche oder Tschechen gehandelt hat, konnten wir nicht erfahren, aber der Gedanke lag nahe, selber ohne Uniformjacke und Mütze laufen, wodurch es vielleicht gelingen könnte, zu fliehen. Ebenso war mir aufgefallen, daß Leute hin und wieder mit Wasser gefüllte Eimer am Straßenrand aufstellten, damit wir etwas zu Trinken hatten. Die russischen Bewacher haben die Eimer zwar ab und zu umgestoßen, aber ich hatte die Hoffnung, bei den Bewohnern Menschen anzutreffen, die uns vielleicht helfen könnten.

Während der Rast saß ein junger russischer Bewacher unweit von mir an der Straßenböschung und hat ein Stück Brot gegessen. Auf meine Bitte, ob er mir auch ein Stück Brot (Chleb) abgeben könne, brach er es halb durch und reichte es mir. Ich denke, so schlimm würden sie wohl nicht sein, wenn sie mich wieder einfangen sollten.

Am nächsten Tag, am 20. Mai, etwa acht Kilometer vor Böhmisch-Leipa, machte unsere Kolonne am späten Nachmittag plötzlich Halt. Rechts der Straßenböschung war ein größerer Bach, der die Straße unterquerte. Erst liefen ein paar Männer, dann immer mehr die Böschung herunter, um zu trinken oder sich in dem Bach zu waschen. Es entstand eine große Unruhe und die Russen waren mit ihrem ständigen "Dawai, Dawai" bemüht, die Gefangenen weiterzutreiben. Diese Gelegenheit haben mein Kamerad aus Osnabrück und ich benutzt, um unsere Jacken und Mützen zu verstecken und unweit der Straße in einem größeren Brennnesselhaufen unterzutauchen. Dort haben wir den Abmarsch der Kolonne abgewartet, bis wir uns dann vorsichtig herauswagten. Was geschehen wäre, wenn man uns erwischt hätte, konnte man an den Kranken und den am Ende der Kolonne Liegengebliebenen sehen, sie wurden einfach erschlagen oder durch Kopfschuß getötet. Unser Zustand konnte sich auf Dauer nur verschlimmern, daher lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Wir wollten in der Nähe ein besseres Versteck suchen und standen plötzlich zwei Jungens im Alter von etwa zehn Jahren gegenüber, die uns auf Deutsch ansprachen. Ich bat sie um ein Stück Brot und kurz darauf kamen sie aus einem an der Straße liegenden Haus und brachten jedem eine Scheibe Brot mit Schmalz. Dann zeigten sie uns eine kleine Erdhöhle, die sie im Sand an einer Uferböschung gebaut hatten und meinten, wir könnten dort bis zum Abend bleiben.

Wir sind dann zwischen dem 20. und 21. Mai die ganze Nacht durch Wald- und Feldwege in nordwestlicher Richtung gelaufen und kamen bei Bensen (Benesov) wieder auf eine Landstraße, die nach Tetschen zur Elbe führte. Eine Orientierung durch Straßenschilder war jetzt schwierig, denn die Russen hatten die alte Beschilderung durch blaue Schilder mit kyrillischer Schrift ersetzt. Nur meine sehr guten Geographiekenntnisse und das Abzählen der fremdartigen Buchstaben hat uns erraten lassen, welche Stadt gemeint sein könnte. Der Hunger war unser Reisebegleiter, denn wir konnten nirgends nach etwas Eßbarem fragen. Als wir eine Wiese überquerten, sah ich auf einem verlassenen Lagerplatz im Gras ein Einmachglas liegen, das auf einer Seite zerschlagen war. Das gekochte Schweinefleisch war grün angelaufen, aber das Schmalz lag noch schön weiß daneben. Ich habe es vorsichtig abgeschabt und gegessen und dabei an die Pfütze gedacht, aus der ich ganz langsam und mit zusammengebissenen Zähnen Wasser getrunken habe.

Bei dem Wort "Wasser" kam auch schon der Gedanke: Wie überqueren wir bloß die Labe (Elbe)?! - Die Brücke ist sicher stark bewacht und kann man eine Festnahme so einfach riskieren? - Oder ist es besser, den Fluß schwimmend zu durchqueren? - Das Wasser ist bestimmt kalt, circa 8-10 Grad. - Unsere Kraft ist nach den Tagen der Entbehrung sehr geschwächt. - Also wagen wir den Versuch? Doch wenn die Not am größten, ist Hilfe am nächsten!

Am 21. Mai, gegen Mittag, wurden wir von einem Mann überholt, der uns mit den Worten ansprach: "Es war gut, daß ihr eure Uniformjacken weggeworfen habt, sonst hätte man euch wieder geschnappt". Es war uns schon nicht ganz geheuer, aber er sagte weiter, er sei Parteigenosse gewesen und habe in dem Nachbarort Beneschau (Benesov) die Kartei der NSDAP vernichtet und sei jetzt auf dem Heimweg und wir könnten schon mit ihm nach Hause gehen. Wir konnten die Hilfe nicht abschlagen, denn das größte Problem stellte die Elbbrücke nach Bodenbach da, die als Nadelöhr von den Russen stark bewacht wurde - und die lag bald vor uns. Als wir uns der Brücke nähern, eine Stahlkonstruktion mit einem Bogenträger, sehen wir in der Brückenmitte mehrere russische Posten stehen. Einige Personen befanden sich zu diesem Zeitpunkt auf der Brücke und liefen herüber und hinüber und alles sah recht friedlich aus.

Etwa dreißig Meter vor uns lief eine Bauersfrau mit einer Kruke auf dem Rücken in der gleichen Richtung über die Brücke wie wir. Als sie bei den Wachposten ankam, wollten diese den Inhalt des Korbes kontrollieren, doch die Frau lief schnell weiter und die Russen hinterher. Diesen Umstand haben wir genutzt und sind im Sturmschritt gerannt, haben die keifenden und schimpfenden ungleichen Paare überholt und sind am anderen Ufer der Elbe angekommen. Die Straße biegt nach links und rechts ab, denn geradeaus liegt die Eisenbahn direkt vor einem im Hintergrund steil ansteigenden Berg. Wir gehen auf einem Fußweg über die Bahnlinie hinweg und steigen den steilen Berg hinauf, um in die Siedlung zu kommen, wo unser Begleiter sein Häuschen hat.

Auf der Dorfstrasse ist alles gemütlich und freundlich, Frauen sitzen vor den Häuser und nähen von Hand große tschechische Fahnen in rot-weiß mit einem blauen Dreieck am schmalen Ende. Der Weg wird immer steiniger und steiler, wir lassen den Wald hinter uns und gehen in sein Einfamilienhaus. Das Haus steht am Waldrand auf einer schräg abfallenden Böschung. Mein erster Weg ist ins Untergeschoß in die Waschküche; meine restliche Uniform, meine Läuse, der Dreck und meine Angst werden abgewaschen. Mein Blick geht durch die Kellertüre in den Garten und ich sehe die so ersehnte Freiheit.

Endlich haben wir ein Dach über dem Kopf und können uns beruhigt hinsetzen. Was habe ich alles in den zehn oder elf Tagen erleben müssen und wo sind die Kameraden hingekommen? Oder ist das alles nur ein Traum? Nein, die Wirklichkeit sind meine Kleiderläuse und ich bin überglücklich, daß ich mich in einem Holzzuber in der Waschküche säubern und waschen kann. Die Hausfrau gibt uns Zivilkleidung, ich habe nun eine kurze Hose, ein Hemd und eine blaue Baskenmütze. Auf die Hemdtasche nähen wir ein blau-weiß-rotes Emblem, und mit einigen Brocken Französisch hoffe ich über die tschechisch-deutsche Grenze zu kommen. Wir bleiben eine Nacht, und am zweiten Tag machen wir uns frühmorgens auf den Weg zu nahen Grenze, die nur fünf oder sechs Kilometer entfernt liegt. Leichter Nieselregen und tiefliegende Wolken hingen über den dunklen Tannenwäldern des Erzgebirges - genau das richtige Wetter für uns. Wir laufen auf einem zerfurchten Waldweg leicht bergan und sind sehr vorsichtig, keinem Menschen zu begegnen. Am Weg finden wir stehen gelassene Kriegsgeräte, ein Kettengrad lädt zum Fahren ein.

Zurück in Deutschland

Nachdem wir die "grüne Grenze" ohne Probleme überwunden haben, sind wir guten Mutes und laufen über Stock und Stein bergauf und bergab durch Tannenwälder immer "Go West" und haben schon die Russen fast vergessen, die doch als Besatzungsmacht hier stationiert waren. So laufen wir einen recht steilen, bewaldeten Berghang ins Tal hinunter und stehen unvermittelt vor einer Gruppe von drei bis vier russischen Soldaten, die zwischen den Bäumen am Waldrand standen. Mit dem Gruß "Strasduje Pan", was so viel wie "Guten Tag, mein Herr" heißen soll, habe ich die Situation gerettet und wir gingen anstandslos weiter, nicht ohne ein klammes Gefühl im Rücken.

Neben dem Straßenrand stand ein Pkw in einer Wiese und ich gehe hin um zu schauen, ob es darin etwas Brauchbares gibt. Bei näherem Hinsehen finde ich unter dem Sitz eine Zigarette, und da wir keine Streichhölzer hatten, wurde auch nicht geraucht und wir marschierten weiter auf der Straße. Auf einmal kam hinter uns ein Pferdegespann mit einer Kutsche gefahren, zwei Russen saßen auf dem Bock. Als sie auf unserer Höhe waren, habe ich sie um Feuer für unsere Zigarette gebeten. Zusätzlich zum Feuer luden sie uns ein mitzufahren, und so stellten wir uns auf die Hinterachse und hielten uns oben an der Rücklehne fest. Als sie nach links in einen Weg abbogen, bekamen wir aus einer Milchkanne, die zwischen ihnen stand, einen Schnaps eingeschenkt und wurden mit "Hitler kaputt" verabschiedet.

Am Abend kamen wir in der Nähe von Gottleuba auf einen Bauernhof und baten dort um Essen. Wir bekamen Pellkartoffeln mit etwas Leberwurst und durften in der großen Küche auf dem Sofa übernachten. Nachts werden wir durch ein Gepolter und Gegröle geweckt und sehen im Dunkel der Stube einige Russen laufen, die dauernd "Panjenka, Panjenka" rufend in mein müdes schlaftrunkenes Gesicht leuchten und auf meine Antwort "Nix Panjenka" wieder verschwanden. Welch ein Schrecken, jetzt war auch klar, warum der Bauer in der Küche für uns ein Nachtlager gemacht hatte, denn die Haustüre führte direkt in die Küche und die Eindringlinge wurden sofort bemerkt. Was mag sich da schon alles abgespielt haben? Wir sind recht früh aus dem gastlichen Haus aufgebrochen und marschierten weiter in Richtung Liebstadt, bergauf und bergab durch grüne Wälder und schmale Täler, bis wir am Waldrand eine Feldtelefonleitung sahen, die, an langen Stangen eingehängt, am Waldrand entlang führte und uns warnte, daß in der Nähe Russen stationiert sein können.

Wir befinden uns etwa vierzehn Kilometer südlich von Pirna, da werden wir durch den Zuruf "Ruki werch!" (Hände hoch) aufgeschreckt und von einer russischen Patrouille festgenommen und zu einer Sammelstelle in das nahe Börnersdorf gebracht. Dort werden wir von der Bevölkerung mit einem Teller Eintopf aus einer Milchkanne versorgt. Ich werde in eine Waschküche eingeschlossen und bin alleine. Auf dem gemauerten Waschkessel steht eine Flasche Weinbrand, und auf den Schrecken hin genehmige ich mir einen Schluck. Aber ich war zu voreilig und habe den Mund voller Petroleum - ha, was es nicht alles gibt. Meinen Wehrpaß, in dem meine Entlassung aus dem RAD, nicht aber mein Eintritt in die Wehrmacht eingetragen ist, habe ich noch immer bei mir. In der Vernehmung kann ich den Russen auf diesen Umstand hinweisen und es schien alles in Ordnung, aber ich muß noch bleiben und werde später in die Wagenremise eines Bauernhofes eingesperrt. Meinen Kameraden aus Osnabrück habe ich nicht mehr gesehen, ich glaube es sind einige mit einem Lkw abtransportiert worden.

Die russische Kompanie, die im Dorf bei den Bauern einquartiert war, hatte eine ganze Menge Panje-Pferde in dem Obstgarten neben dem Bauernhaus. Ich konnte mich frei bewegen und habe für die Pferde eine Futterkrippe gebaut und sie mit Heu und Hafer gefüttert. Es waren drollige Pferde mit dichtem, langhaarigen Fell und zotteliger Mähne. In der Nähe der Tiere habe ich mich richtig wohl gefühlt und hatte nicht das Gefühl einer Gefangenschaft. Meine Bewacher wurden von einem russischen Feldwebel kommandiert. Er war nicht mehr jung und seine Schulter hing auf einer Seite stark nach unten. Ich war ihm sympathisch und er hat mich zu einem gemeinsamen Essen eingeladen. Unter einem größeren Baum im Obstgarten saßen etwa sechs bis sieben Soldaten im Kreis um einen großen Topf mit dicker Gemüsesuppe, viel Fleisch und einer fetten Brühe. Dazu bekam jeder ein großes Stück Brot und ein Wasserglas voll Schnaps.

Die russischen Polizistinnen, die in dieser Gruppe Dienst machten, haben mich zusätzlich mit eingemachtem Obst und Spiegeleiern versorgt. Es war ein Tag, wie man ihn sich nicht vorstellen kann. Nach Wochen der Strapazen, Entbehrungen und Gefahren glaubte man sich in den Himmel versetzt, selbst die blühenden Bäume und Sträucher und der strahlend blaue Himmel tun das ihre dazu - es war ein Glückstag. Es war Pfingsten und die Russen feiern heute ihren Sieg, daher die frohen und freundlichen Gesichter. Es wird bis in die späte Nacht getrunken, gesungen und zur Musik einer Ziehorgel getanzt. Ich liege in der Wagenremise auf einem Haufen Stroh, die Ziehorgel spielt ständig das gleiche monotone, aufreizende Lied und nicht weit entfernt tanzen die Russen, bis der Boden dröhnt. Ich versuche einzuschlafen und werde auf einmal durch Schüsse aus Gewehren und Maschinenpistolen geweckt, daß ich meine, die Dachziegel der Wagenremise fallen auf mich herunter.

Das war mir dann doch zuviel und mein Entschluß schnell gefaßt. Da die Bewachung nicht sehr intensiv schien, habe ich unter der Bretterwand ein Loch gebuddelt, bin rausgeschlüpft und in die Nacht verschwunden. Ich wollte meine neue Freiheit nicht nochmals gefährden und bin sehr vorsichtig durch die dichten Wälder der "Sächsischen Schweiz" in Richtung "Osterzgebirge" marschiert. Bei meiner Wanderung kam ich an eine Bahnlinie und hoffte in ihrer Nähe vielleicht einen Zug zu erwischen. Auf einem Abstellgleis stand ein Güterwaggon mit offenem Rolltor, der Waggon war halb voll mit Brillengläsern. Es kann sein, daß sie aus dem nahen Zeiss-Werk in Jena stammten. Bald kam ich in eine kleinere Stadt, und als ich auf dem Bahnhof nachfragte, hieß es, daß ein Güterzug nach Leipzig fahren würde. Wie die anderen stieg ich auf das Dach eines Güterwaggons, setzte mich auf ein Bremserhäuschen und schon ging die Fahrt zügig voran. Plötzlich sehe ich hinter meinem Rücken eine Brücke auf mich zurasen und konnte nur durch schnelles Bücken einen Unfall vermeiden. Vom Güterbahnhof aus liefen wir dann in den Hauptbahnhof, von dem nur noch die Fassade und das eiserne Gerippe standen.

Es war ein warmer, sonniger Tag und ich fühlte mich unter den Menschen auf dem Bahnhof relativ sicher, obwohl es immer noch die russisch besetzte Zone war. Bis zur Grenzlinie der amerikanischen Zonen waren es noch etwa sechzehn Kilometer, die Reichsautobahn Nürnberg-Berlin bildete die Trennlinie zwischen den Russen und Amerikanern. Ich mußte ja über dieses Hindernis hinweg und wollte deshalb soviel wie möglich über einen günstigen Schleichweg erfahren. Während eines Gesprächs im Leipziger Bahnhof - ich stehe mit einem Fräulein an einem Bretterzaun am Ende des Bahnsteigs - peitschte ein Karabinerschuß einen Handbreit an meinem Kopf vorbei in die Bretterwand!

Gegen Abend bin ich müde, krank und entnervt auf dem Weg zur Demarkationslinie, um den Sprung in die Freiheit zu wagen. Ich laufe durch die Hauptstraße von Schkeuditz in Richtung Halle/Saale. Da ich eine eitrige Mandelentzündung habe, frage ich in einem Haus nach Wasser, um meinen Mund auszuspülen. Eine Frau bietet mir ihre Wohnung zum Übernachten an, so konnte ich seit langem wieder auf einem Sofa neben einem kleinen Radio einschlafen. Nach einem Frühstück und einer Wegzehrung machte ich mich am nächsten Morgen auf die Suche nach einem günstigen Überweg.

Nach der Autobahn wurde ich von der US-Army aufgegriffen und mußte bis zu meinem Abtransport in einem kleinen Zwei- oder Dreimannzelt warten und durfte die ölige und fettige Tomatensoße aus dem Eßgeschirr spülen, das vom Mittagessen da stand. Einer hatte auch eine Gitarre im Zelt an seinem Feldbett stehen, da habe ich richtig gestaunt, wie die Amis ausgerüstet waren, es ging zu wie auf einem Campingplatz. Am Nachmittag wurde ich auf einen Lkw verladen und zur Vernehmung nach Eisleben in die Lutherstadt gebracht. Dort mußte ich vor einem größeren Gebäude auf meine Vernehmung warten und lief und stand im Hof herum. Aus einem Nebengebäude trat ein Ami heraus, der auf einem Pappteller ein Tortenstück trug, ein schönes buntes Stück, wie ein "Holländer Schnittchen". Als er mich sah, streckte er es mir hin und da ich nur verdutzt geschaut habe, machte er eine wegwerfende Handbewegung. Da ließ ich mich nicht zweimal nötigen und aß, glaube ich, das erste Tortenstück in meinem Leben.

Der Dolmetscher des Vernehmungsoffiziers sprach mich in einem rheinischen Dialekt an und es war für mich ein komisches Gefühl, von einem "Deutschen" derart vor dem "Feind" ausgefragt zu werden und meine Aussagen waren entsprechend stockend. Ich erzählte ihnen natürlich nicht, daß ich schon Soldat war und aus russischer Gefangenschaft geflohen sei, sondern konnte glaubhaft versichern, daß ich schon seit längerem Zivilist bin, und da ich meinen Wehrpaß vorzeigen konnte, den ich ja seit meiner Entlassung aus dem Reichsarbeitsdienst (RAD) behalten habe, wurde ich freigelassen. Der Vernehmungsoffizier fragte noch den Dolmetscher, was ist "RAD?" Als Antwort sagte er: "Eine Naziorganisation". Ich kam mir aber gar nicht wie ein Nazi vor, doch was sollte ich noch sagen! Nach einem Eintrag in den Wehrpaß "Checked by US-Army" und mit Datum 26. Mai 1945 wurde ich als frei entlassen.

Frieden und Freiheit: Ich bin frei!

Ich habe mich auf dem Rathaus in Eisleben gemeldet und das Einwohnermeldeamt hat mich zu einem älteren Ehepaar in die Zeppelinstraße eingewiesen. Ich habe den Unmut der alten Leute gut verstehen können, denn ich kam daher wie ein Penner: dreckig, verlaust, krank und abgemagert, und soll in ein weiß überzogenes Bett und in ihrer heilen Welt Einzug nehmen. Aber ich habe mich dann gebadet und entlaust und sah wieder menschlicher aus. Da ich jetzt eine Lebensmittelkarte hatte, konnte ich mir ebenfalls etwas besorgen und erinnere mich noch genau, daß ich in einem Milchgeschäft in der Nähe täglich einen halben Liter Magermilch bekam.

Nach drei oder vier Tagen habe ich mich wieder auf die Socken gemacht und bin über Sangerhausen, Nordhausen, Heiligenstadt nach Witzenhausen getrampt. Wenn ich von einer Tagesetappe von ca. vierzig Kilometern ausgehe, dann bin ich die Strecke in etwa drei Tagen gelaufen. In Witzenhausen wollte ich mal zur Kolonialschule gehen, um als Farmer nach "Deutsch-Südwest-Afrika" auszuwandern. Aber davon war jetzt keine Rede mehr. Vor Witzenhausen traf ich eine ältere Frau mit ihrer Tochter, die sich mit ihren Taschen an den Armen auf der Landstraße herumschleppten und als Flüchtlinge auf dem Heimweg nach Düsseldorf-Oberkassel waren. Die Mutter war sehr unbeholfen, und ihre Tochter, trotz ihrer zweiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahren, auch nicht viel selbständiger. Mit meinen wenigen Kräften habe ich einen Teil ihres Gepäcks getragen und ihnen die Wege und Schlupfwinkel gezeigt, die notwendig waren, um ungeschoren weiterzukommen. Doch ich hatte immer die anderen Menschen vor Augen, die mir Hilfe und Unterstützung auf meinen langen Wegen gaben und ohne die ich vielleicht nicht nach Hause gekommen wäre.

Ich bekam vom Bürgermeisteramt in Witzenhausen einen Passierschein, der von Witzenhausen nach Kassel ausgestellt war, außerdem ein Stück von einer Straßenkarte, damit ich mich frei bewegen konnte. Die Straßenkarte habe ich auf der Landstraße vor Kassel an einen schwarzen US-Soldaten gegen eine kleine Schachtel Zigaretten getauscht, der mit seinem "Dodge-Armee-Lkw" nach dem Weg gefragt hat. Den Passierschein habe ich dann in einem Geschäft geändert und mit einer Schreibmaschine den Zielort von "Kassel" in "Düsseldorf" umgeschrieben.

Nachdem wir Kassel verlassen hatten, wurde das Wetter schlechter und leichter Nieselregen machte uns das Leben schwer. Wir waren in den Bergen und Wäldern der Briloner Höhen, und die tiefhängenden Wolken und die dunklen Tannen wollten keine gute Stimmung aufkommen lassen. Doch wir hatten großes Glück. Vor uns auf der Straße stand ein Lkw mit Reifenpanne und der Fahrer war über sein kaputtes Rad gebeugt und versuchte, den Reifen zu montieren. Er war dann von meiner Mithilfe so erfreut, daß er uns auf den Lkw aufsitzen ließ und bis Hagen in Westfalen mitnahm.

lo