> Wolfgang Findeisen: Der 9. Mai 1945 - Gedanken nach 60 Jahren

Wolfgang Findeisen: Der 9. Mai 1945 - Gedanken nach 60 Jahren

Dieser Eintrag stammt von Wolfgang Findeisen (1926-2015) aus Eschborn, August 2004:


Le Havre POE - POW Wolfgang Findeisen, 31 G 1 105 789 - VE-Day - 9. Mai 1945.

Der Tag fing mit lautem Sirenengeheul der Schiffe im Hafen an, dann mit Gewehrsalven, abgefeuert in die Luft von den amerikanischen Soldaten in der Stadt. Der Krieg in Europa war zu Ende, die deutsche Wehrmacht hatte kapituliert, die Amerikaner feierten, hofften sie doch auf baldige Heimkehr zu ihren Familien. Für die Amerikaner ging aber der Kampf noch weiter, bis zum VJ-Day. Unsere Aufgabe in den kommenden Wochen war die Verladung von Kriegsgerät auf die Liberty- und Victory-Schiffe für den Einsatz in Fernost.

Für uns im Lager sollte es kein Feiertag sein. Allerdings fielen unsere Arbeitskommandos an den verschiedenen Arbeitsstellen im riesigen Hafenareal heute aus. Man befürchtete sicher Übergriffe der französischen Bevölkerung, die im Krieg sehr gelitten hatte. Aber wir sollten nicht feiern - wir mussten im Lager arbeiten, kehren, reparieren. Und wenn nicht für alle genug zu tun war, Löcher schaufeln, die dann anschließend wieder zugeschüttet werden mussten, und das immer wieder, den ganzen Tag lang. Das war eine beliebte Strafmethode, die auch gegenüber amerikanischen Soldaten angewendet wurde, die was angestellt hatten. Eigentlich war uns auch nach feiern zumute, denn endlich war der Krieg zuende. Keine Bomben und Granaten mehr, keine Angst um unsere Familien daheim, Hoffnung auf baldige Heimkehr auch für uns, das alles ging uns im Kopf herum. Dass es bis dahin noch 18 lange Monate dauern würde, ahnten wir an diesem Tage nicht.

Wie hatte alles angefangen? Im Juni 1939 war ich 13 Jahre alt geworden, war Schüler des Realgymnasiums in Dresden-Blasewitz. In diesem Alter interessierte mich schon, was in der Welt, besonders in und um Deutschland, vorging. Im August war mein Vater, von Beruf Dentist, plötzlich eingezogen worden. Er war 45 Jahre alt, im 1. Weltkrieg zweimal schwer verwundet worden, aber man brauchte wohl sehr schnell erfahrene Soldaten. Er war in Radeberg, ca. 20 km entfernt von Dresden-Hosterwitz, unserem Wohnort, stationiert. Die plötzliche Einberufung brachte Probleme mit sich, so dass meine Mutter fast täglich mit unserem alten Fiat nach Radeberg fuhr, um die Abwicklung angefangener Behandlungen mit meinem Vater zu besprechen. Das Auto hatte Startprobleme, aber mein Vater hatte mir gezeigt, wie man den Motor in Gang setzen konnte. Autofahren konnte und durfte ich natürlich noch nicht. Meine Mutter nahm mich gern mit bei ihren Fahrten nach Radeberg. An Krieg dachten wir nicht, waren doch ähnliche politische Gewitter, wie das jetzige mit Polen, immer wieder vorbeigegangen. Daladier und Chamberlain waren nach Deutschland gekommen und hatten sich von Hitler einwickeln lassen. Sicher würde es auch dieses Mal wieder so gehen, und unser Vater nach Hause kommen.

Am Morgen des 1. September 1939 wurde eine wichtige Hitlerrede angekündigt. Ich erinnere mich noch sehr gut, dass Hitler von dem "infamen Angriff polnischer Soldaten" auf den Sender Gleiwitz in Oberschlesien sprach. "Seit 5 Uhr morgens wird zurückgeschossen". Meine Mutter, die neben mir saß, sagte nur "Krieg". Ich erwiderte, dass Hitler kein Wort über Krieg gesagt hatte. Meine Mutter aber bat mich, sofort das Auto anzulassen. Wir fuhren in die Stadtmitte, zum Postscheckamt, wo meine Mutter alles Geld vom Konto abhob. Sie befürchtete, dass man wegen des Krieges die Geldabhebungen sperren würde.

Die Schule lief nun regulär weiter. Die jungen Lehrer wurden eingezogen oder waren schon Soldat geworden, dafür bekamen wir ältere, schon pensionierte Lehrer. Zum Teil waren das hervorragende - und bei uns beliebte - Pädagogen. Große Landkarten waren aufgehängt worden, auf denen mit Fähnchen und bunten Nadeln der Vormarsch der deutschen - und der sowjetischen - Truppen markiert wurde. Für alle Deutschen höchst überraschend hatte Deutschland Ende August einen Pakt mit der Sowjetunion abgeschlossen, mit der Sowjetunion, die bis zu diesem Zeitpunkt als der natürliche Feind der nationalsozialistischen Ideologie gebrandmarkt worden war. Göring hatte getönt, dass er "auch mit dem Teufel einen Vertrag schließen würde", wenn es Deutschland nützt. Innerhalb von 18 Tagen war Polen von beiden Seiten überrannt worden. Sondermeldungen im Radio, immer eingeleitet mit einem Motto aus "Le Prelude" von Liszt, hatten alle Stationen des Vormarsches gemeldet. Auch Versenkung englischer und französischer Schiffe durch deutsche U-Boote wurden gemeldet.

England und Frankreich hatten dieses Mal nicht zugesehen, wie Hitler einen weiteren Teil Europas usurpieren wollte. Bis zum 3. September 1939 lief das Ultimatum, sofort alle deutschen Truppen aus Polen zurückzuziehen, ansonsten befänden sich diese beiden Länder im Kriegszustand mit dem Deutschen Reich. Noch wäre eine letzte Chance gewesen, den Krieg zu vermeiden. Aber Hitler wollte den Krieg, fühlte sich stark genug für die Auseinandersetzung mit den Westmächten. Noch aber, Anfang 1940, war es ruhig an der Westfront, wo mein Vater nun stationiert war.

Im Frühjahr 1940 wurde mein Vater aus der Wehrmacht entlassen, weil wohl inzwischen genügend jüngere Leute ausgebildet worden waren. Wir waren froh, dass er wieder daheim war, seine Praxis wieder betreiben konnte. Wenn ich Zeit hatte, vor allem in den Schulferien, half ich im Labor, Gebisse polieren, Reparaturen in Gips einbetten und ähnliches. Es machte mir Spaß, und ich malte mir aus, dass es später mein Beruf werden könnte. Meine Mutter war froh, dass mein Bruder Hans (Jahrgang 1924) und ich (Jahrgang 1926) zu jung waren, um in diesen Krieg ziehen zu müssen, der sicher bald zu Ende gehen würde.

Am 10. Mai 1940 überfiel Hitler die neutralen Staaten Holland und Belgien, um leichter nach Frankreich einmarschieren zu können. Das gelang, und bald standen die deutschen Truppen vor Paris. Amerika unterstützte England, das nun sehr bedroht von einer deutschen Invasion war, mit Lebensmitteln und Kriegsmaterial. Deutsche U-Boote versenkten im Atlantik viele dieser Schiffe mit Hilfslieferungen, die meist als Geleitzug unterwegs waren. Werden die Amerikaner an der Seite Englands in diesen Krieg eingreifen?

Als Japan am 7. Dezember 1941 völlig überraschend den US-Marinestützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii bombardiert, katapultiert es damit Deutschland in den Krieg mit USA. Zu dieser Zeit hatte Deutschland auch Luftangriffe auf England begonnen, die sehr bald dazu führen sollten, dass deutsche Städte von den Alliierten in Schutt und Asche gelegt wurden. Die Wende in diesem Krieg war eingeleitet worden. Ein Witz aus dieser Zeit: Ein altes Mütterchen kommt zum Herrn Bürgermeister und fragt ihn, wo denn die Sowjetunion und Amerika auf dem Globus zu sehen seinen. Als der Bürgermeister ihr das zeigt, auch Australien, Indien, Südafrika und viele andere Länder, die inzwischen gegen Deutschland kämpften, wollte sie noch wissen, wo denn Deutschland auf dem Globus sei. Sie musste warten, bis der Bürgermeister das Vergrößerungsglas geholt hatte. Als das Mütterchen das winzige Deutschland sah, fragte sie: "Ob das der Führer auch weiß?" Dieser Witz war Ausdruck der Sorge, wie wohl der Krieg ausgehen werde, wie lange er noch gehen würde, wie viele Verluste er noch bringt.

Im Februar 1943 wurde unsere Schulklasse, die Jahrgänge 1926 und 1927, als Luftwaffenhelfer zur Dresdner Heimatflak eingezogen. Wir bezogen Stellung auf dem Vogelwiesengelände am Elbufer. Wir waren stolz, an großen 8,8 cm-Flakgeschützen ausgebildet zu werden, sowjetische Beutekanonen, und (fast) wie Männer behandelt zu werden. Mein Bruder war inzwischen nach dem Abitur zur Kriegsmarine eingezogen worden, und auch mein Vater, inzwischen 49 Jahre, wurde wieder einberufen, dieses Mal nach Italien. So hatte meine Mutter nicht recht behalten, dass ihre Söhne zu jung für diesen Krieg sein würden.

Im März 1944, nach einigen Monaten "Reichsarbeitsdienst" - in Wirklichkeit hauptsächlich vormilitärische Ausbildung, wie schon vorher in der HJ (Hitlerjugend), wurde ich zur Luftwaffe eingezogen. Die Ausbildung machte ich in Douai/Nordfrankreich und in Auxerre. Inzwischen waren die Alliierten in Frankreich gelandet und befanden sich auf den Vormarsch in Richtung Deutschland, wie auch die sowjetischen Truppen im Osten. Der Krieg ging in seine heiße Phase - und seinem Ende entgegen. Ich wollte Flieger werden. Daran war nicht mehr zu denken, die Luftwaffe hatte weder Flugzeuge noch Treibstoff. So wurde ich zur 6. Fallschirmjägerdivision in Gardelegen versetzt - wir nannten sie "falsche Division", den ohne Flugzeuge gab es auch keine Fallschirmjäger.

Eine letzte Offensive sollte die Amerikaner aus Deutschland vertreiben, wo sie im Spätherbst 1944 eingedrungen waren. Wir sollen mit unseren russischen Beute-Granatwerfern Teil dieser "Rundstedt-Offensive" sein. Unser Bahntransport von Gardelegen bis Trier dauerte drei Wochen, weil ständige Luftangriffe die Bahnlinien zerstörten. Unser ersten Einsatz an Weihnachten 1944 endete mit einem Desaster. Unsere Granatwerfer hatten sich in weichem Boden, der nur oberflächlich gefroren war, festgeschossen, und gingen im Gegenangriff durch US-Panzer verloren. Wir konnten uns durch Flucht, und den Einbruch der Dunkelheit, retten. Noch einmal erhielten wir andere Granatwerfer, wurden wieder eingesetzt. Die Amerikaner umzingelten unsere Stellung, und am 5. Januar 1945 war für mich der Krieg zu Ende, ich geriet in US-Gefangenschaft.

Bei der ersten Befragung durch einen gut deutsch sprechenden US-Offizier, ob ich glaube, dass Deutschland den Krieg gewinne, und ob Hitler immer das beste für uns getan habe, antwortete ich - und die meisten meiner Kameraden - mit "ja". Wir wollten doch dem "Feind" nicht sagen, was wir wirklich dachten. Die erste Nacht in der Gefangenschaft war grausam. Wir mussten uns auf einem schneebedeckten Feld bis zum Morgengrauen hinlegen. Wer aufsteht, wird erschossen, so wurde uns gesagt. Gegenseitig hielten wir uns wach, denn wer eingeschlafen wäre, wäre wohl erfroren. Noch nie habe ich so auf einen Morgen gewartet! In einem belgischen Schloss wurden wir dann "aufgewärmt", in einen engen Raum über der Heizung eingesperrt. Das war fast genauso schlimm wie die Nacht auf dem Feld. Das erste Lager war in Bar-le-Duc, wo größere Zelte über dem schneebedeckten Boden aufgestellt worden waren. Brennholz durften wir uns in zerstörten Häusern in Lagernähe holen.

Der nächste Transport in Viehwaggons ging nach der Halbinsel Carantan, unweit von Cherbourg, drei Tage ohne Wasser. Dort sollten wir nach USA verschifft werden. Inzwischen hatte die US-Army bei Remagen den Rhein überschritten. Ein baldiges Kriegsende machte den Transport von uns Gefangenen nach USA hinfällig. Deshalb kamen wir nach Bolbec nahe Le Havre, ein Lager, das durch grausame Verhältnisse bekannt wurde. Die von den Amerikanern eingesetzte deutsche Lagerleitung und das Küchenpersonal verschob die für uns bestimmten Nahrungsmittel, und herrschte mit von den Amerikanern geduldeter Grausamkeit.

Wir waren froh, als wir nach Le Havre in ein Arbeitslager kamen. Zuerst lebten wir in sehr kleinen Zelten, Hundehütten genannt, jeweils vier Leute in einem Zweierzelt. Noch war Winter, es war nass und kalt. Wir wurden zu schwer körperlicher Arbeit im Hafengebiet eingesetzt, es gab wenig zu essen, Hunger war an der Tagesordnung. Auch im ersten regulären Lager änderte sich nichts, bis ab Anfang Mai 1945 die französischen Hafenarbeiter streikten. Sie wollten nicht mehr nachts und sonntags arbeiten. Jetzt brauchten uns die Amerikaner sehr dringend, auch für die Arbeiten, die bis dahin qualifizierte Franzosen verrichtet hatten. Wir wurden schnell als Kranfahrer, Schiffswindenoperatore, Ladungsprüfer ausgebildet, und plötzlich gut ernährt. Man hatte festgestellt, dass ich ein wenig Schulenglisch konnte, so wurde ich Tallyman, musste die Ladelisten führen. Wenig später machte man mich gegen meinen Willen zum Dolmetscher. Für jedes der vielen Arbeitskommandos musste ein Dolmetscher mitgehen. Nun brauchte ich nicht mehr körperlich zu arbeiten, aber ich musste mich bemühen, besser Englisch zu lernen. So erlebte ich in Le Havre, POE, das Ende dieses furchtbaren Krieges. Für uns alle war klar: Nie wieder wollten wir einen Krieg, nie wieder Soldaten - und Kriegsgefangene - werden!

 

Abkürzungen

  • POE = Port of Embarkation (Verschiffungshafen)
  • POW = Prisoner of War (Kriegsgefangener)
  • VE-Day = Victory in Europe-Day (Siegestag in Europe)
  • VJ-Day = Victory in Japan-Day

Zeittafel

  • 01.09.1939 Beginn des Krieges
  • 01.09.1939 - 19.09.1939 Polenfeldzug
  • 03.09.1939 Krieg mit England und Frankreich
  • 09.04.1940 kampflose Besetzung Dänemarks
  • 09.04.1940 Landung in Norwegen
  • 10.05.1940 Überfall auf Holland und Belgien
  • 10.05.1940 - 22.06.1940 Frankreichfeldzug
  • 22.06.1941 Kriegsbeginn gegen die Sowjetunion
  • 09.12. 1941 Japan bombardiert Pearl Harbor
  • 11.12.1941 Kriegsbeginn mit den USA
  • 18.02.1942 Goebbels verkündet den totalen Krieg
  • 1942 - 1945 schwere Luftangriffe auf Deutschland
  • 31.01./02.02.1943 Kapitulation von Stalingrad
  • 10.07.1943 US-Truppen landen in Sizilien
  • 06.06.1944 Alliierte landen in der Normandie
  • 07./09.05.1945 Deutsche Kapitulation/VE-Day
  • 06.08.1945 Atombombe auf Hiroshima
  • 02.09.1945 Kapitulation Japans/VJ-Day
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