> Wolfgang Herchner: Bratkartoffeln 1945

Wolfgang Herchner: Bratkartoffeln, 1945

Dieser Eintrag stammt von Wolfgang Herchner (*1928) aus Hamburg, Juli 2002:

Anfang Februar des Jahres 1945 folgte auf den Dienst als Luftwaffenhelfer, das Wehrertüchtigungslager und der Arbeitsdienst. In dem Arbeitsdienstlager Hohn bei Rendsburg waren etwa 300 Mann im Alter von 16-17 Jahren. Wir wurden auf die harte Art "frontreif" gedrillt und im April in einen Zug Richtung Berlin gesetzt, mit der grotesken Aufgabe, den russischen Vormarsch aufzuhalten. Waffen hatten wir nicht, die sollten wir uns an der Front aufsammeln, hieß es, da lägen genug davon herum. Der Luftraum wurde derzeit fast ausschließlich von alliierten Tieffliegern kontrolliert. Eben diese zerschossen kurz hinter Ludwigslust unsere Lokomotive. Die Arbeitsdienstführer, die für uns verantwortlich sein sollten, waren schon vorher irgendwo heimlich umgestiegen, in einen Zug Richtung Hamburg. Da standen so etwa die 150 Jungen zwischen der russischen und der amerikanischen Front, von den "Verantwortlichen" verlassen, erschrocken, hilf- und orientierungslos.

Ein junger Leutnant vom Afrikacorps und sein Hauptfeldwebel formierte kopfschüttelnd den Haufen "Gören" und versuchte, einen Weg nach Westen zu finden. Wegen der Tiefflieger waren nur Nachtmärsche möglich, also pendelten wir 20-40 Kilometer pro Nacht zwischen den Fronten hin und her, um irgendwo einen Durchschlupf zu den Amerikanern zu finden. Auf diese Weise brachten wir es auf 300-400 Kilometer Fußmarsch in zwei Wochen, ohne daß auch nur einer schlapp gemacht hätte.

Bei der Abfahrt in Rendsburg hatten wir Marschverpflegung erhalten: Einen Laib Kommißbrot, ein viertel Pfund Butter und eine kleine Mettwurst. Tagsüber versteckten wir uns in Wäldern oder in einem der zahlreichen kleinen Heidedörfer im Brandenburgischen. Bei Tageslicht durften wir uns, wenn überhaupt, nur im Schatten von Häusern oder Bäumen bewegen. Wenn ein Tiefflieger einen deutschen Stahlhelm auch nur erahnte, war Minuten später das Dorf ein rauchender Trümmerhaufen.

Es war ein solches Dorf an einem wunderschönen, sonnenklaren Tag, den ich selbst nach über 50 Jahren noch wie heute erinnere. Außer uns "Soldaten" waren noch einige Flüchtlinge aus Ostpreußen hier, um eine Atempause einzulegen. Auf der Suche nach etwas Eßbaren, sorgfältig jede Deckung nutzend, winkten mir 2 Kinder zu, die vor einer Scheune im Sand spielten. Eines von ihnen trug einen Stahlhelm, den es wohl irgendwo gefunden hatte.

Plötzlich näherte sich rasch das Motorengeräusch anfliegender Maschinen. In einem Reflex packte ich die beiden entsetzten Kinder und stürmte mit ihnen in die Scheune. Dort stand ich dann vor der kleinen, erbärmlich gekleideten, heruntergekommenen Mutter und vier weiteren Kindern, die an einem alten Holztisch hockten. Sie verstand die Situation sofort, als drei Maschinen vom Typ "Hurricane" über uns hinwegdonnerten. Als die Russen kamen, war sie, eine völlig mittelose Kriegerwitwe, mit ihren acht Kindern auf einem Leiterwagen und einem alten Gaul aus dem tiefsten Ostpreußen geflohen. Unter unvorstellbaren Strapazen war sie, nachdem ihr zwei Kinder buchstäblich verhungert waren, in dieses Dorf gekommen, um einfach einmal einen Tag lang auszuruhen. Auf offenem Feuer stand eine große Eisenpfanne voller duftender Bratkartoffeln. Ich sollte mich setzen und mit ihnen essen. Sie entschuldigte sich sogar, nichts anderes anbieten zu können als nur diese Bratkartoffeln.

Mein Hunger war beim Anblick der kleinen ausgemergelten Schar verschwunden und ich wollte nur noch schnell raus aus der Scheune. Aber selbst die Kinder hielten mich jetzt fest und zwangen mich zu bleiben. Das miteinander Teilen war damals eine Selbstverständlichkeit. Die Einladung nicht anzunehmen wäre zutiefst beleidigend gewesen.

Auch heute wird wohl jeder verstehen können, warum ich mich immer noch an die köstlichsten, wenn nicht "kostbarsten" Bratkartoffeln meines Lebens erinnere.

lo