> Wolfgang Herchner: Eine glückliche Fügung

Wolfgang Herchner: Eine glückliche Fügung

Dieser Eintrag stammt von Wolfgang Herchner (*1928) aus Hamburg, Juli 2002:

In der Wahl seiner Eltern kann man, wie allgemein bekannt, nicht vorsichtig genug sein. Die jetzt folgende Geschichte beweist, daß diese Empfehlung auch für das Geburtsdatum zutreffen kann:

16- und 17jährige Kriegsgefangene wurden etwa ab Juli 1945 als Jugendliche nach Hause entlassen. Endlich gab es wieder Hoffnung nach Hunger, Elend, Angst und Krankheit. Ungeduldig wartete ich, bis die Reihe an mich kam.

Nach einem Blick auf den Wehrpaß zeigte der englische Offizier mit ausgestrecktem Finger auf mich: "Not you - go", näselte er und war schon mit dem Nächsten beschäftigt. Der deutsche Dolmetscher bemerkte meine Fassungslosigkeit, und erklärte kurz: "Jugendliche sind alle, die nach dem 1. April 1928 geboren sind, dazu gehörst du wohl nicht?" Er hatte recht, mein Geburtstag liegt genau einen Tag früher, am 31. März. Obwohl sie sich sehr um mich bemühten, kam ich mir auf einmal sehr verlassen vor unter all den alten Frontsoldaten.

Mit einer neuen Bekanntmachung war diese Depression schon bald verflogen. Wer sich freiwillig zur Landarbeit meldete, hieß es jetzt, würde entlassen. Ich war dabei, erhielt den Marschbefehl und heftete mir das leuchtend grüne Stoffdreieck an die Uniform, das mich als ordnungsgemäß entlassenen Kriegsgefangenen auswies. In Viehwagen gepfercht kamen wir nach mehreren Stunden Irrfahrt in Bad Oldesloe in Holstein an. Eine bewaffnete Eskorte brachte uns zur Ortskommandantur. Irgendwann wurde der Name aufgerufen und man ging meist zu zweit in eines der numerierten Zimmer. Zusammen mit einem baumlangen, breitschultrigen Matrosen stand ich vor einem kleinen Beamten mit Glatze und säuerlicher Mine. Unsere erwartungsvollen Blicke schienen ihn nicht zu interessieren, denn er fuhr unbeirrt fort, in seinen Unterlagen zu blättern. Um die Wichtigkeit seines Tuns noch zu unterstreichen, knallte er je zwei Stempel auf jedes Formular, bevor er sich uns zuwendete. Die Wartezeit hatte der Matrose ausgenutzt und gefragt: "Woher kommst du denn"? Wir kamen beide aus Hamburg und gaben uns die Hand. "Meine Frau und die beiden Kinder sind 1943 durch Bomben umgekommen", berichtete er trocken, "ich weiß sowieso nicht wohin, werde mich erst einmal ordentlich durchfressen beim Bauern und dann seh´n wir weiter". Fast entschuldigend meinte ich, eigentlich nur nach Hause zu wollen, und erklärte ihm schnell, wieso es zu meiner freiwilligen Meldung gekommen war.

Gerade war meine Geschichte zu Ende, als der Beamte mich ansah, um mir kurz und bündig Ort und Adresse zuzuweisen, wo ich mich innerhalb 24 Stunden zu melden hätte. Das Formular mit meinem Namen lag vor ihm, als plötzlich eine behaarte Seemannspranke ihn daran hinderte, weiter zu schreiben. Der "Sauertopf" zuckte zusammen, fuhr in seinem Stuhl zurück und starrte entsetzt auf den Matrosen. Die linke Hand auf den Telefonhörer gelegt, sagte der mit sonorer und betont ruhiger Stimme:" Der Junge kommt nach Hause zu seinen Eltern und sonst nirgend wohin", stempelte das Entlassungspapier zwei mal mit Nachdruck und gab es mir. Augenzwinkernd meinte er dann: "Mein Schreibstubenfreund und ich haben sicher noch eine halbe Stunde miteinander zu tun. Das muß reichen, Junge, dann mach´ mal die Fliege und grüß Hamburg von mir!" Mein "Dank dir, Kamerad", brachte ich gerade noch heraus, grapschte nach dem Formular und eilte aus der Tür. Obwohl die Sorge um den Seemann direkt hinter mir herlief, ergriff mich ein ungeahntes Freiheitsgefühl.

Auf dem Bahnhof war gerade ein Lazarettzug aus Rußland auf dem Weg nach Hamburg gestoppt worden. Alles, was auf dem Bahnsteig stand, sprang auf und schon zog die Lokomotive an.

Ich stand allein auf dem Perron des letzten Wagens, dachte an den Matrosen und ließ meinen Tränen freien Lauf.

lo