> Wolfgang Herchner: Flucht aus der Diktatur in die Gefangenschaft

Wolfgang Herchner: Flucht aus der Diktatur in die Gefangenschaft

Dieser Eintrag stammt von Wolfgang Herchner (*1928) aus Hamburg, Juli 2002:

Im April 1945 war der Zug von Rendsburg bis in die Nähe von Ludwigslust gekommen, als amerikanische Tiefflieger unsere Lokomotive zerschossen. Verschreckt und verängstigt kletterten etwa 150 "Soldaten" - alle um die 16 oder 17 Jahre alt - aus den Abteilen und äugten mißtrauisch in den Himmel. Es blieb ruhig. Wie aus dem Nichts standen plötzlich ein Leutnant und sein Hauptfeldwebel, beide braungebrannt in der Uniform des Afrikacorps, vor ihnen. "Wo sind eure Vorgesetzten?", fragten sie uns, mit einem staunend ungläubigen Blick auf den Haufen bleicher Jugendlicher. "Die haben uns unterwegs in irgendeinem Bahnhof verlassen, um in den Zug Richtung Norden umzusteigen, der zufällig auf dem Nebengleis hielt". "Wir können die Jungen doch nicht ins russische Maschinengewehrfeuer laufen lassen", meinte der Leutnant, ließ antreten, abzählen und rannte mit uns in den nächsten Wald in Deckung.

"Wenn wir zu den Amerikanern wollen, können wir wegen der Tiefflieger nur nachts marschieren", meinte er zu uns, "ruht euch noch ein wenig aus, nach Sonnenuntergang geht´s los". Wir vertrauten ihm sofort und das blind. Hatten wir doch wieder jemanden, der Befehle erteilte, denn gehorchen konnten wir gut. Selbst Initiative zu ergreifen, hatte man uns abgewöhnt, nach dem Motto: "Nicht denken, nur parieren"!

In stockfinsterer Nacht brachen wir auf, hintereinander in einer Reihe die nächste dahinter und versetzt auf der andere Seite der Straße. Das war eine Vorsichtsmaßnahme wegen der Tieffliegerangriffe. In der Hitlerjugend hatte ich eine Feldscherausbildung, d.h. eine Sanitätsausbildung, gemacht und mußte jetzt als Sanitäter an der Spitze marschieren, hinter dem Leutnant. In den beiden Bauchtaschen hatte ich die übliche Erste-Hilfe-Ausrüstung. Die medizinische Versorgung der Soldaten war damals stark vereinfacht: Schmerzen oberhalb des Nabels behandelte man mit Aspirin, solche unterhalb desselben mit Rizinusöl und den Rest mit Pflaster.

Mit Nachtmärschen von 30-60 Kilometern zogen wir durch Brandenburg zwischen den Fronten hin und her. Wir versuchten, einen Durchschlupf nach Westen zu finden. Aus den Wäldern links und rechts des Weges feuerten gelegentlich entflohene Kriegsgefangene, Russen und Polen, auf uns, ohne jemanden zu verletzen. Schließlich fanden wir irgendwo ein verlassenes Waffenlager. Jetzt konnten wir zurückschießen. Mir hatte man eine Panzerfaust in die Hand gedrückt. Mit dem Ding konnte ich genau so wenig umgehen, wie die meisten meiner Kameraden mit ihren brandneuen Gasdruckgewehren, aber immerhin konnten wir jetzt so tun als ob.

Für die zwei Wochen unserer Odyssee von fast 400 Kilometern, zu Fuß, mit Waffen und Tornistern, hatten wir ein Kommißbrot, ein halbes Pfund Butter und eine kleine Dauerwurst als Verpflegung. Unsere Kleidung waren die Uniformen des Arbeitsdienstes. Viele hatten keine Strümpfe und trugen stattdessen Fußlappen. Diese unappetitlichen Bekleidungsstücke vor dem Marsch so um die Füße zu wickeln, daß sie nicht drückten oder scheuerten, war eine Kunst, die nicht alle beherrschten. Nach unseren nächtlichen Gewaltmärschen durfte ich Blasen an den Füßen versorgen in Ausmaßen, wie ich sie hinterher nie wieder zu Gesicht bekommen habe. Sogar meine Behandlung haben die Jungen überlebt. Schlapp gemacht hat auf dem ganzen Marsch überhaupt keiner. Der ständige militärische und sportliche Drill in den Jahren zuvor hatte uns hart im Nehmen und zäh gemacht.

Die Nacht vom 7. auf den 8. Mai war frisch und sternenklar. Der ferne Geschützdonner schien immer näher zu kommen. Hinter uns krochen am Horizont die feuerspeienden Russenpanzer, unheimlichen Käfern gleich, vor uns warteten die Amerikaner auf das Zusammentreffen. Die Angst, in russische Kriegsgefangenschaft zu kommen, ließ uns im Morgengrauen mit letzter Kraftanstrengung weiterlaufen. 40 Kilometer hatten wir schon geschafft. Unweit von uns eilten andere Einheiten nach Westen, ebenfalls die Furcht im Nacken.

Das mehr gekaute, als gesprochene "Come on boys" klang wie Musik in unseren Ohren. 20 Minuten vor der Vereinigung der alliierten Fronten hatten wir die Amerikaner erreicht. Farbige US-Soldaten überwachten die Waffenabgabe. Wir kannten Neger bisher nur aus Filmen und Büchern, jetzt standen sie, die schußbereite Maschinenpistole unter dem Arm, vor uns. Jeder warf auf den großen Haufen was er gerade bei sich trug, Gewehre, Bajonette, Munition und Pistolen. Gerade wollte ich meine Panzerfaust auf die gleiche Art loswerden, als ein farbiger GI auf mich zusprang und mit entsetztem Gesichtsausdruck schrie: "Hold it, easy - be careful"! Zart, wie eine Hebamme das Neugeborene, nahm er mir die Panzerfaust ab, um sie ein Stück weiter weg sanft auf den Boden zu legen. Die Erklärung für dieses sonderbare Verhalten bekam ich später. Einen Tag zuvor hatten die Deutschen weisungsgemäß alles auf den großen Haufen geschmissen und dabei ist eine Panzerfaust losgegangen und hat ein amerikanisches Transportfahrzeug in einen Trümmerhaufen verwandelt. Der Schwarze hatten schlicht Angst, mit Recht, wie ich zugeben muß!

Wir spürten nun mit einem Mal, wie es ist, ohne Furcht vor russischer Gefangenschaft, polnischen Heckenschützen oder den Maschinengewehren der Tiefflieger zu sein. Die Kapitulation hätte für uns eine Art Befreiung darstellen sollen, erleichtert waren wir durchaus, befreit jedoch nicht. Jetzt mußten wir die Schmach, ein Kriegsgefangener, also ein Verlierer, zu sein, am eigenen Leib erfahren. Diese Rolle war neu für uns. Uns hatte man gelehrt, die unbesiegbaren Gewinner zu sein.

Um alles hatte man uns betrogen, unsere Kindheit, den Glauben an das deutsche Volk, dessen Führer, seine siegreiche Armee und die Unfehlbarkeit ihrer als Helden dargestellten Offiziere. Als Kanonenfutter mißbraucht, verlassen von den Vorgesetzten, aller Ideale beraubt, hungrig und erschöpft waren wir jetzt in der Gewalt unserer ehemaligen Feinde. Wir fühlten uns erniedrigt, ausgebrannt und jetzt auch noch schuldig an den Massenmorden der Nazis, die auch uns erstmalig in ihrem ungeheuerlichen Ausmaß offenbart wurden. Mit unserem Glauben hatte man auf das Erbärmlichste Schindluder getrieben. Wie wir das letztendlich bewältigt haben, wissen wir - ich zumindest - nicht mehr Um die Psyche hat sich damals ohnehin keiner gekümmert. Das Überleben war uns jetzt wichtiger als alles andere. Wir wurden in die Kollektivschuld der Deutschen mit einbezogen, was für die Ganze Welt Gültigkeit hatte. Als ein Bürger unseres Landes hatte ich das mit zu tragen das war und ist mir auch heute noch klar. Doch habe oder hatte ich mich bei irgend jemanden zu entschuldigen damals oder heute? Ich wüßte nicht wofür und schon gar nicht bei wem.

Die für mich erkennbare "Schuld" meiner Generation ist es, beherzigt zu haben, was man uns von Kindesbeinen an als einzige Wahrheit gelehrt hatte, nämlich an den Führer und das Vaterland zu glauben, ihnen als Soldat zu dienen und sie zu verteidigen und sei es mit unserem Leben. Immerhin haben wir für diesen Irrtum recht heftig und lange leiden müssen. Habe ich mich deshalb, auch heute noch, als ehemaliger Nazi zu verstehen?

Die vermeintliche Leichtgläubigkeit meiner Generation ist oft und langatmig kritisiert worden. Der Einsatz Jugendlicher zu Hause und an der Front, die damit verbundenen Härten und Entbehrungen wurden, wenn überhaupt, bestenfalls kopfschüttelnd kommentiert. "Feige Mitläufer, Kadavergehorsam und ohne Eigencourage waren die Attribute für uns Jugendliche der damaligen Zeit zumindest von denen, welche die ganze Entwicklung hatten "immer schon klar hatten vorhersehen können". Vielleicht wird diese Ansicht auch heute noch vertreten. Kritikern dieser Art sollten aber wissen, daß Mut gegen die herrschende Kaste der Nazis aufzubegehren einem Todesurteil gleich kam und junge Menschen wollten leben, genau wie Jugend heute.

Außer um den Glauben, den Idealismus und die Begeisterungsfähigkeit hat man uns um etwas unwiederbringlich Kostbares gebracht, nämlich eine behütete Kindheit und eine unbeschwerte Jugend. Wir sind eine betrogene Generation!

Die Erkenntnisse aus der Vergangenheit machen es mir unmöglich, sowohl Neonazis als auch andere Radikale religiöser oder politischer Couleur überhaupt zu verstehen,

Gott beschütze uns vor ihnen,
welchen auch immer!

lo