> Wolfgang Herchner: Geschwister

Wolfgang Herchner: Geschwister

Dieser Eintrag stammt von Wolfgang Herchner (*1928) aus Hamburg, Juli 2002:

1934 wurde meine Halbschwester geboren. Mein Vater hatte vier Jahre nach der Scheidung wieder geheiratet. Wir freuten uns über das Baby. Das Kind entwickelte sich zunächst ganz normal, nach etwa einem Jahr jedoch fiel auf, daß sie weder sprechen noch laufen, ja kaum kriechen konnte. Es wurde immer klarer, daß Edith ein behindertes Kind war. Ihre geistige Entwicklung blieb völlig aus, sie war ein Vollidiot, wie man das damals nannte.

In dieser Zeit wurden auf Hitlers ausdrücklichen Befehl alle Behinderten und rassisch nicht "Einwandfreien" zu Untersuchungen gezwungen. Es sollte die Weitergabe kranken Erbgutes verhindert werden. Die Diagnosen stellte man in bestimmten Krankenhäusern. Dort wurden dann auch hemmungslos Sterilisationen und Kastrationen durchgeführt, oder die Angehörigen erhielten einen Brief.

Diese lapidaren Schreiben enthielten eine Mitteilung an die Familien, daß ihr Angehöriger, ihr Kind, der Bruder oder die Schwester schnell und völlig unerwartet verstorben sei. Der Grund war meistens eine Lungenentzündung oder ähnliches. Wegen der hohen Infektiosität sei die Leiche sofort verbrannt und im christlichen Sinne beigesetzt worden. Der Totenschein liegt bei, Unterschrift - Heil Hitler! -

Eines Tages erhielt mein Vater, selber Arzt, die Aufforderung im Namen des Führers, Edith in eine Hamburger Kinderklinik einzuweisen. Es gab keine Zeit zu verlieren. Wir kannten eine alte Diakonissin, die in ihrem kleinen Haus am Stadtrand schon vier geisteskranke Menschen verborgen hatte. Edith wurde dort hingebracht. Wie Vater den Behörden das Verschwinden seiner Tochter hat erklären können, weiß ich nicht. Er hat darüber nie gesprochen, wahrscheinlich aus Angst, daß wir uns verplappern könnten.

Etwa ein Jahr später, das Versteck war wohl doch verraten worden, brachte Vater das Kind nach Schleswig. Dort hatte er einen Nervenarzt aufgetan, der in seinem Haus insgeheim mehrere geistig Kranke versorgte. Das Haus lag in einem Wald, fernab von jeglicher Zivilisation. Wie der Arzt die polizeilich natürlich nicht gemeldeten Menschen hat kleiden und ernähren können, ist mir ein Rätsel. Er bekam für sie weder Lebensmittelkarten noch Kleiderbezugsscheine.

1947 haben wir Edith - 13-jährig - beerdigt.

Eine Lungen- und Darmtuberkulose hatte als Folge des Hungers ihrem Leben ein Ende gesetzt.

lo