> Wolfgang Herchner: Pimpfe

Wolfgang Herchner: Pimpfe

Dieser Eintrag stammt von Wolfgang Herchner (*1928) aus Hamburg, Juli 2002:

1938: Endlich waren wir zehn Jahre alt und durften (mußten) in die Hitlerjugend, besser in das Jungvolk - das waren die 12-14jährigen - eintreten. Wir waren "Pimpfe", wie man damals, oft ein wenig abfällig, sagte. In unseren tollen Uniformen hingegen fühlten wir uns selbst schon richtig männlich. An Wochenenden und Mittwochs nachmittags befahl man uns zum Dienst.

Man drillte uns in allem, was hart machte wie Kruppstahl, flink wie Windhunde und zäh wie Leder. Sportliche Ertüchtigung, Findigkeit in Geländemärschen mit Tarnungs- und Orientierungsübungen. Überlebenstraining, Schießen, Werfen mit Handgranaten und Erste-Hilfeleistungen sowie Mutproben aller Art forderten den jugendlichen Ehrgeiz, um einen kriegstüchtigen Nachwuchs heranzuziehen. In Ferienlagern wurde das Gemeinschaftsleben im soldatischen Sinne vorgeführt und die Jungen gleichzeitig dem Elternhaus entwöhnt. Man gab ihnen so das Gefühl, dem Vaterland und vor allem dem "Führer" zu dienen, und eben das war das Höchste und Erstrebenswerteste für einen Hitlerjungen. Etwas anderes haben wir damals weder gelernt noch erfahren.

Mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges, September 1939, bekam das alles einen aktuellen Sinn für uns. Wir waren eine gut funktionierende, befehlsgewohnte und gehorsame "Truppe", die es kaum erwarten konnte, für Führer, Volk und Vaterland zu kämpfen, zu siegen und selbstverständlich auch zu sterben.

Es soll und kann keine Entschuldigung sein dafür, was Deutsche den Menschen nicht arischer Abstammung oder anderer Denkungsart angetan haben, aber wie hätte sich eine in absolutem Gehorsam gegenüber der Obrigkeit erzogene und auf Grund ihres Alters ohnehin kritikunfähige Jugend verhalten sollen? Für alles, was der Führer mit dem schonungslosen Einsatz der Deutschen erreichte, hatten wir doch nur staunende Begeisterung und den Wunsch, selbst etwas, möglichst Heldenhaftes zu tun. Daß einen Nazigegner, gefaßt oder auch nur denunziert, gegebenenfalls der Tod durch Genickschuß erwartete - verbunden mit Sippenhaft - soll hier nur am Rande erwähnt werden. Die Erziehung in der Schule, Literatur und Kunst waren ausgewählt nach nationalsozialistischen Gesichtspunkten und dienten letztlich dem gleichen Ziel, wie die körperliche, politische und geistige Ausbildung der Jugend. Zu wenig Eltern trauten sich, ihren Kindern "revolutionäres" Gedankengut zu vermitteln aus Furcht, ihre Kinder zu verlieren oder gar von ihnen denunziert zu werden.

Als dann die militärischen Niederlagen auf deutschem Boden kamen und wir, 17jährig, ohne Waffen unter ständigem Tieffliegerbeschuß dem Feind "zum Fraß" vorgeworfen wurden, kamen Zweifel am System, an der Unfehlbarkeit der Vorgesetzten sowie die Angst, das junge Leben für eine falsche, ohnehin verlorene Sache, einzusetzen.

Verhungert, verdreckt, verlaust, gedemütigt und demoralisiert sollten wir erstmalig erfahren, welche Verbrechen durch Deutsche in den KZ´s, Gefangenenlagern, unter Flüchtlingen, Ghettobewohnern und Wehrlosen stattgefunden hatten. Wir waren über die Berichterstattungen in Wort und Bild, z. B. aus den Vernichtungslagern der SS, ebenso entsetzt, empört und verzweifelt wie jeder andere Mensch auf dieser Welt.

In einer Diktatur wird Kritik weder gelehrt noch geduldet, sonder eher geahndet oder gar mit dem Leben bezahlt.

lo