Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
Vorwort
Einführung
Abbildungsteil
Regionale Zentren
Dokumentation
Anhang

Perlen vor die Säue. Eine Boheme im Niemandsland

Abschied mit Staatsempfang

Mit Kernseife, Handbürste und einer Waschmaschine vollzieht Kurt Buchwald die ‘Große Säuberung’. Ein Stalin-Porträt auf knittrigem Foto-Leinen muß mehrere Male durch den rituellen Waschgang des Fotografen und Aktionskünstlers aus Ostberlin, ehe es langsam an Konturenschärfe und Strahlkraft verliert. Völlig verschwindet das Konterfei des russischen Diktators allerdings nicht: Es bleibt ein Schemen, ein unauflösbarer Rest.

Der symbolische Versuch einer radikalen Loslösung von den erfahrenen Prägungen im spätstalinistischen Lebensraum – so das sich aufdrängende Deutungsmuster – war Teil und unausgesprochenes Motto eines dreitägigen Kunstspektakels in der französischen Hauptstadt, das vom 19. bis 21. Januar 1990 in der Grand Halle de la Villette, dem alten Pariser Schlachthof, stattfand. Sein Titel “L’autre Allemagne hors les murs”, das andere Deutschland außerhalb der Mauern, gab der improvisierten Großveranstaltung den konzeptionellen Rahmen vor.

Wenige Monate nach den revolutionären Ereignissen in Leipzig und Berlin nahmen 200 ostdeutsche Tänzer, Musiker, Schauspieler, Maler, Dichter, Modisten, Performer, Fotografen und Filmemacher teil, denen es in den letzten beiden Jahrzehnten der DDR gelang, neben und in den ertrotzten Freiräumen der offiziellen Kultur eine “andere Kultur” zu etablieren.

Die Pariser Schau vereinte einen großen Teil ihrer wichtigsten Protagonisten und Gruppen. Unter dem imposanten Dach der 1864 erbauten Viehmarkt- und Schlachthaushalle, die mehr als 13.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche birgt, lasen die Prenzlauer Berg-Literaten um Bert Papenfuß-Gorek, spielten Bands wie Ornament und Verbrechen und stellten Maler wie Hans Scheuerecker, Klaus Killisch und der frühe Anreger Jürgen Böttcher alias Strawalde aus oder spielte das theater Zinnober, die erste freie Theatergruppe der DDR. Installationen und Aktionen der Dresdner Performance-Gruppe Autoperforationsartisten waren in Paris genauso zu sehen wie die bislang nur in Untergrund-Fanzines erschienenen Comics von Joachim Damm und Holger Fickelscherer.

Das Festival wurde in wenigen Wochen vom Ostberliner Kunsthistoriker Christoph Tannert und dem Pariser Journalisten Maurice Najmann organisiert, der französische Kulturminister Jack Lang unterstützte das Projekt finanziell. Auch Ministerpräsident Mitterand ließ es sich nicht nehmen, einen Empfang im Elysée-Palast für die bunte Abordnung aus dem zweiten deutschen Staat zu geben.

Es war ein ehrender Abschied von der Revolte, denn es blieb die erste und gleichzeitig letzte Werkschau der ostdeutschen Subkultur. Die Pariser Tage gaben den repräsentativen Rahmen für das einzige offizielle Treffen der unabhängigen Künstler, denen bewußt war, daß mit dem Intermezzo an der Seine mehr als ein Kunstspektakel zu Ende ging, als sie sich wieder auf den Rückweg nach Karl-Marx-Stadt, Leipzig, Dresden und Ostberlin machten. La Villette markierte das Ende einer Lebensform, der durch den Fall der Mauer und dem bald darauf folgenden politischen Exitus des DDR-Systems die Grundlagen entzogen waren. Im ersten Kontakt mit den Mechanismen des westlichen Kunstmarktes wurde vielen zugleich die nötige Neubestimmung ihrer künstlerischen Position deutlich, die sich bislang vorrangig über das Aufzeigen einer kulturellen Differenz im geschlossenen System des Staatssozialismus definiert hatte.

Die Pariser mußten etwas spüren von dieser Situation zwischen Neulandgier, Zukunftsschock und ratloser Rückbesinnung. So blieb die Resonanz auf das dreitägige Kunstspektakel eher verhalten und pendelte zwischen Unverständnis, Neugier und Interpretationsversuchen, die vorrangig Parallelen zwischen dem Pariser Frühling 1968 und dem Leipziger Herbst 1989 bemühten. “Für viele Pariser Neugierige war ein Blick auf Else Gabriels aufgespießte Schafhirne oder Jörg Knöfels Blechlabyrinth mit Bildern vom Schweineschlachten, entworfen als blutig-brutale Antithesen zur gemütlichen Nischengesellschaft Ostdeutschlands nurmehr eine Erinnerung ans eigene Gestern”, berichtet Joachim Fritz-Vannahme in der Wochenzeitung Die Zeit, “als ihre 68er-Generation mit Schock und Schrei sich aus bravbürgerlicher Gesellschaft zu befreien versuchte.”(1)


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