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Der entscheidende Vorteil der Einführung des Boheme-Begriffs liegt neben den oben genannten darin begründet, daß er aus einer Sackgasse führt, in die eine Annäherung an das Phänomen unweigerlich gerät, wenn sie der offiziellen Staatskunst Kunst, die im Auftrag, mit Hilfe von oder in staatlichen Institutionen entstanden ist eine inoffizielle Kunst die außerhalb der Strukturen und jenseits der Staatskultur entstanden ist starr und unversöhnlich entgegenhält. Dieses Gegensatzpaar ist nach Meinung der Autoren für die Beschreibung der DDR-Boheme nur bedingt tauglich. Vor allem von 1971 bis 1976 und ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre sind stattdessen die Schnittmengen zwischen offizieller und inoffizieller Kultur beachtlich. Die Herausbildung einer angeblich autarken und völlig unabhängig agierenden Kunst- und Kulturszene erweist sich nach heutigem Recherchestand als Fiktion. Subkultur in der DDR war hingegen immer geprägt von Anpassung und Widerstand, Flüstern und Schreien, Integrations- und Zentrifugalkräften. Statt radikaler Abgrenzung oder verwirklichter Autonomie ist eher ein osmotisches Verhältnis zu konstatieren. Taktische Allianzen und ein Ausschreiten sich bietender Räume in den staatlichen Strukturen sind weit verbreitet. Aus dieser Sicht ist der von Gabriele Muschter und Rüdiger Thomas aufgestellten Hypothese, daß die junge Generation am Ende der 70er Jahre ein neues Kunstverständnis (entwickelte), das sich der herrschenden Kultur und ihren Institutionen entzog und einen eigenen Weg außerhalb des politischen Systemzusammenhangs suchte(13), nur bedingt zuzustimmen. Ein gemeinsames Kunstverständnis hat die bunt schillernde, aus unterschiedlichsten Typen und Mentalitäten zusammengesetzte Subkultur nie gehabt. Man tolerierte ganz unterschiedliche Poetiken, Mal-Gründe und Seinsweisen, wenn nur die anderen Schnittstellen stimmten. Schon im engeren und gut dokumentierten Bereich der Literatur ist die Eingrenzung auf einen bestimmten Kunstbegriff der Boheme nicht haltbar. Postrukturalistische Theorie-Anleihen aus dem Fundus der französischen Meisterdenker von Michel Foucault bis Jean-Francois Lyotard finden sich genauso wie Adaptionen der amerikanischen cut up-Technik, dadaistische Sinnattacken stehen gleichberechtigt neben eher konservativ anmutenden sozialdokumentarischen Prosaformen. Interessanter sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen des Kunsthistorikers Christoph Tannert, der jene Alternativkultur publizistisch begleitete und selbst zu einer der wichtigsten Schlüsselfiguren wurde. Wir wissen jetzt, daß diese andere Kultur im wesentlichen unter Treibhausbedingungen entwickelt und von allen Seiten akribisch begutachtet wurde. Deshalb ist sie aber weder besser noch schlechter als ihr Gegenüber. Deshalb ist sie auch nicht störrischer oder aufmüpfiger als der verordnete Rest. Zur Zeit ihres Bestehens war sie exotisch, innovativ in ihrem formalen Haushalt, bizarr in ihrer Selbstbezüglichkeit, hermetisch gegenüber den Uneingeweihten, eine Frischzellenkur für das Staubgebäck der Gerontokratenperspektive in der DDR. Sie provozierte Polizeieinsätze gegen Galerien und Wohnzimmerveranstaltungen, und sie stabilisierte Gefühle, die dem kollektiven Zwang im Vormundschaftsstaat in die Quere liefen. Insofern hat sie viel bewirkt, Identitäten geprägt, Welle gemacht und ist dem permanenten Stillstand des realsozialistischen Modells zuvorgekommen.(14)
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