Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
Vorwort
Einführung
Abbildungsteil
Regionale Zentren
Dokumentation
Anhang

Auch der Mediziner Peter Hünlich alias IMB “Werner” organisierte auf Geheiß seines Auftraggebers im Keller seiner Villa Veranstaltungen, an denen zwischen 70 und 150 Personen teilnahmen. Die als Köder ausgelegte subversive Aura zog allerdings nicht nur “Zielpersonen” aus dem künstlerischen Untergrund an, sondern auch andere MfS-Zuträger, die nun ihrerseits über die vom MfS inszenierte Gegenkultur berichteten. “In diesem ausgebauten Keller der Villa gibt es mehrere große Räume mit einer großen Bar und einen geheimen Salon, der durch einen Schrank zu betreten ist”, heißt es in einem Stasi-Bericht über eine Versteigerung von Werken des kurze Zeit später inhaftierten Siebdruckers Jürgen Gottschalk. “In diesem Salon waren ca. 35 Bilder/Grafiken von Gottschalk zur Versteigerung ausgestellt. Eingerichtet ist dieser Raum wie eine Art Gastraum. Die Nischen sind mit Holz verkleidet, halbdunkle Beleuchtung, schöne Musik. Die Bar ist sehr groß und stammt vermutlich noch aus der Zeit des ehemaligen Besitzers mit großem Tresen, Mixmaschine usw. An Getränken, angefangen bei Sekt über Radeberger Bier und fast allen Sorten Schnaps und Wein ist in der Bar alles vorhanden. Es bedienen zwei Personen, eine Bardame und ein Mann, denen man anmerkt, daß sie Profis auf diesem Gebiet sind. (...) Nach Meinung des IMB trifft sich in diesem Kellerräumen der Villa des Dr. H. der Untergrund künstlerischer Kreise. Er begründet seine Meinung und Auffassung damit, daß schon beim Empfang der eingeladenen Gäste eine genaue Kontrolle vorgenommen wird und keiner Einlaß findet, der keine Einladung mit den drei Unterschriften vorzeigen kann.”(55)

Trotz eines massiven Einsatz von Inoffiziellen Mitarbeitern und der verfügbaren Observationstechnik gelang es dem MfS nicht, die Boheme fremdzubestimmen oder gar fernzusteuern. Eine Tatsache, die auch in den zahlreichen Porträts im Regionalteil abzulesen ist, obwohl die Mielke-Behörde ihre inoffiziellen Mitarbeiter nicht nur – wie oben berichtet – zu gegenkulturellen Drahtziehern machte, sondern sie mitunter auch geradezu mit der Lizenz zum Dissidententum ausstattete, um an die handlungsbestimmenden Kreise und inneren Zirkel zu gelangen. So wurde ein IM im Umfeld des Filmemachers und Mitherausgebers der Untergrundzeitschrift A Drei in Karl-Marx-Stadt, Claus Löser, von der MfS-Bezirksverwaltung regelrecht aufgefordert, gesellschaftskritische Fotocollagen über die Umweltzerstörung im Erzgebirge herzustellen, damit er bei der Zielperson Löser Bonuspunkte sammeln konnte. Diese Aufträge waren keine Seltenheit. Aus den Kunstanweisungen wurden aber nur in wenigen Fällen wirklich akzeptierte Werke, so daß auch hier, aus einer ganz anderen Strategie heraus, nicht von einer Simulation des künstlerischen Untergrundes die Rede sein kann.

Die Existenz eingeschleuster Berichterstatter wurde zudem nicht erst nach der Wende bekannt. Vielmehr war diese Tatsache stets immanenter Bestandteil des Boheme-Lebens, auch wenn es verständlich scheint, daß sich nach der Wende unmittelbar Betroffene über diesen Vertrauensbruch von Freunden und Mitarbeitern mehr als konsterniert zeigten. Dennoch war die Anwesenheit der Staatssicherheit eine bekannte Tatsache, auf die die meisten Kreise auf eine spezielle Art reagierten. Statt konspirativer Abschottung nutzte die Boheme vor allem die Methode des Alles-Öffentlich-Machens zur Abwehr von Spitzeln und interner Hypochondrien, die allerdings nie völlig auszuschließen waren. So kam es oft zu Gerüchten – unhaltbaren meist – die für die Betroffenen nicht auszuräumen waren, da keine Beweise und schon gar keine Gegenbeweise vorgelegt werden konnten. Oft wurden solche Denunziationen vom MfS selbst gestreut – die wohl effektivste Art, gruppendynamische Prozesse in Gang zu bringen. So kochten meist haltlose Unterstellungen in der Gerüchteküche hoch, eine Atmosphäre entstand, die, wie der Dichter Uwe Kolbe beschreibt, wichtige Aktitivitäten blockierte und “einer der widerlichsten Aspekte des DDR-Lebens”(56) war. Doch der Effekt nutzte sich merklich ab, so daß es beispielsweise für Jürgen Schweinebraden völlig klar war, daß auch er verdächtigt wurde. “Es war weder für mich noch für meine Freunde verwunderlich – aber auch kein Problem –, daß etwa zwei Jahre nach der ersten Ausstellung das Gerücht aufkam, ich selbst sei Mitarbeiter des MfS in höherem Dienstrang. Ich machte mir darüber ebensowenig Gedanken, wie ich mir jemals Gedanken über die Methoden der Stasi gemacht hatte. Die Anschuldigung besaß in einem Klima der Angst, mangelnder Zivilcourage und Gleichgültigkeit, in dem jeder nur seine eigene, von anderen möglichst nicht einzusehende Nische suchte, eine gewisse Zwangsläufigkeit und eine Qualtität, mit der man leben mußte.”(57)


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