Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Die Ausreise zahlreicher Protagonisten wirkt auf Leipzigs subkulturelle Szene in den 80er Jahren wie ein fortdauernder Aderlaß. Dennoch bleibt die Messestadt für die südlichen Provinzen weiterhin ein Magnet – etwa für den schrillen Chansonier, Entertainer und “Ost-Villon” Jens-Paul Wollenberg, der 1988 an die Pleiße wechselt. “Leipzig war kulturell gesehen die freieste Stadt der DDR”(18), erinnert sich Wollenberg an die Gründe seines Weggangs aus Quedlinburg. Dort kündigt der wilde Sänger, Jahrgang 1952, seinen Job als Landbriefträger, weil er mit seinen Liedgruppen Verbot auf Verbot kassiert. Bereits 1976 hatte der gelernte Koch und langjährige Stadttheater-Requisiteur in seiner Heimatstadt die Formation Quitilinga gegründet. Er interpretiert vorerst noch fremde Lieder – vor allem Frank Wedekind hat es ihm angetan. Daneben spielt sich die Gruppe durch das damals übliche Repertoire mit Liedern von Hannes Wader bis Reinhard Mey. Wollenbergs Crew ist eine der ersten Liedermacher-Gruppen, die in jener Zeit als rebellisches Pendant zur staatstreuen Singebewegung entstehen. “Die FDJ hatte bei uns keine Chance”, sagt Wollenberg. “Der Pazifismus als Haltung hat mich schon immer gereizt. Das war in mir und das mußte raus.”(19)

Seit 1976 avanciert das Kloster Michaelstein bei Blankenburg zur Keimzelle einer unabhängigen Liedermacherszene. Bei den dort privat organisierten Festivals tritt Wollenberg mit Solo-Programmen hervor und wird bald zu einem auch überregional bekannten Protagonisten. In der Heimat gilt der Prophet allerdings als halbkrimineller Arbeitsbummler: 1981 wird Wollenbergs Gruppe Quitilinga verboten. Bereits zwei Jahre später startet er mit der Münzenberger Gevatterncombo einen zweiten Versuch. Der endet erneut mit einer Bruchlandung. Seine Intim-Feindin, Kulturverantwortliche im Rat des Kreises, setzt 1988 erneut ein Verbot durch. “Diese Frau hat mich mein halbes Leben begleitet”, schmunzelt Wollenberg, dessen Wohnung damals eine chaotische Adresse im schmuck hergerichteten Harz-Städtchen war, “die Frau hat gegen alles gekämpft, was nach ihrer Meinung abnorm war.”(20)

Irgendwann hat der Hunde- und Bierliebhaber genug vom Dauerstreß mit der spätstalinistischen Kulturfunktionärin. Er zieht nach Leipzig, weil Kollegen dort sogar eine Profi-Einstufung für den begehrten Liedersänger avisieren, der mittlerweile seine Texte selber schreibt. In der Messestadt ist alles anders. Neben dem legendären Malzhaus(21) in Plauen ist Leipzig das angesagte Zentrum einer weitverzweigten und vernetzten Folkmusik-, Volkstanz- und Liedermacherszene. Hier etabliert sich eine republikweite Folkwerkstatt, die später zwar zwangsweise ins Hinterland verlegt wird, ihre Ausstrahlung aber behält. “Wenn in Leipzig ein kritischer Liedermacher auftrat”, berichtet Wollenberg, “dann wurde der sofort integriert und bekam irgendwoher einen Fördervertrag organisiert. Die Szene war viel cleverer und hatte teilweise die staatliche Klubszene fest in der Hand.”(22)

In der Tat wird der anarchische Stadtstreicher schnell zur akzeptierten Boheme-Figur. Seine Programme haben enormen Zulauf. Wenn er etwa als verkleideter Denunziant mit hochgeschlagenem Mantelkragen durchs Publikum streift und dabei ein Spitzellied aus der Zeit der Sozialistengesetze intoniert, dann verlacht der ganze Saal die brüchiger werdende Stasi-Macht. Sein Solo-Programm “Musette an eine Schimmelblume” ist ein bizarres Dokument subversiver Poesie und zugleich Metapher für eine transitorische Existenz im vermauerten DDR-Staat. In seinen “Schimmelblume”-Liedern verliebt sich ein Gefangener in die Zellenmaus. Voller Sehnsucht mutiert er schließlich selbst zur Maus, nur um die Zellengefährtin zu seiner Geliebten zu machen. Ironischer Reflex auf die eigene Situation: “Andere gingen in den Westen”, grinst Wollenberg. “Ich ging nach Leipzig. Das hatte für mich den gleichen Effekt.”(23)


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