Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Auch Hans-Joachim Schulzes Stasi-Spitzel müssen sich ihre IM-Karriere hart erbüffeln. Seitdem er als Nachtwächter in anderthalb Jahren sechs Bände Lenin und vier Bände Marx/Engels schafft, “gab es keinen mehr”, so Schulze, “der mir argumentativ gewachsen war.”(12) Überhaupt ist der 1951 geborene Experimentalkünstler und bekennende Marxist ein intellektueller Frühstarter. Schulze wächst als Vollwaise bei seiner Großmutter auf. Mit vier Jahren kann er bereits lesen, ab dem siebenten Lebensjahr schmökert er in Architekturzeitschriften und mit 18 ist er völlig auf sich allein gestellt. Wegen frecher Sprüche gerät er im Vorfeld der Weltfestspiele 1973 erstmals in bedrohliche Konflikte und landet für sechs Wochen im Gefängnis. Die letzten zwei Wochen verbringt er in Isolationshaft, weil er dem Kalfaktor in den Hintern tritt und die internen Spielregeln im Knast boykottiert. Nach einer Lehre als Zimmermann bekommt er trotz einiger Wirren die Zulassung an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Dort macht der Student schnell auf sich aufmerksam, und das nicht nur wegen seiner rhetorischen Fähigkeiten und der langen Haare. “An der Schule war ich die auffälligste Persönlichkeit”, urteilt Schulze überzeugt. “Zudem machte ich nicht, was die Dozenten wollten. Wenn Heisig nicht gewesen wäre, hätten sie mich längst gefeuert.”(13) Statt wie die Tübke-Schüler im weißen Kittel an kleinformatigen Blättern zu stricheln oder die Stilart der Leipziger Schule in die nächste Generation zu verlängern, erklärt Hans Schulze kurzerhand sein labyrinthisches Denken zur avantgardistischen Kunstform. In den Abnahmerunden stellt er philosphische Gesprächsprotokolle und mit kühnen Vektorpfeilen versehene Konzeptskizzen zu den Marxschen “Feuerbach-Thesen” vor. Sein Diplomraum, jene an der Hochschule übliche Form der studentischen Endpräsentation, enthält 1981 kein herkömmliches Kunstwerk. “Der Raum war so gestaltet”, erzählt Schulze, “daß die verschiedensten Ebenen des Produktionsprozesses anwesend waren, von unbearbeitetem Material wie Zeitungspapier, Fundstücken über Rudimente früherer Arbeiten bis hin zu fertigen Ergebnissen. Das Ganze erstreckte sich vom Fußboden bis hoch zu den Wänden als Repräsentanz eines im Gang befindlichen Arbeitsprozesses und war trotz Stilisierung noch ein richtiger Arbeitsraum.”(14) Heisig toleriert auch das, setzt sich sogar dafür ein, daß der aufsässige Lieblingsschüler das Diplom ein Jahr vorzeitig bekommt. In den VBK wird Schulze allerdings später nicht aufgenommen.

Ein weiteres Betätigungsfeld für den versierten Marx-Kenner ist der Grafikkeller, der Studentenklub der Hochschule – zu dieser Zeit einer der wenigen offenen Veranstaltungsorte. Schulze lernt dadurch fast alle wichtigen Jazzmusiker des Landes kennen. Sein kommunikatives Talent und sein unergründlich-sprudelnder Theorie-Fundus machen ihn vor allem für jüngere Künstler zu einem wichtigen Anlaufpunkt, die seine Abneigung vor dem tradierten “Werk”-Begriff und pseudofamiliären Hochschulverhältnissen gut verstehen. Schulze steht für ein agonistisches Anti-Programm: Reibung, Konflikte, Debatten. Seine philosophischen Diskussionsrunden, als “Arbeitsessen” in der Wohnung abgehalten, sprechen sich schnell herum. Aus den zahlreichen Kontakten zu Philosophen, Psychologen, Fotografen und Jazzmusikern geht im Sommer 1982 eine der eigenwilligsten Künstlergruppen in der DDR hervor. Sie nennt sich “37,2” – nach einem Schwellenwert aus der Informationstheorie. Hier arbeitet eine Weile auch der Leipziger Maler Hartwig Ebersbach mit, der an der Kunsthochschule eine Experimentalklasse leitet.

Schulze faßt “Kunst als Produktivkraft” auf und geht mit seiner Gruppe konsequenterweise an die realsozialistische Basis. Im Jenaer Zeiss-Kombinat führt er Kreativitätstrainings für Industriekader durch – eine für DDR-Verhältnisse neuartige Form, die allerdings schnell Mißtrauen bei den verantwortlichen Genossen weckt. Bekannt wird die Gruppe vor allem jedoch aufgrund ihrer Aktionen und Happenings. Zusammen mit profilierten Jazz-Größen wie Manfred Schulze oder dem Duo Manfred Hering und Joe Sachse gelingen aufsehenerregende Spektakel. Die Künstler tüfteln an einem Code, wie sich “malerische, informatorische und philosophische Ereignisse in Musik umsetzen lassen”(15). Eine Performance mit dem Ostberliner Dichter Tohm di Roes, der seinen Monolog “Ichs Apokalyptus”(16) der Gruppe als intermediales Thema vorgibt, wird im Klub NaTo zum Szene-Ereignis.

Der künstlerische Erfolg ist für Schulze eine zweischneidige Angelegenheit, sind diese Artikulationsformen doch lediglich Arbeitsschritte für ein neues Gesellschaftskonzept. Bereits 1982 hatte ein Spitzel der Berliner MfS-Bezirksverwaltung Alarm geschlagen. “Von meinem langjährigen persönlichen Bekannten/Freund erfuhr ich, daß er (Hans-Joachim Schulze, d.A.) in Leipzig eine Gruppe gegründet hat, die vorwiegend aus Philosophen besteht. Aufgabe dieser Gruppe soll es sein, ein neues gesellschaftspolitisches Konzept für einen ‘neuen’ sozialistischen Staat DDR zu entwickeln.”(17) Ein Freundschaftsdienst der besonderen Art. Mit diesem Background bekommt Schulze keinen Fuß mehr in eine Künstlerverbands-Tür. Zwar erhält er auf Vermittlung Heisigs wenigstens noch einen existenzsichernden Fördervertrag. So bekommt der Leipziger Experimentalkünstler monatlich wenigstens sein Honorar aufs Konto überwiesen. Die Gegenleistung dafür will der Vertragspartner, ein Leipziger FDJ-Jugendklub, allerdings gar nicht erst haben. Kein Platz für Revolutionäre – Schulze verläßt 1985 konsterniert die DDR.


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