Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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In Meuselwitz schreien nachts die Abraumbagger wie Dinosaurier. Frühe Kindheitserfahrungen von Lutz Nitzsche, Jahrgang 1955. Im Leipziger Vorort wächst er auf mit Blickkontakt zu einem der vielen Braunkohle-Tagebaue, die die Messestadt wie eine Kette von riesigen Fallgruben umziehen. Ein paar Hundert Meter vorm Abgrund nimmt man es mit dem staatsbürgerlichen Erziehungsprogramm nicht so genau. Nitzsche schwänzt reihenweise die Schul-Sonnabende, denn beim Schwellenstopfen im Tagebau verdient man als Schüler beachtliche 36 Mark für eine 8-Stunden-Schicht. Das Geld legt er gleich wieder für westliche Rockplatten auf dem Schwarzmarkt an. Das bringt dem Primus in der 10. Klasse auch die erste Vernehmung ein: wegen des illegalen Vertriebs von Led-Zeppelin-Postern, die er von einem Brieffreund direkt aus Sheffield bekommt.

Dann studiert Nitzsche in Leipzig Pädagogik. Er will Sportlehrer werden und läuft freiwillig 30 Kilometer am Tag. Als Zaungast im innerstädtischen Szene-Lokal Schwalbennest erweitert er durch existentialistische Dispute seinen Horizont. Bei den Live-Konzerten im Gaschwitzer Gasthaus spielt zu dieser Zeit die erste Rockergarde – Nitzsche ist dabei. Nebenher liest er sich kreuz und quer durch die Giftschrankliteratur in der Deutschen Bücherei. Ein Stempel seines Institutes und gute Verbindungen zum Bibliothekspersonal sind ihm dabei behilflich. Zum Studium erscheint er mitunter in den merkwürdigsten Kostümierungen – mal mit Glatze, mal im Smoking. Seine vorzeigbare Intelligenz rettet ihm den Studienplatz.

Sein Leben gerät exzessiv: vom Hinkelstein-Stoßen über ausgeweitete Tramp-Touren durch Osteuropa bis hin zu obskuren Parties in Macherns Pyramide(7). Nitzsche absolviert seine Lehrerprüfung mit links. Die Frage nach dem Einsatzwunsch beantwortet er ohne Zögern: “Südamerika oder Großstadt”. Soviel Courage überzeugt manchmal selbst eine hartgesottene “Absolventenlenkungkommission”, jene Dozentengruppe, die über den “gesellschaftlich sinnvollsten” Einsatz des Diplomanden entscheidet. Südafrika fällt aus, also geht Nitzsche als FDJ-Sekretär und Sportlehrer an die 21. Polytechnische Oberschule in Leipzig-Schönefeld. Seine Karriere als Pädgagoge dauert allerdings nicht lange. Bereits nach einem Jahr wird er wegen “Vernachlässigung der politisch-ideologischen Erziehungsarbeit” suspendiert. Das Ende mit Schrecken ist zugleich der Anfang einer der eigenwilligsten Boheme-Karrieren in der verfallenden Metropole. Nitzsche besinnt sich auf seine handwerklichen Fähigkeiten und übernimmt halbtags einen Hausmeisterjob. Das bringt ihm als Gegenleistung viel Platz ein: eine große 5-Zimmer-Wohnung in der Rosa-Luxemburg-Straße 7, die der ehemalige Pädagoge als Probenraum für seine Band Spontane Volkskunst(8) sowie als Kneipe und Volkstanzschule nutzt. Aber auch als Kommune dient seine Wohnung – selbst das literarische Prenzlauer-Berg-Urgestein Adolf Endler steigt einige Monate beim frechen Poeten ab. “Irgendwann haben wir die Wand zur leerstehenden Nachbarwohnung einfach durchgeknallt”, erzählt Lutz Nitzsche, “und hatten damit noch mehr Platz für unsere Zwecke. Vor das Loch haben wir einen Wäscheschrank gestellt, durch den wir die Nachbarwohnung betreten haben.”(9)

In das geräumige Domizil zieht ab 1977 der literarische Montagstreff ein. Er besteht trotz gelegentlicher Querelen und mehrerer Personalwechsel bis zur Wende. Hervorgegangen ist er aus einem bereits 1976 am Klub der Intelligenz gegründeten Zirkel schreibender Jugendlicher – ein kreatives Chaos aus Hippie-Exzessen, ritualisierten Lyriklesungen auf einer zwei Meter hohen Maler-Leiter und gruppentherapeutischen Lockerungsübungen mit viel Alkohol, Sex und Rock’n’Roll. Fast jeden Montag wird hier vorbereitet zu einem bestimmten Thema diskutiert: über Dadaismus, Psychoanalyse und psychedelische Erfahrungen aus zweiter Lektüre-Hand. Beteiligt sind durchaus ernsthafte Literaten: Thomas Böhme, Bernd Igel und der ebenfalls in Meuselwitz aufgewachsene Wolfgang Hilbig. “Mit beängstigender Lautstärke wurde bei Nitzsche andauernd Rockmusik gehört”, erinnert sich Wolfgang Hilbig. “Theater haben wir auch gespielt, da sind wir extra hinausgelaufen, Richtung Wurzen, ich habe vergessen, wie das Dorf hieß. Nitzsche spielte Sketche, das war zumindest lustig. Die Kinder des Dorfes kamen angerannt, das war gar nicht so dumm. Ein anderes Mal fand ich es ziemlich beängstigend. Zu dieser Zeit kam die amerikanische Nationalhymne in der Version von Jimi Hendrix auf. Die hat Nitzsche dann bei offenem Fenster über die Wintergartenstraße dröhnen lassen. Ich dachte, jetzt sind wir verloren. Erstaunlich war nur, daß keine Polizei kam.”(10)

Um die Toleranz der Ordnungshüter nicht überzustrapazieren, verlegen die Nitzsche-Freunde ihr Aktionsfeld oft ins Umland. In Hochweitzschen zelebrieren sie auf einem Sportplatz, vom Bürgermeister abgesegnet, ein Kunst-Festival mit dem Titel “Schreit aus”. Und in einer Karl-Marx-Städter Nervenklinik machen sie mit geistig Behinderten Musik. Bis zu seiner Ausreise im Frühjahr 1989 ist die Wohnung von Lutz Nitzsche einer der wichtigen Treffs in der vielgestaltigen Leipziger Subkultur. Die Stasi observiert zwar, läßt aber gewähren. Nur bei der Informationsgewinnung verfällt der Geheimdienst auf unerhörte Methoden. Da er nur halbgebildete Spitzel aus dem Fußvolk in Nitzsches expandierenden Kreis einschleusen kann, brauchen die IMs intellektuelles Know-how. Ohne nicht wenigstens seinen Nietzsche zitabel parat zu haben, meinen die Stasi-Strategen, kann sich kein Neuling in die Höhle des dekadenten Löwen wagen, der bei Auftritten schon mal provokant seine Notdurft auf der Bühne verrichtet. “Nach der Einführung ist es notwendig”, kommt deshalb MfS-Leutnant Götz auf die Idee, “daß IM ‘Atair’ mit Kenntnissen über dekadente Literatur (Ch. Wolf, Biermann, Kirsch, Kunath) ausgerüstet wird. Zur Schaffung eines speziellen Fachwissens müssen die guten Kenntnisse von ‘Atair’ auf dem Gebiet der Astronomie auf die Astrologie erweitert werden. Diese Spezialisierung macht sich erforderlich, da jedes Mitglied der Gruppe des Nitzsche über ein spezielles Holbey beziehungsweise Wissen verfügt. Weiterhin erscheint es erforderlich, ihn mit der bürgerlichen Philosophie Friedrich Nietzsches bekanntzumachen.”(11)


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