Soziologen beurteilen einen Arbeitsplatz nach vier Kriterien: Wie groß ist der "Dispositionsspielraum" des Arbeiters, das heißt, welchen Einfluß hat er auf den Produktionsprozeß? Welche beruflichen Qualifikationen muß er mitbringen? Unter welchen körperlichen und nervlichen Belastungen leidet er? Wie arbeitet er mit anderen Beschäftigten zusammen?

In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts verschärfte sich die Tendenz zur Rationalisierung der Arbeitswelt. Die mechanisierten Arbeitsabläufe wiederholten sich monoton; vielen Beschäftigten blieb nur ein geringer Dispositionsspielraum.

In der DDR galt der Arbeiter als das zentrale Thema der Malerei. Seit 1971 öffnete sich die zuvor doktrinär geführte Kunstdiskussion. Die Dispositionsspielräume der Maler weiteten sich aus: Heroisierende Darstellungen von Arbeitern wichen nun individualisierenden und ironisch gebrochenen Sichtweisen.

In der Bundesrepublik wuchs seit 1974 die Arbeitslosigkeit. Trotz der gesellschaftlichen Relevanz dieses Themas beschäftigten sich nur wenige Künstler mit der Arbeitswelt. Dies hängt damit zusammen, daß gegenständliche Kunst im Westen Deutschlands prinzipiell nur eine geringe Rolle spielt.

 

Noch heute und wahrscheinlich noch lange Zeit nimmt der Beruf im wachen Leben der meisten Menschen einen zumindest quantitativ wichtigen Platz ein. Niemand kann jedoch viele Stunden jedes Tages mit Dingen zubringen, die er abwertet, ohne seine Selbstachtung zu verlieren. Ein Mindestmaß an "Zufriedenheit" mit dem, was man tut, ist Bedingung der Möglichkeit dafür, es überhaupt zu tun.

Ralf Dahrendorf,
Industrie- und Betriebssoziologie, 1965

 

 

 

 

 

Misch Da Leiden (* Luxemburg 1948)
Fließband, 1972
Mischtechnik (Lack, Acryl, Siebdruck, Spritztechnik) auf Hartfaser, 200 x 200
Düsseldorf, Besitz des Künstlers

Das während Da Leidens Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie geschaffene Gemälde prangert die Entfremdung der Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen an. Die zermürbende Tätigkeit am Fließband, die den Dispositionsspielraum des Arbeiter stark einschränkt, steht hier stellvertretend für das gesellschaftliche System. Die als Einzelbilder eines Filmstreifens gestalteten Motive, die dreimal in derselben Abfolge wiederkehren, verweisen auf den gleichförmigen Charakter der Fließbandfertigung. Pfeile, Nummern und das der gesamten Sequenz unterlegte Wort "schneller" unterstreichen diese Aussage. Bei der vierten Wiederholung reißt der Film: Ein agitatorischer Text schiebt sich ins Bild; die Grundfarbe wechselt abrupt von Grau zu Rot; Streikposten vor einem Werkstor bestimmen das letzte Einzelbild.
Das Gemälde entstand in der Aufbruchphase nach 1968, in der die sozialistische Utopie eine erhebliche Anziehungskraft auf die Intellektuellen der Bundesrepublik ausübte.

Die künstlerische Ausdrucksform dieser Strömung war der Kritische Realismus. Schon während der frühen 70er Jahre zerstoben die Reformillusionen, überzeugende gesellschaftliche Alternativen wurden nicht formuliert. Die Fließbandfertigung hatte die Autonomie des Arbeiters im Sozialismus ohnehin stets auf gleiche Weise beschnitten wie im Kapitalismus. AS

Türk 2000, S. 342f.
Bibliographie

 

 

 

Panoramaaufnahme des Ausstellungsraums:


 

Sie benötigen Quicktime VR, um die 360° Panoramen auf Ihrem Bildschirm betrachten zu können.
Klicken Sie auf die einzelnen Panoramabilder, um eine interaktives Panoramabild zu erhalten.

 

 

 

 

DIE ZWEITE SCHÖPFUNG-
Bilder der industriellen Welt vom
18. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Eine Ausstellung des
Deutschen Historischen Museums


31. Juli bis 21 Oktober 2002
im Martin-Gropius-Bau

Martin-Gropius-Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin
Tel.: 030/ 25486-0
Stadtplan-Link (www.berlin.de)


Öffnungszeiten

täglich außer dienstags 10 bis 20 Uhr

Verkehrsverbindungen
S- und U-Bahn Potsdamer Platz und Anhalter Bahnhof
Bus 200, 248, 348 Haltestelle Potsdamer Platz
Bus 129 Haltestelle Anhalter Bahnhof

Eintritt
6 ,- € incl. Audioführung, ermäßigt: 4,-€