Die Beschäftigung
mit der chinesisch-deutschen Geschichte
von Herbert Franke
Als Schiller im Jahre
1789 an der Universität Jena seine Antrittsvorlesung als Professor
der Geschichte hielt, gab er ihr den Titel »Was heißt und zu welchem
Ende studiert man Universalgeschichte?«. Die Universalität seiner
Sicht richtete sich jedoch weniger auf die Einbeziehung außereuropäischer
Kulturen; vielmehr lag ihm an einer philosophischen Grundlegung
von Geschichte überhaupt, geprägt vom weltbürgerlichen Optimismus
der Aufklärung. Freilich schnitt gerade China im Zeitalter des deutschen
Idealismus nicht besonders gut ab. Man sah es als unvollkommene
Vorstufe einer Entwicklung der Menschheit, die in Europa gipfelte.
Im Zeitalter des Barock im 17. und frühen 18. Jahrhundert dagegen
herrschte eine viel positivere Einschätzung Chinas vor, so daß man
von einer ausgeprägten Sinophilie sprechen kann, als deren deutscher
Protagonist Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) gelten muß. Was
dieser große Forscher und Denker von China wußte, verdankte er den
Jesuiten, die in China wirkten und deren Berichte in ganz Europa
Verbreitung fanden. Unter ihnen begegnen wir auch manchen deutschen
Patres. Eine besonders bemerkenswerte Figur war der Kölner Johann
Adam Schall von Bell (1591-1666), der es wegen seiner Kenntnisse
in Mathematik, Astronomie und Kalenderwissenschaft in China bis
zum Direktor des astronomischen Amtes in Peking brachte. Der deutsche
Jesuit Athanasius Kircher (1601-1680) gab 1667 »China Illustrata«
heraus, die als Kompendium der Chinakunde großen Anklang fand und
in viele Sprachen übersetzt wurde. Auch noch bis in die erste Hälfte
des 18. Jahrhunderts haben deutsche Ordensbrüder, wenn auch in bescheidenerem
Umfang, dazu beigetragen, einer gebildeten Öffentlichkeit ihr Chinabild
zu vermitteln, eine Sicht Chinas freilich, die geprägt war durch
das Eigenbild der konfuzianischen Literatenschicht. Man sah die
Geschichte und Kultur Chinas damals also mit den Augen der neokonfuzianischen
Orthodoxie und als ein Stück Welt, das zwar exotisch schien, aber
in mancher Hinsicht durch seine Eigenart und seine materielle Kultur
beeindruckte. Zu letzterer gehörte vor allem das in großen Mengen
aus China importierte Porzellan. In Deutschland wetteiferten die
Fürstenhöfe darin, ihre Kunstkammern damit auszustatten, oder wie
in Meißen Manufakturen einzurichten, wo man versuchte, die kostbaren
Importe zu imitieren. Es war dies auch die Zeit der Chinoiserien,
der chinesischen Vorbildern nachempfundenen Tapeten und Behänge,
die heute noch manche Rokokoschlösser, von Sanssouci bis Nymphenburg,
schmücken. Insgesamt, so wird man sagen dürfen, blieb aber in den
deutschen Ländern die Wahrnehmung Chinas eher partiell, beschränkt
auf die Kreise von Gelehrten, die ihre Kenntnisse sekundär aus den
Schriften der Jesuiten geschöpft hatten. Das galt auch für die deutschen
Universitäten, wo zwar orientalische Studien wie Arabisch, Persisch
und Türkisch hier und da würdig vertreten waren, jedoch von einem
ernsthaften Studium der Sprache und Schrift Chinas noch nicht die
Rede sein konnte.
In Bezug auf China war also Deutschland, wie in so manch anderer
Hinsicht, eine verspätete Nation, als sich nach den Umbrüchen der
napoleonischen Epoche neue Entwicklungen abzeichneten und die europäische
Expansion nach Übersee eine neue Qualität gewann. Bis weit über
die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus spielte China wirtschaftlich
und politisch für die deutschen Staaten kaum eine Rolle, während
England, Spanien, Portugal und die Niederlande schon Jahrhunderte
zuvor jeweils China und Südostasien als Quelle reichen Handels für
sich entdeckt hatten. Für diese Epoche zumal galt das, was Mephisto
im zweiten Teil von Goethes Faust sagt: »Krieg, Handel und Piraterie,
dreieinig sind sie, nicht zu trennen.« Aber die Deutschen waren
damals eben noch keine auf die Weltmeere drängende Nation von Händlern
und Seefahrern. Eine ähnliche Verspätung finden wir im 19. Jahrhundert
auch im akademischen Bereich. Die Begründung der Sinologie als universitäre
Wissenschaft fand zuerst in Frankreich statt, wo 1814 - zwischen
Leipzig und Waterloo! - am Collège Royal, dem heutigen Collège de
France, eine »Chaire de langues et littératures chinoises et tartares-mandchoues«
eingerichtet wurde und wo 1843 das Studium der chinesischen Umgangssprache
an der École des Langues Orientales Eingang fand. Ähnliches wird
man im Deutschland des Biedermeier vergeblich suchen. Es gab jedoch
einzelne unkonventionelle Gelehrte, die damals begannen, Grundlagen
für die wissenschaftliche Beschäftigung mit China zu schaffen. Zu
ihnen gehörte zum Beispiel Karl Friedrich Neumann (1793-1870), der
1829 mit einem britischen Schiff nach Kanton reiste und von dort
6000 kundig ausgewählte chinesische Bände mitbrachte, die noch heute
den Grundstock der sinologischen Bestände der Staatsbibliotheken
in Berlin und München bilden. Von einer vollen Professionalisierung
der chinesischen Studien konnte damals noch keine Rede sein. Diese
fiel ungefähr in den gleichen Zeitraum wie die - auch wiederum gegenüber
anderen Mächten verspäteten - politischen und kolonialistischen
Bestrebungen Preußen-Deutschlands. Der erste Freundschafts- und
Handelsvertrag mit dem chinesischen Kaiserreich wurde 1861 vom Deutschen
Zollverein geschlossen. Insgesamt aber wird man zugeben müssen,
daß China im öffentlichen Bewußtsein der Deutschen zunächst eine
eher marginale Rolle spielte. So blieb auch der Besuch des chinesischen
Staatsmannes Li Hongzhang (1823-1901) bei Bismarck im Jahre 1896
eine malerische Episode. Von bleibender Bedeutung war dagegen die
1887 erfolgte Gründung des Seminars für orientalische Sprachen an
der Universität Berlin, wo von Anfang an das Chinesische gelehrt
wurde. Zwei Jahre später wurde der bedeutende Linguist Georg von
der Gabelentz (1840-1893) als Professor auf einen neu errichteten
Lehrstuhl für ostasiatische Sprachen und allgemeine Sprachwissenschaft
an der Universität Berlin berufen. Damit war die Sinologie endgültig
in den Kanon der Hochschulfächer aufgenommen.
Die Wahrnehmung Chinas als eigenständige Kulturwelt blieb aber nicht
auf den akademischen Bereich beschränkt. Seit der Jahrhundertwende
entdeckte das geistige Deutschland, was China und seine Kultur zu
bieten hatten. Nachdichtungen chinesischer Lyrik erschienen in größerer
Zahl und erschlossen dem deutschen Lesepublikum den Blick auf eine
neue dichterische Welt. Das wirkte sich auch auf die Musik aus.
Gustav Mahler vertonte in seinem Spätwerk »Das Lied von der Erde«
(1908) deutsche Nachdichtungen klassischer Gedichte. Mit Alfred
Döblins »Die drei Sprünge des Wang-lun« (1915) fand ein chinesischer
Stoff in der deutschen Literatur adäquaten Ausdruck, wie sich denn
überhaupt gerade im Zeitalter des Expressionismus deutsche Dichter
durch chinesische Themen anregen ließen. Aus den Originaltexten
übersetzte Romane und Novellen fanden ein dankbares Publikum, so
vor allem die überaus erfolgreichen Übersetzungen von Franz Kuhn
(1884-1961), wie denn überhaupt ein bis heute nicht abreißender
Strom von Übersetzungen aus dem Chinesischen den Deutschen immer
wieder neue bisher übersehene literarische Schätze aus China erschloß.
Ein gleiches gilt für die Philosophie Chinas. Hier ist vor allem
an Richard Wilhelm (1873-1930) zu erinnern. Er ging als protestantischer
Missionar nach China, wurde aber dann zu einem Missionar Chinas
für Deutschland, dem eine Vielzahl von Übersetzungen philosophischer
Werke des chinesischen Altertums zu verdanken ist und der den Deutschen
chinesische Geistigkeit aus erster Hand zu vermitteln wußte. So
ist es dankbar zu begrüßen, daß die Ausstellung im Deutschen Historischen
Museum anschauliche Zeugnisse seines Wirkens in Qingdao enthält.
Auch die Kunst Chinas ist in unserem Jahrhundert in Deutschland
präsent geworden, weit über den früheren Exotismus fürstlicher Sammlungen
hinaus, nämlich durch die hohe Kunst der altchinesischen Bronzen,
der Malerei und Kalligraphie und der mittelalterlichen religiösen
Skulptur. Deutsche Museen enthalten heute chinesische Kunstwerke
von höchstem Rang. Darüber hinaus haben immer wieder Ausstellungen,
beginnend mit der neue Wege weisenden Ausstellung chinesischer Kunst
in Berlin 1929 bis heute, neue Funde und alte Museumsschätze aus
China bekannt gemacht und gezeigt, wie sehr auch der Ferne Osten
ein unverzichtbarer Bestandteil der Weltkunst ist. Literatur, Philosophie
und Kunst Chinas sind so auch bei uns zu einem Bestandteil der allgemeinen
Bildung geworden. Die Zeiten sind vorbei, in denen China europazentrisch
nur als Objekt in Erscheinung trat, denn mehr und mehr ist klar
geworden, wie sehr China und seine Kultur als gleichberechtigtes
Subjekt auf allen Gebieten dem Westen zur Seite getreten ist. Diese
Einsicht wird auch in Zukunft verstärkt ihren Ausdruck finden müssen.
Das, was hiermit angedeutet wurde, ist auch von Bedeutung für unsere
Sicht auf die Geschichte und was sich aus ihrer Betrachtung ergibt.
Damit wären wir also wieder bei Schiller und seiner Frage nach Sinn
und Ziel der Geschichte. Der deutsche idealistische Denker sah die
Geschichte der Menschheit in philosophischer Abstraktion und damit
in einem Rahmen, der für die Einbeziehung Chinas in eine Weltgeschichte
wenig Raum ließ. Wir müssen das heute anders sehen, wenn wir historische
Kausalität berücksichtigen. Chinas Eintritt in die Reihe der Großmächte
ist kein Ereignis mehr, das sich am Rand der Welt abspielt und ebenso
sehen wir die chinesische Kultur jetzt als einen Teil der Weltkultur
von eigenem Gewicht und eigener Würde. Wenn wir die Weltgeschichte
mit einem großen Strom vergleichen, auf dem wir der Zukunft entgegenfahren
oder -treiben, so haben wir heute einen Ort erreicht, wo ein mächtiger
Nebenfluß eingemündet ist, der seine Quellbereiche dem Hauptstrom
zugeführt hat und den ganzen weiteren Lauf mitbestimmt. Was einst
als exotisch gelten mochte, ist dabei, ein Teil der Einen Welt zu
werden. Hier liegt wohl die tiefere Berechtigung des Versuchs, China
zu einem unverzichtbaren Teil unserer allgemeinen Bildung zu machen.
|