Die
bestatteten Körper:
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So wie Ärzte lebende Menschen untersuchen, so begutachten Anthropologen
die Überreste prähistorischer oder historischer Personen, von denen sich
meistens nur noch die Knochen erhalten haben. Sie können damit das Geschlecht
des Toten, sein Sterbealter, seine am Skelett sichtbaren Krankheiten sowie
einige Aspekte seines Erscheinungsbildes wie zum Beispiel die Körpergröße
feststellen. Ziel der anthropologischen Forschung ist unter anderem, diese
individuellen Daten mit denen anderer gleichzeitiger Personen und Bevölkerungen
in Beziehung zu setzen oder sie in ihrer historischen Entwicklung zu betrachten
- also Geschichte von Krankheiten und deren Behandlungsmethoden zu schreiben
oder etwa die Lebenserwartung in verschiedenen historischen Räumen zu vergleichen.
Ein über lange Jahre belegter Friedhof wie der von Eichstetten wird so zu
einer historisch-demographischen Quelle ersten Ranges, vergleichbar mit
den Kirchenbüchern, die seit dem 16. Jahrhundert geführt wurden. Die Arbeit
des Anthropologen besteht in der Untersuchung verschiedener Skelettmerkmale,
die entweder messbar oder morphologisch beschreibbar sind und die teilweise
erst durch Röntgenaufnahmen und den Einsatz eines Rasterelektronenmikroskopes
sichtbar gemacht werden können. |
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Beschreibungen
nach Kurt Alt, Barbara Hollack und Manfred Kunter
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Das
Geschlecht des Toten ist, soweit das Skelettmaterial ausreicht, mit über
95-prozentiger Sicherheit zu bestimmen. Am Schädel unterscheiden sich
zwischen den Geschlechtern vor allem die Überaugen- und Nackenregionen,
am Becken der Schambeinwinkel und der große Darmbeineinschnitt.
Die Genauigkeit der Bestimmungen des Sterbealters ist bei Kindern und Jugendlichen
sehr hoch, im Erwachsenenalter wesentlich niedriger, da der Alterungsprozess
individuell verläuft. Bei Erwachsenen können meist nur noch Angaben
mit einer Spanne von 10 oder 20 Jahren gemacht werden. Das Alter eines bis
zu 14 Jahre alten Kindes lässt sich am besten durch den Entwicklungszustand
der Zähne bestimmen, während das des Jugendlichen zwischen 15
und 20 Jahren überwiegend durch den Grad der Verknöcherung der
Wachstumsfugen erkannt wird; das Alter des Erwachsenen in der Hauptsache
durch den Verknöcherunsgrad der großen Schädelnähte.
Die Ergebnisse: Auf dem Friedhof waren etwa gleich viele Männer wie
Frauen bestattet. 24 Prozent der Bevölkerung starb im Alter von 21
- 40 Jahren, davon mehr Frauen als Männer im dritten Lebensjahrzehnt,
vermutlich infolge von Komplikationen bei Geburten.
39 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, also die größte
Gruppe, starben im Alter zwischen 41 und 60 Jahren, davon Männer eher
zwischen 40 und 50, Frauen eher zwischen 50 und 60 Jahren.
25 Prozent der erwachsenen Bevölkerung erreichten ein Alter von über
60 Jahren; unter den über 65 Jahre alten Personen überwiegen bei
den anthropologisch geschlechtsbestimmten Gräbern die Männer,
unter Berücksichtigung auch der archäologisch bestimmten Gräber
aber die Frauen. Damit erreichten die Personen, die das Kindesalter überlebt
hatten, ein für ihre Zeit überdurchschnittliches Lebensalter.
Nur 12 Prozent der Verstorbenen waren Kinder in einem Alter bis zu 14 Jahren,
lediglich 4 Prozent waren in einem Alter zwischen 15 und 20 Jahren gestorben.
Nur ein Kind war jünger als zwei Jahre. Die Neugeborenen und Säuglinge,
die in allen bekannten Gesellschaften die höchste Sterblichkeit aufweisen,
fehlen in Eichstetten gänzlich.
Die meisten Fachleute sind sich darüber einig, dass die Sterbezahlen
für Kinder, besonders für Kleinkinder, in Wirklichkeit höher
gewesen sein müssen. Aus vergleichbaren heutigen und historischen Gesellschaften
werden zwischen 45 und 60 Prozent gestorbene Kinder errechnet. Da wir vermutlich
davon ausgehen können, dass die Überreste älterer Kinder
eher erhalten sind, die Sterbezahlen für diese also realistischer sind,
sind derartige Schätzwerte für die Säuglingssterblichkeit
zu hoch gegriffen. Die Ursachen für das Fehlen der Säuglinge auf
den meisten frühmittelalterlichen Friedhöfen sind unumstritten.
Bestattete man Kinder bis zu einem gewissen Alter noch nicht auf dem Friedhof
der Erwachsenen, oder sind womöglich nur Skelette kleiner Kinder im
Boden schneller zerstört und bei der Ausgrabung nicht mehr erkannt
worden? |
Sterbealter
und Geschlecht der Begrabenen
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Schädel eines
weiblichen Skeletts
Schädel eines
männlichen Skeletts
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Die Erkrankungen, die sich am Skelett und an den Zähnen noch nachweisen
lassen, stellen natürlich nur einen Ausschnitt aus der Fülle von Krankheiten
dar, die die Menschen im frühen Mittelalter quälten. Sie zeigen aber, verbunden
mit der Lebenserwartung, doch den gesundheitlichen Zustand der Bevölkerung
an und deuten oft auch auf den Einsatz medizinischer Mittel zu ihrer Bekämpfung.
Hieb- und Schlagverletzungen lassen sich - neben Knochenbrüchen - relativ
häufig feststellen. Zwei Männer hatten Hiebverletzungen am Schädel, von
denen zumindest die eine medizinisch versorgt worden ist. Ein weiterer Mann
war von unten auf den rechten Unterarm getroffen worden, vielleicht als
er mit dem Schwert einen Hieb parierte. Auch diese schwere Verletzung ist
so verheilt, dass der Arm anschließend benutzbar war. Besonders ältere Personen
litten an Wirbelsäulen- und Gelenkerkrankungen. Häufig waren Spondylosis
deformans, Spondylarthrose und Osteochondrose. Es handelt sich um schmerzhafte,
bewegungseinschränkende Verschleißerkrankungen, die teilweise durch Überbeanspruchung
hervorgerufen wurden. Auch häufig geübte Bewegungen oder Stellungen lassen
Spuren im Skelett zurück. Hierzu gehören die sogenannten Reiterfacetten,
schmerzlose Veränderungen des Oberschenkelkopfes, die durch Spreizen des
Hüftgelenks beim Reiten hervorgerufen werden.
Eine weitere Gruppe von Knochenleiden entsteht durch Mangelernährung oder
innere Krankheiten. So ließen sich bei drei jungen Personen anämische Zustände
nachweisen. Auf anderen Friedhöfen fanden sich Skelette mit deutlichen Veränderungen
durch Vitamin-D-Mangel. Bei zwei Frauen wurden Metastasen von Weichteiltumoren
festgestellt. Nur in drei Fällen war die am Skelett sichtbare Erkrankung
mit hoher Wahrscheinlichkeit die Todesursache.
Am besten können heute noch die Zahnerkrankungen diagnostiziert werden.
Da aber die Ursache der Zahn- verluste meist nicht klar ist, lässt sich
die Häufigkeit zum Beispiel kariöser Zähne nicht eindeutig feststellen -
sie liegt zwischen 15 und 25 Prozent. Diese Werte sind im Vergleich mit
anderen gleichzeitigen Bevölkerungsgruppen hoch, im Vergleich zu heutigen
Verhältnissen niedrig. Parodontose, Zahnbettentzündung, kam nur in leichtem
oder mittlerem Stadium vor und war bei Männern häufiger als bei Frauen,
sicher eine Folge der unterschiedlichen Intensität der Zahnpflege. |
Gesundheit
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Ober- und Unterkiefer
einer 35 - 40 Jahre
alten Frau
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Schädelformen,
Körpergröße und besondere genetische Merkmale geben einen Eindruck vom Aussehen
der Bevölkerung, auch im Verhältnis zu anderen Gruppen. Die Ergebnisse:
Die Messwerte waren trotz einer großen Variabilität in einigen wesentlichen
Werten homogen, die Schädel im allgemeinen lang bis mittellang und hochgesichtig.
Beide Geschlechter zeichnen sich durch eine beachtliche Körpergröße aus,
die bei 2/23 den Männern im Durchschnitt bei 1,71 bis 1,74 Metern, bei den
Frauen zwischen 1,62 und 1,63 Metern liegt; die Extremwerte betragen bei
den Männern 1,59 und 1,78 bis 1,91 Meter, bei den Frauen 1,48 und 1,77 Meter.
Demnach spricht nichts für die Annahme, dass auf dem Friedhof Angehörige
verschiedener - und damit nicht verwandter - Bevölkerungsgruppen bestattet
worden sind. Wie nah die Verwandtschaft unter den Personen war, ließ sich
bisher jedoch nicht klären. Die großen Variabilitäten sprechen für Heiraten
nach außen. |
Erscheinungsbild
und Verwandtschaft
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