> Überkommene Feindbilder - Der Krieg gegen die Sowjetunion

Überkommene Feindbilder - Der Krieg gegen die Sowjetunion

In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 begann der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Adolf Hitler sah in der Eroberung von "Lebensraum im Osten" und in der "Zerschlagung des jüdischen Bolschewismus" seine wahre "Mission". Der Feldzug wurde als rassenideologischer Eroberungs- und Vernichtungskrieg geführt: Von Anfang an war die Ermordung der jüdischen Bevölkerung und der sowjetischen Führungsschicht vorgesehen. Die sowjetische Bevölkerung in ihrer Gesamtheit litt unter dem Terror der deutschen Besatzer. Millionen Menschen starben eines gezielt herbeigeführten Hungertodes. Die Sowjetunion kostete der Krieg schätzungsweise über 25 Millionen Menschenleben.

"Warum Krieg mit Stalin?" lautete der Titel einer von der Antikomintern 1941 herausgegebenen Broschüre. Die Antwort dieser Frage konnte sich dem Betrachter bereits durch das Umschlagmotiv erschließen, das auf Gefühl und Beschützerinstinkt zielte: Heimtückisch schleicht sich ein Rotarmist heran, um einen friedfertigen deutschen Soldaten mit einem Dolch hinterrücks zu ermorden. Düstere Farbgebung lässt den "Bolschewisten" als Inbegriff für Tod und Verbrechen besonders brutal und niederträchtig erscheinen.

Derartige Propagandaschriften sollten das Gefühl der Bedrohung durch die Sowjetunion schüren und den Krieg im Osten rechtfertigen. Sie trafen bei einem Großteil der deutschen Bevölkerung durchaus auf bereitwillige Aufnahme, gaben sie doch vor, Deutschland führe eine Art Verteidigungskrieg auf dem Boden des Feindes. Auch diese Broschüre berichtet von permanenten sowjetischen Grenzverletzungen und vom gewaltigen Aufmarsch der Roten Armee zur Vorbereitung eines Angriffes auf das Reich. Dahinter stehe das Verlangen der Machthaber in Moskau, ganz Europa in "Brand zu stecken", den "europäischen Völkern ihre Herrschaft aufzuoktroyieren" und so das "unvorstellbare Grauen des menschlichen Lebens in der Sowjetunion unter dem Terror der bolschewistischen Juden" über den gesamten Kontinent zu verbreiten. In der Sowjetunion herrschten Chaos, Elend und Hungersnot, Trunksucht, Krankheit und Schmutz sowie eine Sittenlosigkeit vor, die selbst vor staatlich tolerierter Inzucht nicht Halt mache. Deshalb habe sich das nationalsozialistische Deutschland mit dem Krieg gegen die Sowjetunion die Sicherung Europas und seiner Kultur und "damit die Rettung aller" zur Aufgabe gemacht.

Illustriert ist die Broschüre mit zahlreichen Fotografien vom Vormarsch der Wehrmacht in der Sowjetunion. Die NS-Führung war sich der "Macht der Bilder" bewusst: Schon 1938 hatten das Propagandaministerium und das Oberkommando der Wehrmacht ein "Abkommen über die Durchführung der Propaganda im Kriege" geschlossen, in dem der "Propagandakrieg" als ein dem Waffenkrieg "gleichrangiges Kriegsmittel" anerkannt worden war. Die ab 1938 aufgestellten Propagandakompanien der Wehrmacht berichteten ab 1939 in Wort, Bild und Film über die Erfolge der deutschen Truppen auf den Schlachtfeldern Europas. Um die Wehrmachtssoldaten in der Sowjetunion als siegreiche Kämpfer darzustellen, sollte ihre Marschrichtung auf Fotografien von links nach rechts, von Westen nach Osten gehen. In die umgekehrte Richtung marschierten zumeist die langen Kolonnen von gefangenen Rotarmisten, wie sie auch der Fotograf Gerhard Gronefeld (1911-2000) aufgenommen hat. Als Sonderberichterstatter war er den deutschen Frontsoldaten bereits in Polen, Frankreich und auf dem Balkan gefolgt, seine Fotos erschienen vor allem in der Wehrmachtszeitschrift "Signal". Unmittelbar nach der Kesselschlacht von Bialystok fotografierte Gronefeld Anfang Juli 1941 sowjetische Soldaten auf ihrem Weg in die Kriegsgefangenschaft, der für die meisten von ihnen mit dem Tod endete.

Bis Jahresende 1941 nahm die Wehrmacht rund 3,35 Millionen sowjetische Soldaten gefangen. Gezielt wurden Juden und kommunistische Funktionäre ausgesondert und ermordet. Mit dem Einbruch der Kälte im Herbst 1941 starben bis Februar 1942 insgesamt rund zwei Millionen Kriegsgefangene an Erfrierungen in improvisierten Lagern ohne Behausung, an Hunger oder an unmenschlicher Behandlung. Zehntausende entkräfteter Soldaten verloren ihr Leben auf den Transporten zur Zwangsarbeit nach Deutschland oder aufgrund von Epidemien, Gewalt und Unterernährung in den Lagern im Reich. Der Zeitzeuge Werner Mork erinnert sich an katastrophale Zustände, die er als 20-jähriger Angehöriger einer Nachrichteneinheit im Dezember 1941 in Baumholder erlebte: Für sein Regiment bestimmte Kartoffeln hatten während des Zugtransportes "Frost bekommen und waren total erfroren, daher auch dieser furchtbare Gestank, der nicht zu ertragen war. In den Waggons befand sich nur noch ungenießbarer Abfall, Unrat der in eine Grube gehörte, um vergraben zu werden. [...] Was dann geschah, daran denke ich noch heute mit Grauen. Die Waggontüren waren noch nicht ganz geöffnet, da stürzten sich die Russen auf die verfaulten Kartoffeln und steckten sich diesen Mist und Dreck mit beiden Händen in die Münder ohne Rücksicht auf den infernalischen Gestank, der von diesem Unrat ausging. Beim Umladen auf die Panjewagen versuchten sie immer wieder mit den bloßen Händen, den gegrabschten Unrat in sich hineinzustecken, wobei die deutschen Posten sie mit Gewalt davon abhalten wollten, mit Kolbenschlägen der Karabiner, mit Fußtritten und körperlichem Schlagen, aber nicht um zu verhindern, dass sie diesen Dreck in sich reinmampften, sondern um das "Stehlen" zu verhindern. Das sahen sie als ihre Aufgabe an."

Insgesamt gerieten bis Kriegsende 1945 etwa 5,7 Millionen Rotarmisten in deutsche Gefangenschaft, die rund 3,3 Millionen von ihnen nicht überlebten. In der Bundesrepublik Deutschland war das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen vor dem Hintergrund des Kalten Krieges sowie der Aufarbeitung des NS-Völkermordes an den europäischen Juden von der Öffentlichkeit lange Zeit weitgehend unbeachtet geblieben. Erst seit rund zwei Jahrzehnten wird in Publikationen, Gedenkstätten und Ausstellungen in gebührender Weise auch dieser Opfer des rassenideologischen Vernichtungskrieges gedacht, der vor 75 Jahren begann und mit massenwirksamen Propagandaschriften wie "Warum Krieg mit Stalin?" ideologisch untermauert wurde.

Arnulf Scriba
Juni 2011/2016

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