> Werner Mork: Kriegsgefangene Rotarmisten in Baumholder

Werner Mork: Kriegsgefangene Rotarmisten in Baumholder

Dieser Eintrag stammt von Werner Mork (*1921) aus Kronach, Januar 2005:

Der Winter 1941/42, der sich als ein furchtbarer Winter herausstellen sollte für die deutschen Soldaten, die im Osten dem Grauen des russischen Winters ausgesetzt waren. Ich dagegen saß mit meinen Kameraden der Nachrichteneinheit in gut geheizten Kasernen, für uns war die Front im Osten sehr weit entfernt. Es war so, als ob wir in der Heimat kaum etwas gemein hatten mit unseren Kameraden, die in Russland kämpfen, leiden und sterben mussten. Das war für uns eine andere Welt, zu der wir keine direkte Beziehung hatten, die wir nur "erlebten" in den Wochenschauen in den Kinos. Ich selber sollte nun mein eigenes Erlebnis haben in bezug auf die Behandlung von "Untermenschen", und das auf dem Gelände des Truppenübungsplatzes Baumholder. Das wurde für mich ein grauenhaftes Erlebnis.

Wir wussten, dass auf dem eigentlichen Übungsplatz Russen untergebracht waren, die dort eingesetzt wurden, um die beim Scharfschießen entstandenen Schäden an den Gebäuden wieder zu reparieren und für ein neues Schießen herzurichten. Das war uns bekannt, aber mehr wussten wir nicht von dem dort befindlichen Lager, das wir auch noch nicht gesehen hatten im Gegensatz zu einem Lager, welches sich in unmittelbarer Nähe vom Bahnhof Baumholder befand, direkt an der Straße, die zum Bahnhof führte. In diesem Lager waren französische Kriegsgefangene untergebracht, die dort ein erbärmliches Leben fristeten. Auf unserem Weg zum Bahnhof mussten wir an diesem Lager vorbei, was uns immer sehr "unangenehm" war. Wir mussten dabei sehen, wie diese armen Kerle regelrecht vegetierten, wir mussten dabei erleben, wie sie uns anbettelten um etwas Essbares, um eine Kleinigkeit an essbaren Dingen. Das waren Elendsgestalten, die immer wieder versuchten, an den Lagerzaun zu gelangen, wobei sie aber immer wieder von den Wachposten zurückgetrieben wurden, die auch uns anbrüllten, wenn wir mal stehen blieben. Wir erfuhren dann, dass dieses Lager ein Straflager sei, eine Nebenstelle eines größeren Kriegsgefangenenlagers in der näheren Umgebung, in dem die, nach Meinung der deutschen Lagerführung sich strafbar gemachten Gefangenen befinden. Auch wenn es so war, so fanden wir es trotzdem unerhört, wie hier Menschen behandelt oder doch wohl mehr misshandelt wurden. Mit Entsetzen hatten wir bemerkt, wie diese Gefangenen unter den Rinden der Bäume im Lager nach Würmern und anderem Getier suchten, um das zu essen.

Uns wurde dann bekannt, dass es sich in diesem Straflager vorwiegend um französische Offiziere handelt, die einer "Sonderbehandlung" unterworfen waren, weil sie Fluchtversuche unternommen hatten, so hieß es jedenfalls. Für uns war es erschütternd und beschämend dieses Elend anzusehen, von dem wir nicht glauben konnten, dass es darüber hinaus noch eine Steigerung geben könne. Zumindest ich sollte aber eines anderen belehrt werden.

Es war Anfang Dezember 1941, als ich einen Anruf des Verpflegungsoffiziers entgegennahm, der mich, den an diesem Tage diensttuenden Küchenchef der Regimentsküche beauftragte, auf dem Bahnhof in Baumholder einige Waggons mit Kartoffeln zu übernehmen, die für das Regiment bestimmt waren. Ich machte mich unverzüglich auf den Weg zum Bahnhof, wo ich dann schon einige LKW vorfand, die zur Umladung der Kartoffeln bereitstanden. Man hatte nur noch auf mich gewartet, um den Bahntransport abzunehmen. Doch das geschah dann nicht, denn nur wenige Meter von den Waggons entfernt schlug mir schon ein sehr seltsamer Geruch entgegen, der sich dann, beim Öffnen der Türen zu einem bestialischen Gestank entwickelte. Die Kartoffeln hatten auf dem Transportweg Frost bekommen und waren total erfroren, daher auch dieser furchtbare Gestank, der nicht zu ertragen war. In den Waggons befand sich nur noch ungenießbarer Abfall, Unrat der in eine Grube gehörte um vergraben zu werden.

Voller Empörung über diesen Dreck lehnte ich eine Übernahme der Waggons ab und rief unverzüglich den Verpflegungsoffizier an, um ihn zu unterrichten. Der sagte mir dann, er würde sofort etwas veranlassen und mir wieder Bescheid geben, bis dahin solle ich auf dem Bahnhof bleiben. Ich hätte aber dafür zu sorgen, dass mit dem Transport nichts weiteres geschähe, dafür sei ich zuständig und verantwortlich. Es dauerte dann eine längere Zeit, bis dann etwas auf dem Bahnhof geschah, aber ohne einen Anruf vom Regiment. Es kamen plötzlich kleine Pferdewagen, richtige Panjewagen, erbeutet im Russland-Feldzug. Mit den Wagen kamen russische Kriegsgefangene aus dem Lager auf dem Übungsplatz. Ich guckte schon etwas verdattert aus meinen Augen, als sich ein Unteroffizier bei mir meldete, der vom Alter her mein Vater hätte sein können und mir sagte, dass er von der Kommandantur des Übungsplatzes beauftragt sei, die am Bahnhof befindlichen Kartoffeln für das Kriegsgefangenenlager zu übernehmen. Die bei ihm befindlichen Russen würden umgehend die Waggons entladen und die Kartoffeln auf die Panjewagen umladen. Auf den Einwand, die Kartoffeln seien doch völlig ungenießbar, meinte der Uffz. dass ich keine Ahnung hätte, von dem was diese Kerle, er meinte damit die Russen, alles fressen würden, wenn sie überhaupt etwas bekämen. So sprach er und ließ mit dem Hinweis auf seine Order die Waggons öffnen, um mit der Entladung zu beginnen.

Was dann geschah, daran denke ich noch heute mit Grauen. Die Waggontüren waren noch nicht ganz geöffnet, da stürzten sich die Russen auf die verfaulten Kartoffeln und steckten sich diesen Mist und Dreck mit beiden Händen in die Münder ohne Rücksicht auf den infernalischen Gestank, der von diesem Unrat ausging. Beim Umladen auf die Panjewagen versuchten sie immer wieder mit den bloßen Händen den gegrabschten Unrat in sich hineinzustecken, wobei die deutschen Posten sie mit Gewalt davon abhalten wollten, mit Kolbenschlägen der Karabiner, mit Fußtritten und körperlichem Schlagen, aber nicht um zu verhindern, dass sie diesen Dreck in sich reinmampften, sondern um das "Stehlen" zu verhindern. Das sahen sie als ihre Aufgabe an. Diese deutschen Soldaten waren alles Landesschützen, d. h. das waren alte Leute, alt an Jahren, die als ehemalige Soldaten des letzen Krieges eingezogen waren zur Bewachung von Kriegesgefangenen in den eingerichteten Lagern. Alte Männer, Familienväter, die, weil nicht fronttauglich, als Landesschützen für diesen Dienst abkommandiert waren, dem sie mit Eifer und Beflissenheit nachgingen.

Das waren ganz normale Soldaten der Wehrmacht, keine Rassisten, keine üblen Nazis, keine Angehörige von Sondereinheiten. Und die Vorgesetzen dieser Soldaten waren ganz normale Unteroffiziere und Offiziere, die auch als schon ältere "Herren" ihren Dienst in den Bataillonen der Landesschützen verrichteten, der vorwiegend in der Bewachung der Kriegsgefangenen bestand. Diese deutschen Soldaten fanden es als gut und richtig, wie sie mit den Gefangenen umgingen, das empfanden sie keinesfalls als unmenschlich, schließlich waren diese Russen doch nur "Untermenschen", die hatten es nicht anders verdient. Ich sollte dann noch etwas mehr erleben in punkto Umgang mit "Untermenschen".

Die Entladung der Waggons war beendet, der stinkende Dreck auf Panjewagen geladen, die Russen hatten sich so gut es ging den Unrat in die Mägen gestopft. Nun musste ich mit dem Unteroffizier rauf ins Lager, um mir dort die "ordnungsgemäße Übernahme" der Fäulnis bescheinigen zu lassen. Vorschrift war Vorschrift, auch bei diesem anrüchigen Vorgang. Was ich dann im Lager der kriegsgefangenen Russen erlebte, war noch entsetzlicher als das Geschehen am Bahnhof. Ein Teil des Drecks, einmal beste deutsche Landkartoffeln gewesen, kam unverzüglich, so wie er war, ungesäubert und ungeschält in große Kessel, um darin "gekocht" zu werden, und den entstehenden widerlichen Brei den Russen als "warmes Essen" in ihre Töpfe reinzuhauen. Und über diesen Fraß fielen sie mit Heißhunger her und schlangen ihn in sich hinein. Das waren nur noch armselige Kreaturen, grauenhaft entwürdigt und erniedrigt, von Hunger und Kälte gekennzeichnete und gepeinigte Elendsgestalten. Von menschlicher Würde war nichts mehr zu verspüren, die sie ja aber auch nach deutscher Lesart doch nie besessen hatten, diese "Untermenschen".

Ich sollte aber noch mehr "erleben" an diesem Tage in diesem Lager. Der Kommandant des Lagers war ein deutscher Oberfeldwebel, der in Russland einen Arm verloren hatte, angeblich einige Tage in russischer Gefangenschaft gewesen war, in der er von den Russen misshandelt worden sei, bis er wieder befreit werden konnte. So hörte ich es jedenfalls von einem der Landser, der mir das erzählte. Dieser Mann nahm auf seine Art Rache an den Russen, die sich nun in seiner Hand befanden. Er lief herum mit offener Pistolentasche, weil die darin befindliche Pistole damit jederzeit für ihn griffbereit war und sofort benutzt werden konnte. Es war das die schwere Wehrmachtspistole, die "berühmet 08", die mit dem Kaliber "beste Wirkungen" erzielte beim Schießen auf den Feind.

Der Herr übte seine Rache vorwiegend dann aus, wenn die Russen von der schweren Arbeit auf dem Übungsplatz abends in langer Kolonne zurück ins Lager kamen. In der völligen Erschöpfung der Gefangenen kam es immer wieder vor, dass Gefangene nicht mitkamen, zurück blieben oder aus Schwäche umfielen und am Ende waren. Das war dann der Moment des Herrn Oberfeldwebels, der mit seiner Pistole den angeblich schon verreckten "Untermenschen" den "Fangschuss" setzte. Gnadenlos erschoss er diese "Untermenschen" ob schon wirklich tot, oder fast tot, nach dem Motto: nur ein toter Russe ist ein guter Russe. Die Leiche musste dann von den noch lebenden Russen in eine Kalkgrube geworfen werden, die aber dem ermordeten Kameraden vorher das vom Körper rissen, was er an Klamotten noch am Leib hatte, um sich diese Fetzen anzueignen. Und dann kam die Ladung Kalk auf den Leichnam. Da es bei meinem "Besuch" Abend geworden war, konnte ich selber noch einiges von dem das Wirken dieses Kommandanten erleben und mir wurde kotzübel dabei. Aber auch die braven Landesschützen sprachen völlig geniert über das, was im Lager geschah, auch darüber, dass es angeblich Fälle von Kannibalismus gäbe. Das zu erzählen war anscheinend ganz normal. Normal aus der Sicht, dass von diesen "Untermenschen" und "Nichtchristen" auch kaum was anderes zu erwarten sei, wie man meinte.

Das war für mich unglaublich, ich konnte nicht begreifen, dass es noch Menschenfresserei geben sollte. Aber ich wusste auch noch nicht, was es bedeutet Hunger zu haben, ich kannte nichts von einem möglichen Verhungern, ich wusste nichts von dem, zu dem Menschen fähig sind, wenn sie vor Hunger halb wahnsinnig sind und dann auch das Schlimmste tun können, um in größter Not vielleicht doch noch zu überleben, auch wenn das dann nur ein Vegetieren ist. Jahre später, da wusste ich durch eigenes Erleben, was es heißt, quälenden Hunger zu haben und zu was ein Mensch in der Lage ist, um nicht verhungern zu wollen. Nur damals kannte ich nichts von einem Zustand der völligen Verzweiflung, in dem man zu dem Schlimmsten fähig ist, um irgend etwas Essbares zu ergattern, auch wenn es Dreck und Unrat ist. Damals, 194l, war ich ein gut genährter und immer satter Soldat, der das Elend im Lager der Russen mit Entsetzen sah. Bei diesem Anblick wäre mit nie in den Sinn gekommen, dass ich, 1945 im Lager der Amerikaner als deutscher Kriegsgefangener, auch etwas Unmögliches tat, um meinen Hunger etwas stillen zu können, dass ich aus der Abfallgrube der Amis Essensreste rauben könnte.

Ich war entsetzt von der Unmenschlichkeit deutscher Soldaten, von der ich im Straflager für die Franzosen schon etwas mitbekommen hatte. Dort wurde zwar keiner bewusst umgebracht, aber dafür krepierten etliche von ihnen "nur" aus Hunger. Das Hungerelend auch in dem Lager war eine für mich unfassbare Unmenschlichkeit. Solche Zustände in deutschen Lagern, in denen die Kriegsgefangenen untergebracht waren, waren für mich und mein Empfinden eine Grausamkeit sondergleichen, das erschien mir unwürdig für die Wehrmacht. Von einer ehrenvollen Behandlung kriegsgefangener Soldaten konnte keine Rede sein, trotz geltender internationaler Vereinbarungen.

Zurück in der Kaserne erzählte ich meinen Kameraden, was ich erlebt hatte und machte dazu die Bemerkung: "Wehe uns, wenn wir den Krieg verlieren, was wird dann mit uns geschehen? Das Furchtbare wird dann voll auf uns zurückschlagen; gebe Gott, dass das nie geschehen möge." Doch dann erlebte ich, dass meine Kameraden nicht dieser Ansicht waren, sie sahen das anders. Vor allem fanden sie es überhaupt nicht gut, dass ich mich so destruktiv darüber ausgelassen hatte, das solle ich lieber bleiben lassen, das könne sonst sehr gefährlich für mich werden, wenn andere solches von mir hören würden. Davon abgesehen waren sie der Meinung, dass die Russen es nicht anders verdient hätten. Eine menschliche Behandlung sei bei denen nicht angebracht. Die Russen seien doch wirklich nur "Untermenschen", etliche sogar Bestien. Mitleid sei überhaupt nicht am Platze. Außerdem sei es doch sehr fraglich, wie denn die Russen mit deutschen Soldaten umgehen, wenn sie bei denen in Gefangenschaft geraten würden. Man müsse doch davon ausgehen, dass die Russen alle umbringen und sicher keine Lager eingerichtet hätten für deutsche Soldaten. Ich solle mich nicht so haben, schließlich hätten wir Krieg, und der Krieg im Osten sei nun mal kein normaler Krieg gegen normale Feinde.

Solches hörte ich von meinen lieben Kameraden, die ein "Wissen" von sich gaben, das sie aus deutschen Wochenschauen, den Soldatenzeitungen und anderen Druckmedien entnommen hatten. Das war nicht der eigene Grips, das war die Folge der Propaganda, eine Propaganda, die sogar nach 1945 noch "erfolgreich" blieb wie z. B. in den Wahlplakaten mit der Fratze eines Rotarmisten, die genau so war, wie die unter Goebbels in Umlauf gebrachten Fratzen, durchweg dargestellt als mongolische Visagen.

Hatte ich auch bist jetzt noch nichts von dem wirklichen Grauen und Elend des Krieges mitbekommen, noch kein Schlachtfeld mit Toten und Verwundeten erlebt, so war aber das, was ich jetzt hatte erleben müssen, diese schlimme Konfrontation mit Unmenschlichkeit, der Beginn einer Veränderung meines bisherigen Verhaltens zum Krieg und seinem Geschehen. Ich konnte Krieg nicht mehr so sehen, wie ich es in meiner Einfalt einmal getan hatte. Ich bekam starke Zweifel am Sinn eines Krieges, gleich wer die Kriegführenden auch sein mochten. Ich begann zu begreifen, dass Krieg nicht ein großes Abenteuer ist, dass Krieg etwas Furchtbares, etwas Grauenhaftes ist.

Jetzt kam ich zu der Meinung, Kriege seien doch keine zwingende Notwendigkeit. Kriege können vermieden werden, wenn die Völker und deren Führer das nur wollen. Ich war jetzt auch davon überzeugt, dass es einen gerechten Krieg überhaupt nicht gibt, weil ein jeder Krieg nur ein verbrecherischer Selbstzweck ist, um Landraub, Eroberungen und Unterdrückungen durchzuführen. Ich fing an, die Geschichte der Menschheit mit anderen Augen zu sehen, auch die Kriege, die nicht nur von weltlichen Herrschern, von grausamen Despoten, sondern auch im Namen von Ismen jeder Art, besonders aber die der religiösen Ismen des Christentums, die im Namen des Herrn geführt wurden, des Allmächtigen, der doch ein Gott der Liebe sein sollte. Wie konnte dieser Gott zusehen, wie "seine" Menschen andere Menschen umbrachten, wie es jetzt wieder der Fall war? Wie konnte er es zulassen, dass solche Untaten geschahen, wie ich sie jetzt erlebt hatte?

Warum musste es immer wieder Kriege geben, in denen Menschen getötet und verwundet wurden, die nichts weiteres verbrochen hatten, als plötzlich Feind zu sein und das nur, weil irgend ein Staat andere Völker zu Feinden erklärte, um seinen Krieg zu führen. Musste sich nicht endlich einmal die menschliche Vernunft durchsetzen, die es doch angeblich geben sollte, die doch eine göttliche Gabe war? Müsste nicht endlich einmal das elende Säbelrasseln ein Ende haben und das bei allen Völkern auf der ganzen Welt? Solch und andere Gedanken verstärkten sich in mir, nur konnte ich mich darüber nicht äußern, weil Äußerungen in der Öffentlichkeit, auch im kleinen Kreis unter Umständen lebensgefährlich sein konnten.

lo