Dieser Eintrag stammt von Edith Stampe (*1930) aus Hamburg, April 2001:
Während der Nazizeit gab es für ganze Klassen die Kinderlandverschickung, damit wir nicht immer unter dem Bombenhagel waren. Ich wollte so gerne mit nach Ungarn, aber ich mußte viele Hindernisse überwinden.
Mein Vater war Kommunist und Widerstandskämpfer, das hat ihm 3 Jahre KZ (Konzentrationslager) eingebracht und seine Tochter wollte in die Kinderlandverschickung, aber es war ja traumhaft, wir kannten ja gar kein verreisen und denn ins Ausland, es war ja zu verlockend. Zuerst hörte ich nur, die Uniform kommt mir nicht ins Haus, meine einzige Erwiderung war: "Vati du brauchst es nicht zu bezahlen!" Nach vielen Kämpfen durfte ich dann doch mit. Zuerst waren wir in einem Lager untergebracht mit 5 Mädchen in einem Zimmer. Das Essen schmeckte zwar, aber für uns ausgehungerten war es einfach zu wenig.
Eines Tages machten wir mit dem Küchenpersonal ein Picknick und eine Wanderung durch die Karpaten, Unsere Schuhe waren nach 3 Jahren Krieg nicht das Wahre, wenn ich darüber nachdenke, daß ich einen Nagel im Schuh hatte, dann tut es mir heute noch weh. Jeden Tag mußten wir zum Appell antreten, da wurde die Flagge gehißt und abends saßen wir im Kreis und sangen schöne Lieder z.B. "Kein schöner Land in dieser Zeit".
Dann brach Scharlach im Lager aus und nach der Quarantäne kamen wir nach Szasregen, in der Nähe von Kronstadt, zu Pflegeeltern, da blieben wir dann bis Oktober 1942. Es war eine traumhafte Zeit. Die Pflegeeltern waren Deutsche, deren Vorfahren vor 800 Jahren eingewandert waren. Meine kleine Pflegeschwester sprach deutsch, ungarisch, rumänisch und den siebenbürger Dialekt. In der Familie gab es gutes Essen, da hatten wir keine Probleme mit dem Hunger.
Der Pflegevater war Architekt und die Pflegemutter kümmerte sich um ihre 3 Kinder. Sie machte wunderschöne Handarbeiten und hatte auch einen Webstuhl, wo sie ihre Teppiche selbst webte. Die Pflegemutter brachte mir im Fluß Mieresch das schwimmen bei, danach machte ich für das Jungmädelleistungsabzeichen meinen Freischwimmer.
Es war immer heiß in Siebenbürgen und die Mücken haben mich so gepisackt, da hat meine Pflegemutter mir den schieren Essig über den Rücken gegossen, das half. Eines Tages hatten wir wieder Appell, und ich wurde aufgerufen. Da stand ich dann als 12jähriges Mädchen und man sagte mir, nehme die Ohrringe raus, ein deutsches Mädchen trägt keine Ohrringe. Ja, das war die andere Seite der Kinderlandverschickung. Nachher sind mir logischerweise die Ohrlöcher wieder zugewachsen.
Die Siebenbürger Sachsen waren ein fleißiges Volk und wie schon erwähnt - seit 800 Jahren ihre Heimat. Nach dem Krieg sind die Pflegeeltern an den Attersee/Österreich geflohen und dort seßhaft geworden. Ich habe sie dann durch das Deutsche Rote Kreuz suchen lassen und auch gefunden. Ich möchte dieses halbe Jahr in meinem Leben nicht missen. Was haben wir alles an Sitten und Gebräuchen kennengelernt, wir hatten aber auch eine sehr gute Lehrerin.
Seit dieser Zeit bin ich ein Ungarnfan und bin 1986 und 1997 mit meinem Mann in Ungarn gewesen. Die Ungarn sind auch ein liebenswertes und gastfreundliches Volk und darum würde ich gerne mal wieder hinfahren.