Dieser Eintrag stammt von Hermann Joseph Heckmann (*1929) aus Windhagen (heckmann.windhagen@t-online.de), Februar 2012:
/lemo/bestand/objekt/heckmann_02 Aufgrund des alliierten Vormarsches wurden wir Schüler aus dem KLV-Lager in Nideggen in der Eifel Anfang Oktober 1944 nach Thammühl am See, Kreis Böhmisch Laipa im Sudetengau verlegt. Geographisch gesehen lag der Ort in Nord / Süd Richtung ungefähr in der Mitte zwischen Dresden und Prag. In Ost / West Richtung ungefähr mittig zwischen der Elbe und Reichenberg im Riesengebirge. Die Fahrt in einem Sonderwagen dorthin dauerte gut zwei Tage. Die erste Nacht verbrachten wir im Zug, die zweite Nacht schliefen wir in Dresden in einer Turnhalle, die mit Matratzen ausgelegt war.
Als wir in Thammühl ankamen - der 'Bahnhof' der eingleisigen Strecke bestand aus einer Schranke und einem Häuschen für den Schrankenwärter, der auch Fahrkarten verkaufte - begrüßten uns einige 18- bis 20-jährige Tschechen mit dem Ruf: "Seid Ihr auch Hitlerjungen und könnt fein Pfeifen?" und bewarfen uns mit Steinen. Was der Spruch bedeuten sollte, haben wir nie erfahren. Erfahren haben die Tschechen aber, dass man Kölsche Jungen nicht ungestraft mit Steinen bewirft. Später haben die Alle einzeln von uns - allerdings in Übermacht, denn ein 15-jähriger ist gegen einen 5 Jahre Älteren im Nachteil - eine Tracht Prügel bezogen. In Thammühl waren rund zweitausend Kinder untergebracht. Wir waren die einzigen Westdeutschen, alle Anderen waren Gymnasiasten der Sexta und Quinta aus Nürnberg. Alles feine Pinkel, deren Eltern Ärzte, Rechtsanwälte oder sonstige gut Verdienende waren. Bei denen konnten die Tschechen den starken Mann machen. Bei uns nicht!
In Thammühl war für uns nichts vorbereitet. So wurden wir in kleinen Gruppen auf die Nürnberger Lager verteilt. Zu viert wohnten wir ca. 2 Wochen im 'Haus Seeblick'. Dann waren wir kurze Zeit zu sechst in einem Zimmer im Restaurant und Cafe 'Hotel Lenz', wo auch für uns gekocht und von uns gegessen wurde. Zum Schluss waren wir im 'Haus Marianne'; im 'Haus Kamilla' und im Hotel Lenz verteilt. Der Nideggener Lagerleiter Merten wurde zum Hauptlagerleiter befördert und wohnte mit seiner Frau separat in einer Ferienwohnung. Aus den Lagerlehrern wurden in Thammühl Lagerleiter. Ordnung muss sein! Bei den Lagern "Marianne" und "Kamilla" handelte es sich um Sommer-Pensionen, deren Beton-Außenwände höchstens 15 cm dick waren. Eine Heizung war nicht vorhanden. Um wenigstens etwas Wärme zu haben wurde in jede Stube ein Kanonenofen eingebaut. Da wir keine Kohlen bekommen konnten, mussten wir für den Winter einen Holzvorrat anlegen. Statt im Unterricht zu sitzen, streiften wir durch den Wald um Holz zu sammeln.
Zwischen Thammühl und Hirschberg am See lag mitten im Wald eine unbenutzte Kaderschule der SA, einer Organisation der NSDAP, in der lediglich ein Verwalter oder Hausmeister wohnte. Wir hatten gesehen, dass in dem dazu gehörenden Wald eine Menge ca. 3 Meter langer, trockener Birkenstämme herumlag. Die haben wir uns natürlich "unter den Nagel gerissen". Die Stämme wurden zersägt und gehackt und sauber im Vorgarten des Hauses aufgeschichtet. Vielleicht zwei Wochen später erklärte uns Herr Merten beim Mittagessen, dass der Verwalter der SA-Schule bei ihm vorstellig geworden wäre und uns beschuldigte, im SA-Wald sämtliche Birkenstämme geklaut zu haben. Merten widersprach, nach eigener Aussage, mit den Worten "Meine Jungens stehlen nicht!" und bot dem Herrn an, am Nachmittag des Tages unsere Lager zu inspizieren. Merten hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da rannten wir schon los. Auf seine erstaunte, an die Kollegen gerichtete Frage "Was haben die denn?" antwortete Segschneider vieldeutig: "Kümmere Dich nicht drum. Es ist besser so!" Wir haben dann in Windeseile das Birkenholz in den Keller der Hausbesitzerin geräumt. Als der Kontrolleur kam, war nichts von Birkenholz zu sehen. Selbst der kleinste Holzspan war sorgfältig aufgelesen worden.
In der Nähe des Ortes hatte ein Bauer, zwischen in den Boden gerammten Pfählen, so um die fünf Kubikmeter Holz aufgeschichtet, das hatten mein Kumpel Helmut und ich gesehen. Wir haben uns nur angesehen und uns zugenickt. Abends nach zehn Uhr hat die ganze Lagerbesatzung - das waren zwischen 15 bis 18 Jungen - das, angeblich von uns 'abgelegte Holz ins Lager geschafft. Als das ganze Holz weg war, habe ich mit ein paar Kameraden die Pfähle losgerüttelt, aus der Erde gezogen, die Löcher aufgefüllt und die Stellen mit Fichtennadeln bedeckt. Petrus war mit uns und hat in der Nacht mit einem kräftigen Regen unsere Spuren verwischt. Ein paar Tage später kamen Helmut und ich in die Nähe der Stelle, wo das Holz gelegen hatte. Da standen der Bauer und ein Gendarm. Wir hörten, wie der Bauer beteuerte: "Herr Wachtmeister, hier hat das Holz wirklich gelegen." "Wenn Sie das Holz hier aufgestapelt hätten, müssten die Löcher von den Pfählen zu sehen sein. Aber da ist Nichts. Sie verwechseln sicher die Stelle. Das Holz steht bestimmt anderswo!" Als wir außer Hörweite waren, haben wir beide losgeprustet.
Mit der nahenden militärischen Niederlage Deutschlands wurde die Versorgung mit Lebensmitteln zunehmend schwieriger. War unsere Verpflegung im Oktober 1944 noch sehr gut, so hatten wir Ende November / Anfang Dezember schon wesentlich schlechteres Essen. Mitte Dezember gab es den ersten Schnee, und die Temperaturen fielen am Tag auf minus 15 und nachts auf minus 25 Grad. Helmut und ich schliefen in einem Bett, um uns gegenseitig zu wärmen und um uns mit den zwei Decken gleichzeitig zuzudecken. Wenn wir morgens wach wurden, war die ganze Außenwand innen völlig vereist; denn der Kanonenofen hielt ja keine Wärme. Nach Weihnachten wurde die Versorgungslage so prekär, dass wir eine Woche lang nur eine dicke Scheibe in Salzwasser gekochte holzige Kohlrabi als Mittagessen erhielten. Nach diesem Schweinefrass konnte ich Jahrzehnte keine Kohlrabi mehr sehen, geschweige denn essen. Als die Kältewelle vorbei war, wurde die Versorgung und das Essen wieder besser - aber keinesfalls so gut wie im Oktober.
Frau Kraft, die Mutter eines Schulkameraden, war ebenfalls nach Thammühl gekommen und machte sich als Lagerhelferin nützlich. Ihr hatte Sohn Günter den mitgebrachten Volksempfänger abgeschwatzt. Damit empfingen wir einwandfrei die BBC. Eines abends - wir hatten uns alle rund um das ganz leise gestellte Radio versammelt und hörten den englischen Sender - überraschte uns unser Lehrer und Lagerleiter Herr Segschneider. An Stelle eines Vorwurfs sagte er uns: "Ja wenn das so ist, dann schlage ich vor, wir tauschen den Volkempfänger gegen meinen großen 'Blaupunkt' da haben wir einen besseren Empfang. Für das Schlager-Gedudel von dem Gretchen (seiner Frau) ist der Volksempfänger gut genug. Und dann hören wir die Nachrichten aus London gemeinsam." Welch ein Vertrauen zu seinen Schülern!
Mitte Januar 1945 kam meine Mutter - die inzwischen in Falkenstein im Voigtland evakuiert war - nach Thammühl. Meine Lehrer waren damit einverstanden, dass sie mich mit nach Falkenstein nahm. Hatten die Lehrer doch damit die Verantwortung für einen Schüler weniger. Für die Fahrt nach Falkenstein boten sich zwei Routen an: Erstens von Tetschen-Bodenbach durch das Elbsandsteingebirge nach Dresden und über Chemnitz und Zwickau nach Falkenstein oder zweitens über Aussig die Eger hoch bis Karlsbad und über Klingenthal nach Falkenstein. Meine Großmutter mütterlicherseits war Westfälin …. und 'Spökenkiekerin'! Sie hatte das 'Zweite Gesicht' und war in der Lage, zukünftige Ereignisse vorherzusagen. Meine Mutter hatte davon eine gewisse Portion geerbt. Die Fahrt über Dresden empfand sie als zu gefährlich, und wir entschieden uns, über Karlsbad zu fahren. Auf der Fahrt bekam ich eine echte Grippe. Als wir in Karlsbad im Wartesaal den nächsten Morgen erwarteten, hatte ich über 40 Grad Fieber. Eine Sanitäterin der Wehrmacht, die meinen Zustand bemerkt hatte, versorgte mich mit Medikamenten. In dieser Nacht, vom 13. auf den 14. Februar 1945 - in der wir in Karlsbad im Wartesaal saßen - erfolgte der verheerende Angriff auf Dresden.