> Ilse Schier: Berlin im Krieg

Ilse Schier: Berlin im Krieg

Dieser Eintrag stammt von Ilse Schier-Weimann (*1924) aus Berlin: ilseschier-weimann@web.de März 2011 Der Text ist ein Auszug aus dem Buch: "Die Frau hinter der Theke. Lebensgeschichte einer Berlinerin" erschienen im Frieling-Verlag Berlin, 2008

/lemo/bestand/objekt/schier_012 1941 zog ich mit meinen Eltern von Schillen (Szillen) in Ostpreußen nach Berlin. Vorher hatte ich in einer Kriegstrauung meinen Verlobten Reinhard geheiratet. Meine Eltern übernahmen in Berlin von meiner Tante das "Neandereck", eine Gastwirtschaft bei der heutigen U-Bahn-Station Heinrich-Heine-Straße. All das Neue in Berlin forderte von meiner Familie und mir den vollen Einsatz und extreme Aufmerksamkeit, um ein völlig fremdes Feld zu beackern. Im Grunde folgten wir dem gesunden Menschenverstand und den Erfahrungen auf dem Bauernhof: Was du säst, erntest du. Wir setzten unsere Kenntnisse und Fähigkeiten ein, ergänzten uns im Ablauf des Geschäfts, jeder nach seinen Möglichkeiten. Wir lernten schnell, dass jetzt nicht mehr "ein gegebenes Wort ein Wort" ist, sondern ein "Wörterbuch", und all die anderen "Zicken und Zacken" des täglichen Lebens in der fremden Stadt - es war meine neue "Lebensschule".

In der ersten Zeit unseres Wirkens am fremden Ort hat uns der ehemalige "Zapfer" von Tante Klärchen "eingearbeitet"; es war sehr hilfreich, über ihn die "Stammkundschaft" kennen und schätzen zu lernen, die Einkaufsquellen zu nutzen sowie Erforderliches bei den Behörden zu erledigen. Schnell fanden wir guten Kontakt zu unseren Gästen. Bald prangte ein Spruchband über der Theke: "Hier stehen immer die, die immer hier stehen", einige schütteten nach ihrem Feierabend bis spät in die Nacht so an die 40 Mollen (1Molle = 1 Glas 0,25 l) in sich hinein. Viele Gäste waren sehr vertraut miteinander durch ihre Tätigkeiten in den kleinen Industriebetrieben rundherum. Ein besonders guter, spendabler Gast war ein Knopffabrikant. Gerne spendierte er in fortgeschrittener Stunde ganze Stubenlagen Alkoholika.

Die Zwangsbewirtschaftung aller lebenswichtigen Erzeugnisse führte dazu, dass es z.B. für einen Tag nur eine bestimmte Menge Bier als Zuteilung gab. Das wussten natürlich die Kneipenbesucher genau. So war meistens schon mittags das "Kontingent Bier" ausgeschenkt und ausgesoffen!! Und für die alkoholfreudigen Gäste gab es nur noch "Alkolat", ein künstliches Gesöff. Dem Einfallsreichtum jedes Unternehmers war es daher damals besonders überlassen, Quellen zu finden, um seinen Kunden etwas Reelles zu bieten. Der "Branka-Wermut" war so ein gutes Angebot eines Lieferanten und wurde hochgeschätzt. Meine Mutter fand heraus, dass viele Gäste gerne etwas zu essen wünschten. Deshalb kochte sie manch stärkendes Gericht für viele Betriebsangehörige von kleinen Firmen aus der Umgebung. Trotz der Zwangsbewirtschaftung gelang es ihr, oft etwas Gutes anzubieten, Vitamin "B" (Beziehungen) hieß das Zauberwort.

/lemo/bestand/objekt/schier_013 Ich erinnere mich, dass ich meine Mutter mal eine Woche vertreten habe, sie fuhr zu meinen Schwiegereltern nach Schillen in Ostpreußen. Urlaub - dieser Begriff war für sie bisher völlig unbekannt. Ich weiß noch genau, dass ich unseren Gästen Kartoffelklöße von rohen Kartoffeln mit Sauerkraut und Speck kredenzt habe. Noch heute bin ich stolz darauf, es gemanagt zu haben. Ich hatte meinen Dienst in der Destille wie Mutter und Vater auch, meine Schwester Gerda besuchte ja noch weiter in Berlin die Schule.

Vorerst blieben wir noch vom unmittelbaren Kriegsgeschehen verschont, und so konnte ich meine Freizeit sehr genießen. Schön waren meine Ausflüge mit der Straßenbahn, die Köpenicker Straße entlang in Richtung Treptower Park. Manchmal kam auch Mutter mit, dann leisteten wir uns eine Kahnpartie. Gerne ging ich auch zu den Bären im Kölnischen Park, oder spazierte in Richtung Spittelmarkt und besuchte den Neptunbrunnen. Mit der Stadtbahn fuhr ich nach Potsdam und spazierte am damals noch heilen Schloss vorbei in den Park von Sanssouci. Wenn ich mit der U-Bahn von der Jannowitzbrücke zur Krummen Lanke fuhr, um zu baden, musste ich zwischendurch ein paar Mal aussteigen, weil mir hundeschlecht wurde. Ich konnte es lange Zeit nicht vertragen, mit der U-Bahn zu fahren. Die große Stadt hatte für mich eben auch ihre Macken.

Einen gehörigen Schreck bekamen wir, als in der Schmidtstraße - ein paar Häuser weiter weg von unserer Ecke Neanderstraße - eine feindliche Bombe ein Haus zertrümmerte. Wir konnten es nicht fassen! Es war jedoch nur die Probe für das Inferno, das dann 1945 geschah... Obwohl es in Berlin oft Fliegeralarm gab, waren wir selbst bis dahin verschont geblieben. Wir Hausbewohner der Neanderstraße 28 hatten unseren Luftschutzkeller im U-Bahn-Keller. Das Heulen der Luftschutzsirene werde ich in meinem Leben niemals vergessen.

/lemo/bestand/objekt/schier_019 1943 flatterte, wie ein Blitz mit Donnergetöse, die erneute Einberufung meines Vaters zum Kriegseinsatz ins Haus! Mit 43 Jahren "Kämpfen für Volk und Vaterland", das war das Motto! Keiner konnte zu Ende denken, was nun folgen würde. Der Endspurt des Wahnsinns begann und zerstörte die Existenz meiner Eltern zum zweiten Mal. Die Gaststätte wurde geschlossen. Meine Mutter bekam das übliche Entschädigungsgeld zum Leben für sich und meine Schwester Gerda. Ich erhielt als Ehefrau Reinhards Gehalt von der Wehrmacht. So lebten wir mit der grausamen Angst um Vater und Reinhard, zudem gab es viel öfter Fliegeralarm und die Bomben schlugen immer näher ein.

Kurz vor Mitternacht zum 8. Februar 1944 kündigte sich meine kleine Tochter Ingrid an, um dann um 4.42 Uhr in meiner alten ostpreußischen Heimat das Licht dieser so komplizierten Welt zu erblicken. Mein Mann Reinhard konnte seine kleine Tochter kriegsbedingt erst im August 1945 in die Arme nehmen. Meine Mutter kehrte nach der Geburt zurück nach Berlin, meine Schwester Gerda brauchte sie, denn Fliegeralarm und Bomben bedrohten täglich ihr Leben. In Schillen hatten wir davor Ruhe - noch. Mein kleiner Spatz wuchs behütet von lieben Menschen jeden Tag ein bisschen. Doch das Schlechte ließ leider nicht lange auf sich warten. Bei Dunkelheit zeigten sich im Spätsommer nicht weit entfernt am Himmel "Christbäume", russische Aufklärungsfackeln möchte ich sie nennen. Wie bedrohlich für uns, was wohl die Folgen sein würden... Die Frontnachrichten hörten sich nicht gut an, die Deutschen wurden zurückgeschlagen. Die Angst um die Angehörigen wurde riesengroß. Nur darum ging es immer, um das unsägliche Leid des Krieges. Aus Reinhards Feldpostbriefen kam keine hilfreiche Botschaft, die Ereignisse überrollten den Einzelnen.

/lemo/bestand/objekt/schier_020 Meine Mutter rief aus Berlin an: "Jetzt komme ich und hole dich und Ingrid nach Berlin!" Es war Oktober 1944, als auf offener Lore per Bahn deutsche Soldaten zurückfluteten aus Russland. Vater Schier nähte aus einer kostbaren Lederhaut für seine Enkelin eine passende Tasche zum Transport nach Berlin. Mutter und Schwiegermutter packten Pakete mit Bettzeug, Leibwäsche und Handtüchern, aber auch Weckgläser mit Fleisch. Jedoch war es fraglich, ob die Bahn das noch zum Transport annehmen würde. Es glückte. Wie meine Mutter es geschafft hatte, in einem Gerätewagen der Wehrmacht, der auf einer Lore der Bahn verankert war, für uns einen Platz zu bekommen, ist mir ein Rätsel. Die flüchtende Wehrmacht wollte auch in Richtung Königsberg. In Insterburg wurden wir von russischen Tieffliegern beschossen. Die Soldaten sprangen runter in die Böschungen, während wir im Wagen ausharrten. Ich beugte mich über Ingrid auf meinen Schoß, wir blieben gottlob unverletzt. Auch das Chaos auf dem Umsteigebahnhof in Königsberg haben wir überstanden. So landeten wir im gefährdeten Berlin und holten erst einmal tief Luft. Gerda war froh, dass wir endlich da waren.

In Berlin hatte meine Mutter für meine kleine Tochter Ingrid und für mich die Wohnung der Nachbarn Preubisch besorgt, die wegen der Bombengefahr aufs Land gezogen waren. Es bedeutete für alle eine enorme Umstellung und Anpassung an die neuen Verhältnisse. Die Gastwirtschaft war verriegelt und verrammelt (auch wegen Einbruchsgefahr), einige Vorräte holten wir uns aus dem Keller - das Ganze erschien uns sehr unwirklich. Nur vorübergehend, dachten wir, der Irrsinn muss doch mal aufhören!

Die Verbindung zu Reinhard und zu meinem Vater war abgebrochen. Die Gedanken blieben die einzige Brücke, doch verloren sie sich im Dunst der Angst. Der Alltag erzwang unser Handeln. Nachbarschaftshilfe war nötig, um alles zu bewältigen; man unterstützte sich gegenseitig. Ich erinnere mich auch an den Fischfritzen Otto Krüger, der neben unserer Gaststätte ein Fisch- und Delikatessengeschäft hatte. Er war Meister im Organisieren und nutzte seine vielfältigen Verbindungen zur Markthalle am Alex. Ihm sei Dank, denn nicht zuletzt durch ihn haben wir in Richtung Lebensmittelversorgung gut überlebt. Überlebt haben wir Gott sei Dank auch die Bombenangriffe auf Berlin.


lo