Dieser Eintrag stammt von Ilse Schier-Weimann (*1924) aus Berlin: ilseschier-weimann@web.de März 2011 Der Text ist ein Auszug aus dem Buch: "Die Frau hinter der Theke. Lebensgeschichte einer Berlinerin" erschienen im Frieling-Verlag Berlin, 2008
/lemo/bestand/objekt/schier_019 Den Krieg erlebte ich in Berlin. Ich erinnere mich noch, als uns Tante Lenchen aus Insterburg überraschend in Berlin besuchte. Ich begleitete sie eines Tages, im Februar 1945, zu ihren Verwandten nach Köpenick - wir fuhren mit der S-Bahn. Kaum waren wir dort angelangt, ertönte die furchtbare Sirene. Fliegeralarm! Sofort bekam ich Bauchschmerzen - dieses grausame Geheule kann ich bis heute nicht vergessen. Ich versuchte zurück in die Stadt zu fahren, aber nichts ging mehr um 11 Uhr vormittags an diesem 3. Februar 1945.
Meine Angst verlieh mir Flügel. Mein einjähriges Kind, meine Mutter, meine Schwester! Ich lief zu Fuß Richtung Innenstadt. Den Weg wies mir der schwarze Rauch am Himmel. Es wurde finsterer und dunkler, je länger ich unterwegs war. Der beißende Qualm nahm mir die Sicht - brennende Holzscheite fielen rechts und links von den Häusern herab - es war ein Inferno! Viele Menschen waren mit mir in Panik auf dem gleichen Wege. Dann wurden wir von Ordnungshütern gestoppt: "Da kann keiner mehr durch, es liegt alles in Schutt und Asche!". Schreiend und außer mir bahnte ich mir trotzdem einen Weg: "Ich muss zu meinem Kind!". Keiner konnte mich halten, dicht an die brennenden Häuser drückte mich der Feuersturm, der Sauerstoff war reduziert und es entstand ein Sog hin zu den Flammen. Ich weigerte mich, zu verbrennen - und es war ein Wunder: Ich erreichte den U-Bahn-Eingang Neanderstraße, stolperte über die Menschen auf den Treppen und lief in unseren hauseigenen Luftschutzkeller. Die Tür flog auf, ich hörte meine Ingrid wimmern - meine Mutter nahm mich in die Arme und ich mein Kind! Die Erinnerung daran ist so grausam deutlich, dass es noch heute weh tut.
Das Inferno hatte ja mittags um 11 Uhr begonnen. Der Himmel war stockfinster, nur die Flammen malten schaurige Bilder, und es stank nach verbrannten Menschen. Brandbomben fraßen sich durch die Dächer der Häuser, vor Qualm konnte man nicht atmen. Auch im U-Bahn-Schacht war das Chaos nicht zu beschreiben. Die Menschenmassen irrten entlang der Schienen Richtung Irgendwo. Meine Mutter wagte sich die Treppe hinauf in den 2. Stock, um sich Wichtiges aus der Wohnung zu holen. Sie traf einige Polizisten vom 13. Revier, die anboten, ihr zu helfen. Sie transportierten Sachen aus der Wohnung und stellten sie auf den Bahnsteig der U-Bahn ab. Wir konnten uns ja nicht auf sämtliche geretteten Sachen draufsetzen, und so reduzierte sich unsere Habe wieder erheblich durch andere Menschen, die schon alles verloren hatten. In der Nacht war dann auch Schluss mit Sachen retten: Das große Eckhaus, Neander-/Ecke Schmidtstraße, brannte im Laufe des nächsten Tages runter bis zur 1. Etage. Schuttmassen brachen durch die Decke auf die Gaststätte und verwüsteten sie. Unser "Fischfritze" Otto Krüger, der neben unserer Gaststätte ein Fisch- und Delikatessengeschäft hatte, gewährte uns Unterschlupf; sein Haus war verschont geblieben. Irgendwann hatte es auch Gerda zu Fuß von der Gärtnerei Hermann Rothe aus Marienfelde bis zu uns geschafft. Genau so erschöpft und total fertig wie wir - nur dankbar, dass wir noch lebten.
Aus Abend und Morgen wurde ein neuer Tag mit verpesteter, sauerstoffarmer Luft zum Atmen...Im allergrößten Unglück hatte meine Mutter die Kraft, ihrer Familie für die spätere Zeit ein großes Geschenk zu machen. Sie rettete sich mit uns in Richtung Westen! Nur dort wollte sie eine Bleibe finden, das hatte sie mir später erklärt. Und wir wurden tatsächlich in die Wulffstraße 7 in Steglitz von "Amts wegen" in eine verlassene Wohnung eingewiesen. Mutter hatte einen Lastwagen organisiert, der uns und unsere verbliebene Habe dorthin brachte. Bevor wir "unsere Ruine" in der Neanderstraße 28 verließen, schrieben wir in großen Lettern auf Pappe unsere neue Adresse für unsere Angehörigen und Freunde.
Nach dem mörderischen Bombardement wollten wir nur schlafen... wie und wo war zunächst völlig egal. Jeder neue Tag brachte jedoch mehr Unheil, wir waren ja noch nicht ganz vernichtet. Inzwischen hatten wir April 1945, die Russische Armee eroberte Berlin …
Irgendwo steht in der Bibel: "Man bekommt nicht mehr aufgebürdet, als man tragen kann"... Es hat aber gereicht und war schwer.
Am 8. Mai beendeten die Alliierten per Unterschrift ihrer Regierungschefs das Inferno des schrecklichen Zweiten Weltkrieges. Aber von seinen verheerenden Auswirkungen waren die meisten Menschen persönlich noch lange betroffen. Verzweifelt versuchten sie, damit klarzukommen, dass wirklich kein Stein mehr auf dem anderen geblieben war. Was nun? Ich hatte meine einjährige Tochter Ingrid, meine Mutter Anna und Schwester Gerda. Reinhard musste irgendwo in Russland sein - ob er wohl noch lebte? Die letzte Feldpost kam aus dem Stalin-Kessel...
Als mein Mann Reinhard im August 1945 aus Sibirien kommend in Friedland gelandet war, machte er sich auf den Weg, uns zu suchen. Das Hinweisschild an der Ruine in der Neanderstraße 28 hat ihn auf unsere Spur gebracht! Nachdem Reinhard am 28. August 1945 aus Nishnitagil, einem Rüstungsbetrieb in Sibirien, heimgekehrt war, kümmerte er sich um seine Familie. Seine kleine Tochter - etwa zwei Jahre alt - fürchtete sich anfangs vor dem fremden Onkel...
Mein Mann Reinhard hatte sich inzwischen zu Hause wieder eingelebt. Überraschend klopfte auch Schwiegervater Otto im gleichen Sommer an die Tür. Er war als Volkssturmmann in Ostpreußen noch während der letzten Kriegstage in Gefangenschaft geraten. Mein Vater, Jahrgang 1900, kam aus russischer Gefangenschaft leider erst 1951 todkrank nach Hause. Schwiegermutter Hannchen hatte aus ihrer Heimat in Ostpreußen fliehen müssen und war von den Dänen gerettet worden, als das Schiff "Wilhelm Gustloff" sank. Nach ihrer Internierung in Dänemark tauchte sie 1948 bei uns auf. So lebten wir in der heutigen Braillestraße/Ecke Rothenburgstraße in sechs Zimmern alle zusammen.
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