Dieser Eintrag von Jutta Schneider (*1927) aus Reisbach (wolf.jutta@gmx.de) von März 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben!
/lemo/bestand/objekt/schneider_02 In meiner Heimatstadt Bremen fielen immer wieder Bomben. Menschen und Tiere starben unter den Trümmern. Deutschlands Jugend und "Zukunft" sollte in Sicherheit gebracht werden. Die Schulen wurden komplett verlegt. Einige kamen nach Hessen, andere nach Oberbayern. Viele Mütter sträubten sich ihre Kinder herzugeben, waren ihnen doch schon die Männer genommen worden. Nur wenn sie selber die Stadt verließen, um in sichere Gegenden zu ziehen, blieb ihnen eine Trennung erspart.
16 Monate dauerte schon der Krieg. Kein Ende war abzusehen. So kam ich mit meiner Klasse nach Berchtesgaden/Schönau. Ich kannte die Berge nur von Bildern. Trotz des Abschiedsschmerzes von der Mutti, dem Schwesterchen und den Großeltern war ich gespannt auf das, was mich erwarten würde. Mutti brachte mich mit dem großen Koffer und der schweren Tasche zum Bahnhof. Hunderte von Kindern nahmen dort Abschied von ihren Lieben. Es war der 27. Februar 1941. Am späten Nachmittag setzte sich der Zug in Bewegung. Schnell wurde es Nacht, aber niemand konnte schlafen. Als die Landschaft hügelig zu werden begann, schrieen schon die ersten Kinder: "Die Berge, seht die Berge". Aber es war erst der Harz.
Ja sollte das etwa alles sein? Da war ich schon gewesen. Von richtigen Bergen hatte ich eine ganz andere Vorstellung. Ganz enttäuscht setzte ich mich wieder auf meinen Platz. Da hätte ich gleich zu Hause bleiben können. Aber vielleicht konnte man es nicht so gut erkennen, weil es sehr dunkel war. Als ich abermals hinaus sah, war die Landschaft wieder platt wie ein "Pannkoken".
Genau nach 14 ½ Stunden Fahrt konnte ich mit den anderen Kindern aussteigen. Wir waren endlich angekommen. Ein riesengroßes Durcheinander entstand, denn nun bekamen alle ihre Häuser zugeteilt. Meine Klasse musste in eine elektrische Kleinbahn einsteigen, die uns nach Unterstein brachte. Wir nahmen unser Gepäck und stapften, noch über ½ Stunde, im hohen Schnee bergauf zu unserer neuen Heimat. Es war stockdunkel, man sah keinen Weg, kein Haus, denn die Fenster waren vorschriftsmäßig verdunkelt. Da fingen die ersten Kinder an zu weinen. Das Gepäck war viel zu schwer. In die Schuhe kroch der Schnee, viele hatten nicht mal Handschuhe oder eine Mütze.
Angekommen wurden die Zimmer verteilt. Jetzt bekamen wir noch mehr Heimweh, denn wir waren mit Kindern aus einer ganz anderen Schule zusammengelegt worden. Dabei waren sie uns so schrecklich fremd. Ich kam mit noch 7 Mädchen in ein Zimmer. In dem Punkt war ich ganz zufrieden. Dann wurden alle zum Abendessen gerufen. Die Köchin Frau Johanna hatte es ganz besonders lieb gemeint und für uns Ankömmlinge aus dem Norden Fisch gekocht. Da strahlten die Gesichter, aber nur so lange, bis wir den ersten Bissen in den Mund steckten. Niemand konnte den Fisch essen, er war ungenießbar.
/lemo/bestand/objekt/schneider_07 Am nächsten Morgen durften wir Kinder ausschlafen. In unsere Zimmer kam kein einziger Lichtstrahl hinein, und so war die Überraschung ungeheuer groß, als wir die Fensterläden öffneten. Einige schienen ihre Stimme verloren zu haben, andere lachten laut oder sprangen vor lauter Freude über die Betten. Die Berge standen im hellen Sonnenschein direkt vor uns. Sie waren mit Schnee bedeckt, dass es nur so funkelte. Der Himmel war strahlend blau. Wir mussten im Paradies gelandet sein. Schon an diesem ersten Morgen bekam ich einen Brief von meiner Mutti. Da war die Welt für mich in Ordnung.
In der ersten Zeit schreckte ich nachts hoch. Andere Kinder fingen an zu schreien. Das kam alles noch von dem nächtlichen Fliegeralarm. Aber langsam wurden wir ruhiger und schliefen tief und fest. Wurde die Post verteilt, nachdem in Bremen Bomben gefallen waren, gab es oft Ängste und Tränen, wenn keine Nachricht von daheim dabei war. Telefonieren konnten wir nicht. Die meisten hatten gar kein Telefon zu Hause. Zudem hatten die Bomben einen Teil zerstört. So wurde die Postausgabe der schönste oder traurigste Moment des Tages.
Schon bald machte ich meine ersten Bergwanderungen. Dann wurde schon um 3 Uhr in der Früh aufgestanden, denn um 4 Uhr war Abmarsch. Um 10 Uhr vor der Mittagshitze wollte man am Ziel sein. Ich war in der Wimbachklamm, auf dem Blaueisgletscher, im Torennerjoch, am Hohen Göll, auf der Königsbachalm, im Watzmannhaus, auf dem Königssee, in Salzburg, in Bad Reichenhall auf dem Predigtstuhl und auf dem Obersalzberg, wo wir zum Führer sollten, aber nicht vorgelassen wurden.
Doch ohne die Mutti und die Schwester hielt ich es nicht mehr aus, ich wollte, dass auch sie alles miterleben konnten. Außerdem war da die tägliche Angst wegen der Bombenangriffe. Weil die Mutti auch große Sehnsucht hatte, entschloss sie sich, mit meiner Schwester Astrid ebenfalls in die Berge zu übersiedeln. 30 Minuten Fußweg waren wir nun voneinander entfernt und das war wirklich nicht schlimm.
/lemo/bestand/objekt/schneider_08 Ich erinnere mich noch an den 20. April. Das war eine Aufregung, der Führer hatte Geburtstag, und alle mussten es feiern. Viele Schulklassen, die nicht im Berchtesgadener Land untergebracht waren, reisten extra her. Die ganze Stadt war voller Hitlerjugend. Auch ich musste die weiße Bluse für besondere Anlässe anziehen. Die Kinder traten in Dreierreihen an und marschierten nach Berchtesgaden. Unterwegs sangen wir ein Lied nach dem anderen und bekamen Hunger. Wir hatten unser Essen im Brotbeutel dabei und die Feldflaschen waren mit Pfefferminztee gefüllt. Wir setzten uns an den Straßenrand und packten die Schätze aus. Die Ruhe war vorbei, als eine andere Mädchengruppe mit Gesang um die Ecke kam. Es waren Hamburger. Das konnten wir Bremer nicht zulassen, dass wir von Hamburgern überholt wurden. Ganz eilig wurde alles in die Brotbeutel gestopft, sich aufgestellt und mit Riesenschritten weitermarschiert. Nun wurde alles daran gesetzt, die andere Gruppe zu überholen. Als sie dann nebeneinander hergingen und keiner dem Anderen den Vortritt lassen wollte, sangen alle: "Blaue Jungs von der Waterkant." Beim Refrain sangen die Hamburger statt: ".......in der Heimat, da ist's am Besten", "......ja, ja, in Hamburg, da ist's am Besten. Die Bremer brüllten dagegen an: ".....ja, denn in Bremen, da ist's am Besten". So ging es bis Berchtesgaden. Nur, wenn ihnen ein Fuhrwerk entgegen kam, war ein heilloses Durcheinander. So kam es, dass mal die Bremer und mal die Hamburger auf der Überholspur waren.
Natürlich war auf diesem Geburtstag der Gefeierte nicht selber da. Vielleicht schenkte man ihm ein Foto von all den Kindern. Zum Schluss gab es müde, hungrige und nicht ganz saubere Jungs und Deerns, die sich gefreut hatten, dass keine Schule war.
Bei all der Abwechslung blieb das Heimweh. Meine Mutter musste nach sieben Monaten zurück nach Bremen. Mein Schwesterchen sprach inzwischen oberbayerisch und die Großeltern verstanden kein Wort von dem was sie sagte. Eines Tages wurden Fragebogen verteilt. Wer gern nach Hause wollte, musste es eintragen, und dann wurde alles zu den Eltern nach Bremen geschickt. Die Lehrerin schrieb noch etwas dazu und die Kinder gleich danach Schummelbriefe. Wer jetzt nicht heim kam, sollte noch ein halbes Jahr bleiben. Ich durfte ein Ferngespräch nach Bremen anmelden. Es dauerte fast 4 Stunden bis die Verbindung hergestellt war. Ich sprach mit der Mutti, der Großmutter, mit Muttis Freundin Hanna und alle wollten, dass ich nach Hause komme. Vor Aufregung verstand ich nichts mehr, außerdem heulte ich, sodass ich auch nicht mehr reden konnte.
Bald darauf nahmen einige Mitschülerinnen und ich Abschied vom Lagerleben in Berchtesgaden. Wir waren über 9 Monate dort gewesen. Wir hatten gelernt, was Kameradschaft bedeutet, wir waren selbstständiger geworden und ich hatte die Natur entdeckt. Von da ab war ich nie mehr ganz in Bremen zu Hause. Die Sehnsucht nach dem Süden war immer ein bisschen in mir.
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