Dieser Eintrag stammt von Kurt Elfering (1922-2014) aus Schwerte, Mai 2011:
Es war im Sommer 1939. Ich war 17 Jahre jung, und wie das damals so war, auch automatisch Mitglied der Hitlerjugend. Es ergab sich die Möglichkeit, im Rahmen der H J Sommerfahrten an einer Schlesienfahrt teilzunehmen. Ich meldete mich an, und die Vorbereitungen liefen an. Nun war eine Schlesienfahrt schon eine sehr interessante Angelegenheit. Man konnte hierbei auch andere Gegenden kennen lernen. Es gaben ja auch nur wenige Möglichkeiten solche Reisen zu unternehmen: Entweder diese H J-Fahrten, oder K D F Reisen. Reisegesellschaften wie heute gab es damals noch nicht.
Koffer wurden nicht gepackt, dafür aber unsere Affen. Diese waren Tornister wie sie auch die Armee hatte. Dazu kamen Decken, Zeltplane, Kochgeschirr, Brotbeutel und Feldflasche. Es musste alles untergebracht werden, und das war eine Kunst. Was unnötig erschien wurde einfach nicht mitgenommen. Die Eltern sorgten schon dafür, dass das Wichtigste eingepackt wurde.
Ab Dortmund Hauptbahnhof ging es dann los. Die Teilnehmer kamen alle aus dem Raum Dortmund und Hagen. Ein Sonderzug brachte uns nach Breslau. Hier wurden wir in kleinere Gruppen aufgeteilt. Wir, eine Gruppe von ca. 25 Personen, fuhren dann weiter nach Ohlau. Jetzt wurde es ländlich. Am Bahnhof wurden wir mit großem Hallo feierlich abgeholt. Zwei geschmückte kleine Pritschenwagen mit Pferdegespann standen bereit. Als wir endlich mit unseren Sachen auf beide Wagen verteilt waren , ging es unserem Ziel entgegen. Auf dem Wagen wurde uns erst einmal erklärt, was Sache war: Hier erfuhren wir überraschenderweise, dass wir auf einer Domäne eine Woche Ernteeinsatz machen sollten. Nun wussten wir, dass die erste Woche von den zwei Wochen schon "im Eimer" war.
Unser Einsatz war auf der Domäne Quosdorf in der Nähe von Ohlau. Mürrisch singend näherten wir uns dem Ziel. Wir fuhren auf den Innenhof der Domäne. Es sah trostlos aus. Die Gebäude und Stallungen standen im Viereck um einen großen Ententeich herum, nicht einladend aussehend. Unsere Stimmung sackte noch mehr ab. Jetzt hieß es absitzen und Quartier beziehen, aber wo?
Die Instgebäude standen an einer Seite des Platzes. Im ersten Gebäude sollte wir untergebracht werden. Diese Häuser, eingeschossig, darüber war nur noch der Dachboden. Unten wohnten die Instleute (für uns waren diese Leute fast Leibeigene des Gutes). Der Fußboden der Wohnungen war gestampfter Lehmboden. Es gab nur eine Haustür. Die inneren "Türen" waren mit Vorhängen - Sackleinen - verhangen. Die Betten primitiv aus Brettern zusammengenagelt mit Strohsäcken darin. Die Bergarbeitersiedlungen im Ruhrgebiet waren dagegen Luxuswohnungen.
Wir wurden die Treppe - eine steile Stiege - hochgeführt und sahen nun unser Quartier, einen Dachboden mit Stroh. Dieses wurde rechts und links verteilt, sodass in der Mitte ein Gang blieb. Unsere Zeltplanen deckten das Stroh ab. Unsere Wolldecken darauf, und fertig waren unsere Schlafstätten. Mit den Instleuten hatten wir schnell Kontakt und kamen auch gut mit ihnen aus.
Als wir alles erledigt hatten, war das Mittagessen dran. Vor dem Haus stand ein langer Holztisch mit Bänken, wo wir alle Platz hatten. Es wurde ein großer Kessel auf den Tisch gestellt, der eine gute Eintopfsuppe barg. Unsere Kochgeschirre traten jetzt erstmalig in Aktion. Die Suppe war kräftig und gut und versöhnte uns wieder ein wenig. Nach dem Essen wuschen wir unsere Kochgeschirre und Bestecke an der Pumpe, die vor den Insthäusern stand, und die Nahrungsaufnahme war erledigt.
Der Kessel wurde Zur Küche des Gutshofes zurück getragen. Hier war das Küchenpersonal des Gutes für unsere Verpflegung zuständig. Auch sahen wir den Riesenunterschied zwischen arm und reich. Der Gutshof, eine riesige Villa, inmitten einer gepflegten Gartenanlage. Ein Gärtner mit einigen Hilfskräften hatte nichts weiteres zu Tun, als die Gartenschau in Ordnung zu halten. Im Hause war vom Küchenpersonal bis zum Kindermädchen alles vorhanden. Der Chauffeur machte auch noch etwas den Hausmeister.
Der Herr des Hauses war irgendwie bei der Reichsregierung aktiviert, und auf seiner Villa wehte dauernd die Hakenkreuzflagge. Die herrschaftlichen Kinder spielten mit dem Kindermädchen im Garten. Hier war alles vorhanden, was ein Kinderherz erfreute. Durch große dichte Hecken waren sie von der Außenwelt abgeschirmt. Nur wenn die Kleinen schaukelten sah man sie über der Hecke auf und ab schweben. Nach dem Essen hatten wir für den ersten Tag erst einmal Ruhe. Plötzlich ertönte über den Hof ein Glockengeläut. Dieses war das Zeichen, dass die Mittagszeit beendet war und die Instleute wieder zu ihren Arbeitsplätzen mussten. Sogar die Kinder mussten mitarbeiten in den Ställen oder auf den Feldern.
Wie gesagt: Wir hatten noch Ruhe und brauchten noch nicht zum Arbeitseinsatz. Wir haben uns die Umgebung erst einmal angesehen. Es wirkte alles sehr ernüchternd auf uns. Nun kannte ich ja das Landleben schon von meinen Verwandten im Münsterland. Diese waren aber alle selbstständige Bauern, die auch einen gewissen Lebensstandard hatte und sich in ihren Wohnungen wohlfühlten. Was wir aber hier vorfanden, waren irgendwie übrig gebliebene Leibeigene aus dem Mittelalter. Der Lohn war gering. Die Hauptzahlungen waren Deputate, d. h. Zahlungen in Sachwerten.
Nicht weit von der Domäne war ein Wirtshaus mit Poststelle und Bushaltestelle. Hier gab es nur wassergekühltes Flaschenbier. Da wir ja noch keine Biertrinker waren, regte uns dieses Problem nicht auf. Aber so war das eben damals.
Am Abend zwischen 6 und 7 Uhr kamen die ersten Instleute wieder von ihren Einsätzen zurück und Ihr "FEIERABEND" begann. So gut es ging machten die Kinder ihre Hausaufgaben. Viel kam dabei auch nicht heraus. Wir unterhielten uns noch mit den Leuten, und nach dem Abendessen gingen wir bald schlafen. Nach dieser Reise schliefen wir fest und gut.
Um 6 Uhr großes Wecken. Runter zur Pumpe, waschen und so weiter. Das Frühstück war schon gebracht und stand bereit. Nach dem Frühstück am langen Tisch wurde erst einmal unsere Schlafstätten in Ordnung gebracht. Wir waren gerade fertig, da ertönte auch schon Glockengeläut. Wir wurden den Instleuten zugeteilt, mit denen wir dann loszogen. Die Regie hatten ein Inspektor und ein Elewe, die beide zu Pferde das Tagesgeschehen leiteten.
Mein erster Einsatz war ein Roggenfeld, welches auf die Mähmaschine wartete. Mit der Sense wurde zunächst ein Randstreifen gemäht, damit die Maschine eine Anfangsspur hatte. Es war noch kein Treckerbetrieb, sondern Pferde machten die Zugarbeit. Da so ein Mäher allerlei schafft, war unsere Garbenbindertruppe vollbeschäftigt. Da ich ein Neuling war, wurde mir die Binderei schnell beigebracht. Es hat auch schnell geklappt und ich hielt mit der Truppe mit.
Zwischen 1/2 10 und 10 Uhr war die Vesperzeit. Brote und Kornkaffee mit Milch waren in Körben mitgebracht. Es wurde gevespert und geredet. Der Inspektor und auch der Elewe ritten kontrollierend durch die Gegend und beobachteten, mit der Reitgerte wippend, das Geschehen. Nach 20 Minuten ging es dann wieder los. Bis zum Mittag tat uns der Rücken schon ganz schön weh. Es war ja auch eine völlig ungewohnte Tätigkeit für uns.
Nun war Mittagszeit, und es ging zurück zum Essen. Erst einmal die Hände gewaschen, kamen die Kochgeschirre wieder zum Einsatz. Die Suppe stand schon auf dem langen Tisch. Es war wieder eine gute und kräftige Suppe mit viel Fleischeinlagen. Nach dem Essen versuchten wir, uns so gut es ging zu erholen. Dann schlug die Glocke wieder an, und es begann die zweite Halbzeit. Um 6 Uhr war Abläuten, und es ging wieder zum Hof zurück. Wir waren alle fix und fertig. Einige haben in den Ställen und auch auf den Feldern, bei den Rüben und Kartoffeln gearbeitet.
Das Wetter war trocken und heiß und Gott sei Dank auch nicht schwül. Geschwitzt haben wir aber alle wie die Weltmeister. Ich weiß noch, wie ich auf einem Rübenacker, mit einer Papiertüte auf dem Kopf, gegen Hitzschlag, mit den Disteln kämpfte. Zum Schluss kam dann für mich noch der Kartoffeleinsatz dran. Das war auch so ein Kampf mit den Erdklumpen.
Nach einer Woche war unsere Ernteeinsatzzeit beendet, und wir freuten uns auf die nun beginnende Schlesienfahrt. Aber in dieser Woche haben wir doch festgestellt, wie unsagbar schwer die Leute auf diesen Domänen "ackern" mussten, um ihr Dasein zu meistern. Neben der Arbeit auf der Domäne hatten sie ja auch noch ihren Haushalt und die Kinder zu versorgen. Alles, was Beine und Arme hatte und gesund war, ging tagsüber raus auf die Äcker oder in die Stallungen. Von moderner Technik noch keine Spur.
Wie üblich, war die gute alte Zeit, nur in den Herrschaftshäusern anzutreffen. Nicht weit von der Domäne verlief die Autobahn nach Oberschlesien. Von einer Landstraßenbrücke konnten wir das Geschehen auf der Autobahn verfolgen. Da es ja im August 1939 war, und sich in Europa schon der bevorstehende Krieg abzeichnete, war es auch kein Wunder, dass sich auf der Autobahn mächtige Militärtransporte in Richtung Oberschlesien bewegten. Nur, wir hatten die Sachlage damals noch nicht richtig begriffen.
Es folgte nun noch eine Woche Ferien. Wir fuhren mit der kleinen Schmalspurbahn ins Glatzer Bergland nach Glatz. Dann weiter zum Heuscheuergebirge nach Wünschelburg und Silberberg. In dieser Woche übernachteten wir immer in Jugendherbergen.
Zum Abschluss trafen wir uns mit allen Teilnehmern der Schlesienfahrt in Breslau in der Jahrhunderthalle. Da war irgendeine Veranstaltung. Was für eine weiß ich gar nicht mehr. Dann ging es wieder mit dem Sonderzug nach Dortmund. Wir fuhren bei Nacht, und ich weiß noch, dass ich beim Rattern der Räder im Gepäcknetz gut geschlafen habe.
Erst viel später ist es einem richtig durch den Kopf gegangen, was es mit den Worten der deutschen Scholle und der "GUTEN ALTEN ZEIT" auf sich hatte. Sogar heute schwärmen noch einige Menschen von der guten alten Zeit.