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Kurt Elfering: In der Hitler-Jugend

Dieser Eintrag stammt von Kurt Elfering (1922-2014) aus Schwerte, Mai 2011:

1933 änderten sich die Zeiten auch bei uns in Schüren im Ruhrgebiet, die uns Kinder aber noch nicht berührten. Im Sommer wurden wir jedoch von den Änderungen irgendwie aufgesogen. Die Hitlerjugend trat immer mehr in Erscheinung und somit auch die Jungvolkgruppe. In dieser waren die Kinder zwischen zehn und vierzehn Jahren. Im Sommer war es dann so weit, dass wir nach und nach dem Jungvolk beitraten und somit Pimpfe wurden. Im Schulunterricht wurde langsam aber sicher die Unterrichtsart anders. Es wurde viel auf den Nationalsozialismus getrimmt, und ehe wir uns versahen, redeten unsere Lehrer ausschließlich von der neuen heranbrechenden Zeit.

Unsere Spielerei ging zunächst weiter wie bisher, wurde aber immer mehr vom Jungvolk geprägt. An einem Abend in der Woche hatten wir Heimabend, bei dem es immer sehr vaterländisch zuging. Unsere deutschen Urahnen waren die alten Germanen und demnach auch unsere Vorbilder. Unser Jungvolk im Dorf war das Fähnlein Alarich, und wir gehörten zum Stamme der Goten. So wussten wir wenigstens, wo wir hingehörten. Als wir dem Kinderspielalter so allmählich entwuchsen, merkten wir gar nicht, dass der Staat systematisch die Spielregie übernahm. Was nun ein richtiger Pimpf war, brauchte natürlich auch eine Uniform. So wurden die Eltern angequengelt, bis wir nach und nach alle eine Uniform hatten.

Eine interessante vaterländische Angelegenheit muss ich berichten. Es muss wohl der Sommer 1934 gewesen sein. Wir Pimpfe hatten schon so viel Nationalgeist geschluckt, dass wir gar nicht merkten, wie wir umgarnt wurden.

An einem Wochenende war es so weit, es sollte mit Sack und Pack, d. h. mit Brotbeutel, Feldflasche und Kochgeschirr, nach Bürenbruch gehen. In der Jugendherberge oder bei einem Bauern sollte übernachtet werden. Es war für uns Kinder spannend wie der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges. An dieser Aktion waren, soweit ich mich erinnere, auch die Fähnlein von Aplerbeck und Berghofen beteiligt.

Der Tag der Tage war nun da. Die Butterbrote wurden eingepackt und die Feldflasche gefüllt. Die Uniform sah anständig aus, und es ging in aller Frühe los. Das heißt, wir marschierten im Gleichschritt los. Unser Fähnlein Alarich vom Stamme der Goten setzte sich in Bewegung. Vorneweg der Trommler mit seiner Landsknechtstrommel, der uns den Gleichschritt diktierte. Dahinter unser Fahnenträger mit dem Wimpel unseres Fähnleins. Wir marschierten über Berghofen und über den Freischütz nach Schwerte. Zwischendurch hatte die Trommel Ruhe, und wir sangen Landsknechtlieder, die laut durch die Gegend schallten. Sie kündeten von Blut und Tod, aber auch von heißer Liebe und kaltem Schnee. Dass wir die Mauern erklettern und die Türme zerschmettern wollten, haben wir so nebenbei den Leuten auch noch vorgesungen.

Als es am Freischütz nun abwärts ging, erholten wir uns wieder, und die Trommel dröhnte uns den Gleichschritt um die Ohren. In Schwerte sangen wir den Leuten vor, dass wir einen Heller und einen Batzen hätten, und dass wir uns hierfür Wein kaufen wollten. In Villigst ging es dann endlich über die Ruhr und dann auch wieder schweißtriefend bergan bis Bürenbruch. Fix und fertig kamen wir an und fielen erst einmal um. Auf irgendeinem Bauernhof bezogen wir Quartier und richteten uns im Stroh einer Scheune ein. Wir bekamen eine gute Eintopfsuppe und kamen somit wieder zu Kräften.

Am Nachmittag gab es aber noch ein wichtiges Geländespiel. Blau hatte gegen Gelb zu kämpfen. So richtig ist aber nichts daraus geworden. Ich weiß nur noch, dass wir in irgendeiner Lichtung so etwas Ähnliches wie einen Gefechtstand gebaut hatten, der aber zum Schluss plötzlich ein Boxring wurde. Für diesen Unsinn haben wir damals tatsächlich Bäume gefällt, alles schon für Volk und Vaterland.

Wie das alles zu Ende ging, weiß ich gar nicht mehr. Der Abend endete jedenfalls mit Landsknechtsliedern am Lagerfeuer, wie bei den Zelten jenseits des Tales. In der Nacht schliefen wir wie Murmeltiere in unserer Scheune und träumten von Wallensteins Lager.

Am Sonntagmorgen wurde es hektisch. In der Frühe großes Wecken mit der Bekanntgabe des Kirchganges. "Evangelen" und "Katholen" traten getrennt an und marschierten wieder nach Schwerte, jeweils in ihre zuständigen Kirchen. Nach dieser Pflichtübung ging es dann wieder hoch nach Bürenbruch. Wir bekamen wieder einen schönen Eintopf, sangen noch einige vaterländische Lieder, schafften Ordnung und stellten die bäuerliche Lage wieder her.

Etwas war aber schief gelaufen, denn einer unserer Landsknechte hatte sich den Fuß gebrochen und konnte nicht mehr laufen. Er wurde nicht aufgegeben. Es wurde genau wie bei den Landsknechten aus Holzstangen eine Trage gebaut, und der "Verwundete" darauf nach Hause getragen. Die Träger wechselten dauernd, und so war es beinahe so wie damals fern bei Sedan. Wir kamen uns vor wie die Sieger bei der Schlacht um Bürenbruch. So wurden wir zielbewusst und langsam von unserer Kindheit gelöst, und, von uns unbemerkt, der nationalsozialistischen Erziehung einverleibt.

Je mehr wir der Kinderzeit entwuchsen, je mehr griff der nationalsozialistische Staat nach uns. Plötzlich war der Samstag kein Schultag mehr, sondern er diente fortan der staatlichen Jugenderziehung, Er wurde zum Staatsjugendtag erklärt. Mittlerweile war die gesamte Dorfjugend dem Jungvolk beigetreten und machte am Samstag ab acht Uhr Jungvolkdienst. Es begann die sogenannte deutsche Jugenderziehung. Da wir ja schon kleine Landsknechte waren und nun Soldaten werden sollten, mussten wir auch unbedingt die Grundbegriffe des Soldatentums lernen. Wir mussten das Antreten in Dreierreihen lernen, links rum, sowie auch rechts rum. Strammstehen, "im Gleichschritt marsch" und auch "Abteilung halt" und alles was so dazugehörte.

An den Heimabenden in den Jahren 1934 und 35 wurde uns haarklein erklärt, wer Albert Leo Schlageter war, was er gemacht hatte, und dass er ein Freiheitskämpfer war. Die Filme, die wir geschlossen besuchten wie "SA-Mann Brand" oder "Hitlerjunge Quex" machten großen Eindruck auf uns. So nebenbei erfuhren wir auch, dass der Versailler Vertrag ein Schandvertrag sei und zum deutschen Elend erheblich beigetragen hätte.

Die ehemaligen Feindländer waren zwar verpflichtet, abzurüsten, sie taten es aber nicht. Im Gegenteil: Sie waren kräftig mit der Aufrüstung beschäftigt. Mit großen Plakaten und Broschüren wurde uns gezeigt, wie wichtig nun der Luftschutz sei. Groß und deutlich sah man auf diesen Plakaten, wie Flugzeuge Bomben abwarfen und die Bevölkerung sich mit Gasmasken schützte. All dieses machte uns doch sehr nachdenklich, und wir meinten wirklich, tapfere deutsche Jungen werden zu müssen.

Was geschah eigentlich mit unseren Eltern? Diese Frage zu beantworten, ist gar nicht so einfach. Da Deutschland von der Kaiserzeit her noch eine starke nationalistische Prägung und obendrein auch noch mehr oder weniger ein christliches Fundament hatte, war in weiten Teilen unseres Landes, vor allem im Mittelstand und bei der Landbevölkerung, der Nährboden gut vorbereitet. In den Industriegebieten herrschten durch die Arbeitslosigkeit bittere Armut und Verzweiflung

Im Grunde standen sich damals zwei Weltanschauungen gegenüber: Die christliche nationale und die der Kommunistischen Internationale. Die christlichnationale war die bisherige "von Gott gewollte Ordnung", während die kommunistische Ordnung, die von Moskau die Welt beherrschen wollte, die "gottlose Zeit" herauf beschwor. Von den christlichen Parteien und von den Kanzeln wurde ja auch ausreichend vor der großen Gefahr des Kommunismus gewarnt. Die von Gott gewollte Ordnung und die Obrigkeitshörigkeit waren immer noch die "deutschen Tugenden".

Die Nationalsozialisten hatten es gut verstanden, sich hier einzuschleichen. Der Führer wurde zum Mann der göttlichen Vorsehung erhoben. Er schloss mit dem Vatikan das Reichskonkordat ab und hatte somit bei den Katholiken schon Pluspunkte gesammelt. Die Protestanten waren auch nicht negativ eingestellt. In der ersten Zeit (1933) benahmen sich die Nationalsozialisten ja auch noch sehr kirchenfreundlich. Es geschah häufig genug, dass bei bestimmten Veranstaltungen die SA in ihrer Uniform am Gottesdienst teilnahm. Am Erntedankfest z. B. standen die SA-Männer mit ihrer Fahne sogar am Altar. Somit konnte es doch gar nicht so schlecht sein, das mit den Nazis.

Zudem herrschte plötzlich auch wieder Ordnung auf den Straßen. Es gab wieder Arbeit, und die Arbeitslosigkeit nahm sichtbar ab. Also waren unsere Eltern zunächst gar nicht unzufrieden mit dieser Entwicklung. Als der Reichstag brannte, und das Ermächtigungsgesetz in Kraft trat, sollte es ja nur Ruhe und Ordnung erhalten. Warum legten die Kommunisten auch Feuer?!

Ich kann mich noch erinnern, wie die Schikaniererei der Juden begann, und wie die frommen Christen meinten, die seien ja selber Schuld. Warum hatten sie auch unseren Herrn Jesus ans Kreuz genagelt?! Sie haben ja selbst gerufen: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" Das Wichtigste aber war wohl für unsere Eltern, dass die kommunistische Gefahr in Deutschland erst einmal gebannt war. Scheibchenweise fasste der Nationalsozialismus Fuß, und die Scheiben wurden immer dicker. Als unsere Eltern merkten dass die dicken Scheiben immer schwerer zu schlucken waren, war es schon zu spät, um dagegen angehen zu können.

In den Jahren 1935 und 1936 war schon nichts mehr zu machen, und das Schicksal nahm seinen Lauf. 1936: Mit vierzehn Jahren begann meine Lehrzeit, und wir wurden von der Hitlerjugend übernommen. Nun begann die wirkliche vormilitärische Ausbildung. 1939 begann der Krieg, die Einberufung erfolgte 1942 und zum Abschluss die sowjetische Gefangenschaft! 1948, nach meiner Heimkehr, sah dann die Welt ganz, ganz anders aus. Übrigens, nach der Invasion auf Sizilien und während des Rückzuges bis Florenz bestanden bei uns Landsern schon viele Zweifel am Endsieg. Endgültig verloren wir den Glauben 1944 an der Ostfront und im Heiligenbeiler Kessel in Ostpreußen. Wenn jetzt jemand fragt, warum wir dann eigentlich immer weiter gekämpft haben, kann ich nur sagen, dass der Liebe Gott das auch nicht genau weiß, geschweige denn wir.

lo