Aufzeichnung aus dem Tagebuch des Unternehmers und Kunsthistorikers Oskar Münsterberg (1865-1920) aus Berlin (DHM-Bestand):
8. Mai 1919
Heute ist der schwärzeste Tag des Krieges, die Friedensbedingungen von Versailles! Alle Lebenslust versagt, das Herz stockt. Das "vae victis" in grausamster, brutalster Gestalt verkünden die siegreichen Feinde. Noch erscheint es unfaßbar, daß ein solcher Frieden Wirklichkeit werden soll. Unmöglich! Aber was dann?
Es scheint, als ob ein Entrinnen vor dem Zusammenbruch unmöglich ist - mit dem Frieden durch die Feinde, ohne Frieden durch den Bolschewismus. Innen und außen lauern die Feinde des Staates. Der lange Krieg hat die tierischen Instinkte des Egoismus bei den Feinden und bei den Proletariern der eigenen Heimat entfacht.
Wo sind die schönen Reden von Humanität und Recht! Wo sind die Wilsonpunkte, nach deren Anerkennung vom Feind und von uns der Waffenstillstand geschlossen wurde! Soll alles Betrug gewesen sein? Soll jedes Recht und jeder Glaube schwinden?
Das kann nicht das Ende sein. Vorläufig steht es nur auf dem Papier und das Leben geht ruhig weiter, aber langsam, von Jahr zu Jahr steigend, entsprechend dem Aufbrauch der alten Vorräte, wird Sorge und Not einziehen, wird das ganze Volk verarmen und verzweifeln.
Nein, das kann noch nicht das Ende des militärisch im Felde unbesiegten Staates sein! Der Bogen ist überspannt, aber woher kommt die Rettung? Welche Wirkung würde die Ablehnung erzielen? Neue Revolution bei uns oder bei den Anderen. Nirgends scheint ein Lichtstrahl, nur schwarze Wolken!
Wozu noch das Leben?