Dieser Eintrag stammt von Silvia Koerner (* 1938) aus Schweden (vielebluemchen@web.de), 11.01.2000:
Wenn die Sirenen auf den Dächern des St. Joseph Krankenhauses, der Boelcke-Schule und einigen anderen öffentlichen Gebäuden in der Nähe aufheulten, dann warnten sie uns vor dem Feind. Uns Kindern gegenüber sprachen die Erwachsenen immer nur vom Feind. Und diesen Feind stellte ich mir wie ein Ungeheuer vor, das im Flugzeug hinter dem Steuerknüppel saß und seinen Spaß daran hatte, Bomben über uns abzuwerfen. Das Sirenengeheul ging mir jedesmal durch Mark und Knochen. Es gab mir eine Gänsehaut, ließ kalte Schauer über meinen Rücken laufen und lähmte mich einige Sekunden lang. Doch ich hatte gelernt und wußte, daß ich derartige Erscheinungen schnellstens überwinden mußte, um rasch in den Luftschutzraum im Keller des Hauses zu kommen. Dieser Raum war ein ganz gewöhnlicher Kellerraum hinter einer dicken Eisentür, auf der die Buchstaben LSR (Luftschutzraum) geschrieben standen. Ihre Bedeutung verstand ich allerdings nicht. Ich wußte nur, daß ich mich bei Fliegeralarm rasch durch diese Tür zu begeben hatte.
Im Luftschutzraum warteten wir, Erwachsene wie Kinder, eigentlich nur darauf, den Raum wieder verlassen zu dürfen. Die Zeit zwischen Warnung und Entwarnung war unterschiedlich lang; bestenfalls nur einige wenige Minuten, schlimmstenfalls mehrere Stunden. Ich empfand diese Aufenthalte im Luftschutzraum teils langweilig, teils beängstigend. Die Erwachsenen sahen verbissen aus, saßen mit steifen und angespannten Körpern auf ihren Plätzen und konzentrierten sich nur auf das Propellergeräusch der Flugzeuge. Je nach dem, was sie hörten, wußten sie, ob die Flugzeuge weiterfliegen oder ihre tödliche Last über unseren Köpfen abwerfen würden. Angst bekam ich immer dann, wenn eine Bombe irgendwo in der Nähe einschlug und explodierte. Dann erschütterte das ganze Haus, die Deckenlampe fing an zu blinken oder erlosch völlig. Meine Zwillingsschwestern Edith und Jutta (4) begannen dann meistens zu weinen und Erika und Karin, die Mädchen unserer Nachbarin, schlossen sich in der Regel dem Weinen meiner Schwestern an. Das hatte zur Folge, daß die Erwachsenen die Flugzeuge nicht hören konnten, lauthals schimpften und das Quartett noch lauter weinte.
Manchmal konnte es auch vorkommen, daß meine Geschwister und ich eine ganze Nacht im Bunker Flughafen Tempelhof verbrachten. Mutti brachte uns am Abend des einen Tages dorthin und holte uns am Morgen des anderen wieder ab. Dort, tief unter der Erde, gab es viele ausgedehnte Korridore und eine Vielzahl Räume, die unter anderem mit Etagenbetten ausgestattet waren. Ich war immer dann mit mir und meiner Umwelt im Einklang, wenn ich das Glück hatte, eines der oberen Betten zugeteilt zu bekommen. Dort oben befand sich nämlich in der Wand ein Luftschacht, der zu einem angrenzenden Raum führte. In diesem Raum lag ein anderes Kind in seinem Bett und wartete ebenso ungeduldig wie ich, um im Dunkel der Nacht seinem neugewonnenen unsichtbaren Freund verschiedenes zuzuflüstern oder, falls man gerade dazu Lust verspürte, laut ins Ohr zu brüllen.
Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück und bevor wir wieder abgeholt wurden, mußten wir uns alle in langen Reihen aufstellen, die Hände verschränkt auf dem Rücken halten und der Reihe nach den Mund aufsperren, um einen Eßlöffel Lebertran eingeflößt zu bekommen. Diese widerwärtig schmeckende Flüssigkeit stellte sozusagen den Abschluß des jeweiligen Bunkerbesuches dar. Bevor wir aber endgültig den Bunker verlassen durften, wurden wir nach unseren Geburtstagen befragt. Hatte man gerade an diesem Tag Geburtstag und teilte dies auch voller Freude mit, bekam man als "Geburtstagsgeschenk" eine große Flasche Lebertran, die man mit nach Hause nehmen durfte. Bei solchen Gelegenheiten wurde mir frühzeitig klar, daß es nicht immer unbedingt ein Vorteil sein mußte, stets die Wahrheit zu sagen.