Dieser Eintrag stammt von Ursula Sabel (1924-2018) aus Kenn bei Trier, 25.04.2000:
In all meinen Schuljahren mußte ich jede Woche zum sogenannten Heimabend der H.J. Wir Mädchen gehörten zu der Gruppe BDM (Bund deutscher Mädchen in der Hitlerjugend). Dort habe ich nicht viel von der Politik mitbekommen, wohl aber hatte ich das Glück, einer Führerin zugeordnet zu sein, die sehr viel mit uns gesungen hat. So erwarb ich mir einen großen Schatz an z.T. guten Volksliedern. Bis zum Abitur lag damit mein Wunsch, später auf irgend eine Weise Musik machen zu wollen schon fest.
Zur Zeit der Hitlerjugend bekamen die Mädchen auch eine Uniform, sie bestand aus einem dunkel blauen Rock, einer eingeknöpften weißen Bluse und einem sogenannten Fahrtentuch, (schwarz, mit einem Lederknoten am Kragenrand, wie eine Krawatte). Meine Eltern standen dem Nationalsozialismus, dem Agieren Hitlers und allem was damit zusammenhing sehr skeptisch gegenüber. Aus den Nachrichten über den Rundfunk erfuhr man ja nur, was für die Bevölkerung entsprechend zensiert war, also auf keinen Fall etwas Kritisches. So mußte man sich mit von Mund zu Mund Informationen begnügen. Meine Eltern ahnten wohl schon Schlimmes, mein Vater hätte als Beamter sicher in die Partei eintreten müssen, aber es ist ihm mit Erfolg gelungen, das möglichst unauffällig zu verhindern. Aufgrund der Einstellung meiner Eltern war es mir lange nicht vergönnt, eine schmucke Uniform zu bekommen, obwohl ich zu den wöchentlichen Heimabenden (am Nachmittag) gehen durfte.
Eines Tages bekam ich auf mein Drängen hin dann doch wenigstens einen richtigen Rock mit den dazugehörigen Löchern im Bündchen. Aber was ist zu tun, wenn man keine Bluse mit Knöpfen hat, ich wollte den Rock doch gerne tragen. So ließ ich mir von meiner Mutter Gardinenkordel von Loch zu Loch über die Schultern spannen, ein bunter Pullover verdeckte zum Glück alles, und ich fühlte mich gut in meiner Kluft. Aber weil das ja keine Lösung auf Dauer sein konnte, grübelte ich morgens und abends im Halbschlaf so lange, bis mir wirklich plötzlich eine Idee kam: ich trug doch damals, um die langen Strümpfe zu befestigen, ein sogenanntes Leibchen, ein kurzes Oberteil, an welchem die Strumpfgummis (mit Löchern) befestigt waren; an dieses Leibchen nähte ich mir mit Mutters Hilfe entsprechende Knöpfe, und so konnte mein Rock halten, mein Patent hat sich lange bewährt, denn vorerst bekam ich keine Bluse.
Als wir mit unserer Jugendgruppe eines Tages Paßbilder gemacht bekommen sollten, fehlte mir die richtige komplette Uniform, und so mußte ich von den Kameradinnen annehmen, was mir fehlte: zu meiner 'falschen' Bluse bekam ich ein Fahrtentuch mit Knoten und eine zünftige lederartige braune Jacke mit Emblem auf dem Ärmel. Es wurde übrigens ein ganz nettes Bild von mir, ich besitze es auch heute noch.
Im Sommer 1939 durfte ich mit meiner BDM-Gruppe aus Duisburg und Umgebung eine zehntägige Fahrt machen. Mit einem großen "Köln-Düsseldorfer"-Dampfer ging es zusammen mit vielen anderen Gruppen rheinaufwärts. Unsere kleine Einheit fuhr bis Mannheim mit, und dann wanderten wir am wunderschönen Neckar entlang. Übernachtet wurde in Jugendherbergen, ein herrliches Erlebnis für mich.
Der Höhepunkt der Fahrt war der abendliche Besuch der Reichsfestspiele im hell angestrahlten Heidelberger Schloß. Es gab "Die Räber" von Johann Friedrich von Schiller, eine richtige Sensation für mich!
Aus den frühen Jahren meiner Zeit in der Hitlerjugend sind noch zwei Begebenheiten zu erzählen. Nachdem ich eine Zeit lang an den Heimabenden (Nachmittage) teilgenommen hatte, ohne politisch unangenehm aufgefallen zu sein, vertraute man mir sogar mit Zustimmung meiner Eltern eine Gruppe von jüngeren Mädchen an, um mich einmal in der Woche mit ihnen zu beschäftigen. Ich nahm mit Freuden an und habe mit ihnen nach eigener Vorstellung und in eigener Regie gebastelt und gesungen. Aber der Spaß der Selbständigkeit hat nicht lange gedauert. Mit dem Grund meiner Mutter, ich müsse für die Schule arbeiten und habe keine Zeit mehr, mußte ich das Begonnene wieder aufgeben.
Das Zweite ist das Erlebnis, im Mülheimer Wald am Straßenrand Spalier zu stehen. Wir wanderten als Gruppe aus Wedau etwa zwei Stunden weit, bis in den Wald, der zu Mülheim-Ruhr gehörte. Dort wurde der Führer erwartet, denn ein bedeutender Mann aus der Führungsspitze der Stahlindustrie, Herr Kierdorf, wohnt dort in einer Villa (die wir aber nie zu sehen bekamen); er feierte an diesem Tage einen besonderen Geburtstag. Und weil die Industriebosse für Hitler so lebenswichtig waren, hatte er seinen Besuch zugesagt. Wir Kinder mit unseren kleinen Uniformen standen lange vergeblich am Straßenrand im Gras und vertrieben uns mit allerlei Späßchen die Zeit.
Mit mehreren Stunden Verspätung kamen dann die ersten Autos, dann allmählich folgte eine Gruppe von Fahrzeugen, bis als erster Prominenter Rudolf Hess, der Stellvertreter des Führers (später bis zum Lebensende: Haft in Spandau) im offenen Wagen an uns vorbei fuhr. Im letzten offenen Wagen stand dann schließlich Adolf Hitler. Er schaute voll Stolz auf seine Jugend und grüßte mit erhobenem Arm nach rechts und links. Wir Kinder erhoben ebenfalls den Arm zum Hitlergruß und riefen: "Heil, Heil!" Bald war er vorübergefahren, aber das Warten hatte sich gelohnt, wir hatten ihn gesehen. - Ein großes Erlebnis war das nicht, aber immerhin!