Dieser Eintrag stammt von Werner Mork (*1921) aus Kronach, Februar 2010:
Im Kriegsgefangenenlager Horazdovice kam es immer wieder zu Spannungen unter den Gefangenen. Die Amis mussten mit Gewalt dagegen vorgehen, wobei sogar von den Schusswaffen Gebrauch gemacht wurde. Es hatte schwere Differenzen gegeben zwischen Deutschen und Österreichern, die jetzt keine "Ostmärker" mehr sein wollten, und nun so taten, als seien sie immer gegen Hitler und die Nazis gewesen, auch wenn sie die Hakenkreuzorden getragen hatten, die sie jetzt in den Taschen versteckten. Sie erwarteten im Lager eine Sonderbehandlung, sie meinten eine Sonderstellung beanspruchen zu können und sie bezogen eindeutig Front gegen ihre Kameraden von gestern. Sie hatten sich zusammengeschlossen, und das hatte nicht nur zu Auseinandersetzungen geführt, sondern auch zu wüsten Schlägereien, bei denen dann versteckte Messer zu einem Blutvergießen führte, das man für unmöglich gehalten hätte unter deutschen Soldaten. Das schlechte Beispiel der "Wieder-Österreicher" machte ungute Schule, die im auch Lager befindlichen Ex-Soldaten aus Luxemburg sowie aus dem Elsass und Lothringen schlossen sich nun auch zu Gruppierungen zusammen - und damit wurde noch mehr böses Blut produziert. Sie alle waren jetzt nur noch Unterdrückte der bösen Nazis, zum Dienst in der Wehrmacht Gezwungene, was zwar nicht stimmte, wie ich es selber wusste von ehemaligen Kameraden aus diesen Gebieten. Aber jetzt machte sich das doch gut, so meinten diese Ex-Kameraden, und sie erwarteten nun eine ihnen gemäße Sonderbehandlung durch die Amerikaner. Nur war dem dann doch nicht so, aber die Auseinandersetzungen mit den "Reichs-Deutschen" wurden nicht geringer, es gab dann sogar einige Fälle von Totschlag, wo sogar von "Feme-Morden" geredet wurde. Das Eingreifen der Amis mit Waffen war unvermeidbar.
Inzwischen war es Ende Juni geworden im Friedensjahr 1945, aber im Lager hatte sich nichts gebessert. Entkräftung, körperliche und seelische Schwäche herrschten vor, eine fast grenzenlose Hoffnungslosigkeit lastete auf uns und die schlimme Stimmung eines bösartigen Gereiztseins machte alles noch unerträglicher. Depressionen und auch Selbstmorde waren schon fast alltäglich geworden. Wir lebten in einer Art von Dämmerzustand, in dem uns fast alles egal geworden war. Würden wir morgen sterben müssen, dann war uns das nun auch schon völlig egal.
Ein Ende mit Schrecken erschien uns nun besser, als ein Schrecken ohne Ende. Die brütende Hitze in diesem Sommer, der wir ohne Schutz ausgeliefert waren, tat ihr Übriges. Uns hatte eine schlimme Apathie überfallen. Es mehrten sich Krankheiten in starkem Maße im Magen- und Darmbereich, es wurde nun sogar die Möglichkeit einer Epidemie nicht ausgeschlossen. Im Lager ging eine Angst um, die uns furchtbar belastete, die mehr und mehr den Gedanken an Selbstmord aufkommen ließ.
Körperliche Reinigungsmöglichkeiten waren sehr beschränkt, nur möglich an einem kleinen Teich im Wiesengelände, zu dem man sich nur noch schleppte, so gut das überhaupt noch ging. Es war eine Qual sich zu entkleiden und sich mit etwas Wasser abzuspülen, Seife gab es keine. Die Klamotten wurden nur durchs Wasser gezogen und nass wieder angezogen, weil man die durch die Sonne nicht trocknen lassen konnte, weil es im nackten Zustand, ohne Sonnenschutz, nicht möglich war, sich in der strahlenden Sonne aufzuhalten, die uns mehr Kummer als Freude machte. Ich war inzwischen sehr abgemagert und konnte mich immer wieder nur darüber wundern, dass ich bis jetzt so gut davongekommen war. Allerdings konnte ich mich nicht mehr sehr gut bewegen, es häuften sich Schwindelanfälle und das Gleichgewicht kam ins Wanken.
Fünf Jahre meiner Jugend hatte ich im Krieg verbringen müssen, fünf Jahre die unwiederbringlich für mich verloren waren, woran ich aber selber nicht ganz schuldlos war mit meiner Meldung als Kriegsfreiwilliger. Am 3. Juli 1945 wurde ich 24 Jahr alt, und dieser Geburtstag kam mir im Lager nicht als sehr freudig zu Bewusstsein. Mein einziger Wunsch an dem Tag war, dass die Menschen in ihrer Gesamtheit endlich friedlich werden und nie mehr einen Krieg führen würden, wie dieser, der sich zu einer furchtbaren Brutalität und Menschenverachtung "entwickelt" hatte. Das war mein sehnlichster Wunsch an diesem Tag. Dazu aber auch die Hoffnung, doch noch nach Hause zu kommen, auch wenn die Aussichten darüber nicht die besten waren.
Es geschah kurz nach meinem Geburtstag, als beim morgendlichen Appell mein Name aufgerufen und mir befohlen wurde, mich zu einer bestimmten Uhrzeit im Vernehmungszelt der Amerikaner einzufinden. Mir sackte das Herz in die Hose, ich konnte mir keinen Reim machen auf diese "Vorladung". Zur festgesetzten Zeit fand ich mich zur Vernehmung ein. Ich kam ein großes, sehr stabiles Wohnzelt, ausgestattet mit Tischen, Stühlen und einigen Regalen. Ich wurde aufgefordert Platz zu nehmen und saß nun vor drei amerikanischen Offizieren, die sich mit mir "unterhalten" wollten. Verständigungsprobleme gab keine, alle drei sprachen ein einwandfreies Deutsch. Es sollten einige Dinge aufgeklärt werden, die den Amis aufgestoßen waren bei der Durchsicht der Soldbücher, die sie kassiert hatten. Aus meinem Soldbuch hatten sie ersehen, dass ich ein Kriegsfreiwilliger gewesen war. Erkennbar war das an der Wehrstamm-Nummer, vor der sich die beiden Buchstaben "Fr" für "Freiwilliger" befanden. Aufgefallen war ihnen aber auch, dass ich als Freiwilliger nur ein Obergefreiter war, trotz der langen Dienstzeit. Sehr seltsam hatten sie auch gefunden, dass ich keine Auszeichnungen hatte und waren besonders über den Vermerk gestolpert, dass ich eine Auszeichnung abgelehnt hatte mit der Begründung, keine besondere Leistung vollbracht zu haben. Das konnten die nun gar nicht verstehen, und diese drei Offiziere glaubten, dass ich wohl ein extremer Nazi war, den man sich näher ansehen müsse.
Es hat dann einige Stunden gedauert, bis diese Meinung als völliger Irrtum aufgeklärt war. Zuerst wurde mir kein Glauben geschenkt, aber als ich ihnen fast meine ganze bisherige Lebensgeschichte erzählt hatte, wurde mir dann doch geglaubt. Und im Verlauf der weiteren Unterhaltung, denn das wurde dieses Gespräch dann, wurden mir sogar Kaffee und Zigaretten angeboten! In dieser, nun lange dauernden Unterhaltung, sagten die drei Amis mir, dass sie Juden sind, die in Berlin geboren worden waren, dass aber ihre Eltern noch rechtzeitig hatten emigrieren können in die USA. Sie selber bezeichneten sich lächelnd als Angehörige der so genannten Berliner Textil-Juden, wie die Juden, die Textilhändler waren, in Berlin bezeichnet wurden. Rückhaltlos habe ich ihnen alles erzählt, auch von Heinzi Herz und meinem Verhalten seinem Onkel gegenüber. Nach diesem Gespräch galt ich nicht mehr als ein besonderer Nazi. Beim Abschied wurde ich sogar reichlich beschenkt mit Schokolade und Zigaretten. Mir wurde von diesen drei Juden zugesagt, dass sie sich für eine bevorzugte Entlassung aus dem Lager einsetzen würden, wenn die ersten Entlassungen beginnen würden. Diese Zusage wurde von ihnen gehalten und ich verdanke diesen Juden, Angehörige des Volkes, das wir hatten ausrotten wollen, mit Sicherheit mein Leben. Lange hätte ich nicht mehr mitmachen können, dann wäre ich restlos zusammengebrochen oder bei den Russen gelandet. Von diesen drei Juden hörte ich dann auch nähere Einzelheiten über ihren Kommandeur, den Ex-Leutnant der Reichswehr. Es war schon seltsam, da gab es insgesamt vier ehemalige Deutsche, die jetzt als amerikanische Offiziere eine Einheit der US-Army führten. Sehr nachdenklich ging ich zurück zu meinem Erdloch, wo mich mein Kamerad mit Freude begrüßte, hätte es doch auch anders ausgehen können. Schokolade und Zigaretten wurden redlich geteilt, ein weiterer Schwarzhandel war derzeit nicht nötig.
Welch großes Glück ich aber wirklich hatte, nach dem Gespräch im Vernehmungszelt, erwies sich nur wenige Tage später. Es wurde plötzlich Gewissheit, dass das, wovor wir die ganze Zeit Angst gehabt hatten geschehen würde. Es hieß, dass alle Soldaten, die bis zum 8.5. gegen die Russen gekämpft hatten, endgültig und unwiderruflich den Russen nun ausgeliefert werden. Das sei ein fester Bestandteil der Abmachungen, die zwischen Russen und Amerikanern getroffen sind, die erfüllt werden müssen. Dass das kein Gerücht war, konnten wir nun mit eigenen Augen sehen, als ein starkes russisches Kommando anrückte, das ganz einfach das Lager im Handumdrehen übernehmen wollte. Daraufhin entstand im Lager eine Panik unter den Gefangenen und ich dachte dabei schon wieder einmal an meine Pistole. Doch da gab es noch unseren amerikanischen Lagerkommandanten, diesen angeblichen Vaterlandsverräter, der plötzlich einen Lagerappell ansetzte und uns mitteilte, er sei nicht bereit, außer den Insassen des Sonderlagers auch nur einen anderen deutschen Soldaten an die Russen auszuliefern, schon gar nicht in der Art einer Übergabe des ganzen Lagers, wie die Russen es gefordert hatten. Dieser, von den deutschen Offizieren so verachtete "Landesverräter" nahm es auf seine eigene Kappe, sich zu widersetzen und die Russen wurden sehr nachdrücklich aus dem Lager gewiesen, in dem sie schon begonnen hatten, sich einzurichten.
Doch dann setzten sie sich vor dem Lager-Eingang "fest", wollten von dort nicht weichen und wiederholten ihre Forderung nach sofortiger Übergabe. Dabei entstand jetzt eine etwas kritische Lage, denn der US-Kommandant ließ die Rohre einiger Sturmgeschütze auf die Russen richten, und gab ihnen, auch mit Hilfe der nun von GI's besetzen MG's unmissverständlich zu verstehen, dass hier die Amerikaner das Sagen hätten und sonst niemand. Solange sie hier seien, sei das ihr Lager, und die darin befindliche Gefangenen ihre Gefangenen. Im übrigen hätten die vorgenommenen Überprüfungen ergeben, dass alle in diesem Lager befindlichen deutsche Soldaten gegen die Amerikaner gekämpft hätten und nicht gegen die Russen, so sprach der amerikanische Oberstleutnant, der Landesverräter, wie die deutschen Offiziere ihn so schmählich bezeichnet hatten.
Dieser "üble Landesverräter" machte sich zum Fürsprecher und Retter deutscher Soldaten. Auch das hat es gegeben, das war keine Selbstverständlichkeit, aber es war Mut und Courage eines Mannes, der sich damit in einem bewussten Widerspruch zu seiner vorgesetzten Dienststelle befand. Dieser Geist eines freien Mannes war nicht der, den er einst in der deutschen Reichswehr zu akzeptieren hatte. Das war kein Erbe seiner preußischen Vergangenheit als Reichswehr-Offizier.
Im Lager herrschte nun allgemein ziemliche Hektik, auch bei den Amis. Von der waren auch die Amis nicht frei. Keiner wusste, wie es nun weiter gehen wird hinsichtlich der russischen Forderung. Würden wir vielleicht abtransportiert werden, möglicherweise sogar über die deutsche Grenze ins Reich? Diese Meinung verstärkte sich, als wir merkten, dass plötzlich amerikanische Trucks auftauchten, die wir als Transportmittel für unseren Abtransport ansahen, zumindest aber für eine Verlegung in ein anderes Lager. An dieser Stelle sei schon jetzt gesagt, dass die Amis, trotz intensivster Bemühungen es nicht geschafft haben, das Lager völlig zu räumen, und ein erheblicher Teil deutscher Soldaten den Russen übergeben werden musste. Das hörte ich etwas später in dem Lager, in dem ich dann landete.
Mein großes Glück war, dass die "Juden" ihr Wort gehalten haben und ich mit dem ersten Transport bereits aus dem Lager kam. Ich wurde aufgerufen und dahin beordert, wo sich Trucks befanden, die als ersten Transport alle im Lager befindlichen "Kinder-Soldaten" rausfahren sollten, und denen wurde ich zugewiesen, wie auch einige Verwundete, Kranke und Zivilisten, die aus Prag kommend in dieses Lager geraten waren. Aber der einzige "normale" Kriegsgefangene auf diesem Transport war ich. Das verdankte ich den Berliner Textil-Juden! Sie haben sich für mich eingesetzt, für einen deutschen Soldaten, den sie auch hätten hassen können. Und der Ex-Reichswehr-Offizier ließ mich ziehen, war einverstanden mit meinem vorzeitigen Abtransport aus dem Lager in Horazdovice.