Dieser Eintrag stammt von Werner Mork (*1921) aus Kronach, Juli 2004:
Am 1. September 1939 kam ich froh und munter zu meiner Mutter in die Küche. Ich hatte gut geschlafen und fühlte mich richtig frisch und wohl. Nur bei meiner Mutter verspürte ich eine große Nervosität. Der Grund war der, dass sie beim Brötchenholen gehört hatte, dass für den Vormittag dieses Tages eine Sondersitzung des Reichstages anberaumt sei, auf der vom Führer eine Rede zum Problem Polen gehalten würde. Für ganz Deutschland sei ein Gemeinschaftsempfang angeordnet. Teilnahme sei Pflicht für alle Volksgenossen, auch in den Betrieben. Meine Mutter war nun voller Sorge und meinte, das könne Krieg bedeuten. Sie sah das anders als mein Vater, auch anders als ich.
Aber von der allgemeinen Unruhe wurde ich dennoch erfasst, auch wenn ich die Möglichkeit eines Krieges noch für ein übles Gerücht hielt. Schon auf dem Weg zum Bahnhof hörte ich, dass das kein übles Gerücht sei, sondern der Krieg Wirklichkeit geworden war. Es wurde allgemein darüber gesprochen, dass schon in der Nacht der Krieg gegen Polen begonnen habe. Irgendwie und irgendwo hatten bereits viele Menschen das vernommen. Wieweit das nun auch stimmen würde, das würde sich ja ergeben aus der angekündigten Rede des Führers, auf die ein jeder voller Spannung wartete.
In der Firma musste ich sofort alles herrichten um den anbefohlenen Gemeinschaftsempfang durchführen zu können. Um 10 Uhr wurde vom "Großdeutschen Rundfunk" über alle Sender im Reich, und über alle Kurzwellensender, die Reichstagsrede des Führers übertragen.
In ganz Deutschland, und in vielen anderen Ländern war nun zu hören, was der Führer kund tat. Er erklärte, dass es ein Ende habe mit der grenzenlosen Anmaßung der Polen gegenüber dem Deutschen Reich, der Stadt Danzig und den Volksdeutschen in Polen.
"Seit 5 Uhr früh würde jetzt zurückgeschossen, und Bombe mit Bombe, und Granate mit Granate vergolten." Das Deutsche Reich befände sich im Kriegszustand mit Polen, die das nicht anders gewollt und die ausgestreckten, friedvollen Hände der Deutschen zurückgestoßen hätten. Mit dieser Rede verkündete der Führer auch gleichzeitig die Wiedereingliederung der Stadt Danzig in das Deutsche Reich. Und er erklärte, dass er, der Führer ab sofort wieder den feldgrauen Rock tragen würde, das Ehrenkleid der Nation. Diesen Rock würde er nicht eher ablegen, bis der Krieg siegreich für Deutschland beendet sein würde.
In ganz Deutschland und in den anderen Ländern war der tosende Beifall zu hören, den die Abgeordneten dieses Reichstags ihrem Führer "spendeten", um dann die National-Hymnen zu singen, die wir in der Firma stehend mit anhörten. An ein Mitsingen dachte keiner.
Der Gemeinschaftsempfang war zu Ende. Unter den Gefolgschaftsmitgliedern gab es ein doch sehr betretenes Schweigen, welches dann der Senior-Chef mit dem Bemerken beendete, nun wollen wir mal alle wieder an unsere Arbeit gehen und unser Bestes tun.
Ich allerdings fand dieses Verhalten und das Schweigen schon als etwas sonderbar. Hätte nicht nun der Chef doch ein "Sieg Heil" auf den Führer ausbringen müssen? So meinte ich in meinem doch wohl sehr naiven Sinn.
Und hätten wir nicht auch die deutschen Nationalhymnen mitsingen müssen in dieser doch so erhebenden Stunde? Hätten wir uns nicht nun auch so begeistert zeigen müssen, wie das Volk damals im August 1914? Hätten wir in unserer kleinen Firma, in dieser großen Stunde nicht zeigen müssen, dass wir voll und ganz hinter unserem Führer stehen, in der jetzt kommenden schweren Zeit? Das war für mich nicht begreifbar und ich "beschloss", selber etwas zu tun. Ich ging auf den Boden, wo sich die beiden Fahnenstangen befanden, an denen die Nationalfahnen befestigt waren und schob diese mit eigener Kraft aus den Bodenluken heraus, und "lustig" flatterten nun die Fahnen "Schwarz-weiß-rot" und die "Hakenkreuzfahne" im Morgenwind des 1. September 1939 herunter auf die Katharinenstraße in Bremen. Ich war der festen Überzeugung, dass an diesem Tag doch die Fahnen zu flattern hätten; das zu veranlassen sah ich als meine Aufgabe an.
Von dieser, meiner (spontanen) Eigenmächtigkeit hatte keiner etwas bemerkt, bis dann aber ein Anruf aus dem Polizeihaus in der Firma einlief mit der sehr wütenden Anfrage, wer da in dem Hause die Flaggen gehisst hat? Wobei sogar die Bemerkung Idiot gefallen sein soll. Es sei keine Beflaggung angeordnet, die Fahnen sind unverzüglich wieder einzuholen. Nun kam sie ans Licht, meine so spontane Eigenmächtigkeit. Ich bekam einen furchtbaren Rüffel und musste dann die Fahnen wieder einziehen, wobei mir dann der Packer half, denn alleine war das kaum durchführbar. Damit war sie zu Ende, diese, wohl nicht nur in Bremen einmalige Flaggenhissung aus Anlass des ausgebrochenen Krieges. Das dürfte es im ganzen "Großdeutschen Reich" nicht noch einmal gegeben haben. Aber ich war dennoch der Meinung, dass ich doch völlig richtig gehandelt hatte.
Das war die erste unsinnige Tat, die ich zu Kriegsbeginn vollführte. Die andere geschah dann nur einige Tage später, und das war eine ganz besondere "Glanzleistung" von mir.
Am Sonntag nach dem 1.9.39, ging ich zu der mir bekannten Dienststelle der Allgemeinen SS in Vegesack, um mich dort als Kriegsfreiwilliger zum Dienst in der Waffen-SS zu melden. Das geschah ohne Wissen meiner Eltern. Ich benötigte keine Einwilligung meiner Eltern, auch wenn ich noch nicht volljährig war. Den Bestimmungen gemäß war ich mit 18 Jahren berechtigt, mich ohne Erlaubnis als Kriegsfreiwilliger melden zu dürfen, auch zur Waffen-SS. Ich war stolz auf das, was ich nun tat. Wobei diese Tat nicht etwa nur eine Einzeltat von mir gewesen wäre. Junge "Männer" aus meinen Jahrgängen meldeten sich in Scharen als Kriegsfreiwillige zur Wehrmacht, wie zur Waffen-SS. Und wir alle taten das aus der festen Überzeugung, es müsse so sein. Wir glaubten an die Gefahr für unser Vaterland, dem zu helfen unsere Pflicht und Schuldigkeit sei. Das wollten wir sofort tun, nicht warten bis die Dienstpflicht auf uns zu kommen würde. Diese Pflicht wollten wir aber schon jetzt erfüllen, bevor der (siegreiche) Krieg schon beendet sein würde und wir nicht zum Siege beigetragen hätten. Wir wollten doch auch zu denen gehören, die dann als "Helden" bewundert werden würden. Unser Vaterland war wieder einmal in höchster Not, die Feinde aus dem letzten Krieg, waren jetzt wieder unsere Feinde. Von denen war uns dieser Krieg aufgezwungen worden, so sahen wir das und deshalb wollten wir diese Feinde endgültig und für immer besiegen. Wir wollten auch unsere Väter rächen, die ihren Heldenkampf von 1914 bis 1918 verloren hatten, trotzdem sie doch so siegreich in dem Krieg gekämpft hatten, wie es trotz der Niederlage hieß, wie es uns doch schon in der Schule erzählt worden war.
Das Vaterland und der Führer brauchten uns, die deutsche Jugend, davon waren wir überzeugt, das war unser fester Glaube. Und ein sehr großer Teil dieser Jugend wollte nun seinen Ehrendienst für das Vaterland in der Truppe des Führers erfüllen, in der Waffen-SS. Wobei das auch als eine Auszeichnung angesehen wurde, weil in der Waffen-SS grundsätzlich nur Freiwillige aufgenommen wurden, schon in der Zeit vor dem Krieg. Das außerdem auch eine Besonderheit sei, die allgemein Anerkennung finden würde, weil man als Angehöriger der Waffen-SS in einer Elite-Truppe seinen Dienst verrichten würde.
Die deutsche Jugend hatte in den vergangenen 6 Jahren ihre neuen "Aufgaben" gut gelernt. Sie war das geworden, was "ihr" Führer einmal von ihr verlangt hatte, nämlich "flink" wie Windhunde, "zäh" wie Leder und "hart" wie Kruppstahl müsse sie sein, die neue deutsche Jugend, so hatte es der Führer gesagt.
Mit Hilfe des Reichsjugendführers und der sonstigen HJ-Führer, war der Samen des nationalen Wahns gut aufgegangen, wie es die Führung der Partei und des Staates auch bei den Erwachsenen ab 1933 erreicht hatte. Daher wurde nun auch von vielen erwartet, dass die Jugend sich jetzt als Kriegsfreiwillige dem Führer zur Verfügung stellen würde. Dabei stand das heldenhafte Beispiel der Jugend von 1914 allen vor Augen, die damals nicht schnell genug zu den Fahnen des Kaisers eilen konnte. Die jetzige Jugend sollte nun in diesem Krieg siegreich für Führer, Volk und Vaterland kämpfen. Dabei die seinerzeit erlittene Schmach der Väter rächen und ihnen, sowie den gefallenen Helden des 1. Weltkriegs, die einstmals geraubte Ehre zurück zu geben!
So glaubte auch ich mich melden zu müssen, bevor der Krieg möglicherweise schon wieder beendet sein würde. Der Krieg konnte sicher nicht von langer Dauer sein, wie es doch aus den ersten Sondermeldungen und Wehrmachtsberichten zu entnehmen war. Die deutschen Truppen rückten in einem atemberaubenden Tempo in Polen vor. Es war doch wirklich so, dass diese verdammten Polen sich total verrechnet hatten, nun mussten sie das auslöffeln, was sie sich selber eingebrockt hatten. Meine Freiwilligenmeldung bot mir aber auch die Möglichkeit, meiner Dienstpflicht jetzt genügen zu können, und das erschien mir, dem armen Narren als einen möglichen Zeitgewinn.
So dachte ich, der ich wirklich ein Narr war. Ich hatte überhaupt nicht überlegt, dass in der Waffen-SS eine längere Dienstzeit üblich war, weil die Freiwilligen für diese Truppe nicht für die normale Dienstzeit von zwei Jahren angenommen wurden. Das dem so war, darüber hatte mir aber keiner etwas gesagt, als ich mich in Vegesack freiwillig meldete.
Entscheidend für die Freiwilligen-Meldung war nicht nur die Zugehörigkeit zu einer Elite, sondern auch die Tatsache, dass diese völlig neue und junge Truppe, die Verkörperung unserer Ideale für uns war. Unter lauter jungen Menschen und einer ebenfalls jungen Führerschicht würde ein ganz anderer Geist herrschen, geprägt vom Nationalsozialismus und der neuen deutschen Volksgemeinschaft. In dieser Truppe würde nicht mehr der Geist der alten Wehrmacht herrschen, hier würde die neue Jugend von jungen Vorgesetzten geführt, die ihren Ursprung in der HJ hatten, so dachten wir. Der neue Begriff "Volksheer" würde in dieser Truppe Wirklichkeit sein, so glaubten wir.
Aus dieser Überzeugung heraus hatte ich meine "großartige Heldentat" vollbracht, ohne darüber ein Gespräch mit den Eltern geführt zu haben. Die würden das ja noch früh genug erfahren, meinte ich. Das geschah dann auch nach nur wenigen Tagen. Es war am späten Vormittag, als ich einen Anruf in der Firma bekam. Es meldete sich meine Mutter, die mich völlig aufgelöst fragte, ob es stimme, dass ich mich als Freiwilliger zur Waffen-SS gemeldet habe, es läge nämlich eine Einberufung für mich vor, die aber doch nur ein Irrtum sein könne, oder nicht? Als ich ihr aber sagte, dass ich schon darauf gewartet habe, und dass das kein Irrtum sei, da fing sie an bitterlich zu weinen. Sie konnte mein Vorgehen nicht verstehen und nur noch sagen, ich möge doch bitte umgehend nach Hause kommen, um alles in Ruhe zu besprechen, auch mit meinem Vater, den sie noch nicht informiert habe.
Ich versprach das und ging dann zu meinem Chef, um ihn über meine Einberufung zu unterrichten. Der sah mich nur fassungslos an, um mir dann zu sagen, er wünsche mir alles Gute, viel Glück und vor allem eine gute Wiederkehr, denn die Firma würde immer für mich da sein, ich könnte jederzeit wieder in der Firma tätig werden. Die Hauptsache sei, ich würde alles gut überstehen. Noch am Mittag fuhr ich nach Hause wo ich meine Mutter noch immer fassungslos vorfand, aber auch sehr zornig. Als ich mich aber voller Stolz zu dem bekannte, was ich getan hatte, da bekam ich noch einmal, zum letzten Mal in meinem Leben ein paar sehr kräftige Ohrfeigen. Ohrfeigen, die ich damals nicht verstand, die ich aber mein Leben lang nicht vergessen habe. Wie berechtigt sie waren, habe ich erst später begriffen.