Dieser Eintrag von Werner Viehs (*1924) aus Bad Homburg (werner@viehs.de) von März 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben! Der Text ist ein Auszug aus dem Buch: "Mein Jahrhundert"
Am 10. November fuhr ich mit dem Fahrrad zur Berufsschule Berlin-Gesundbrunnen. Viele Schaufenster waren zerschlagen. Die Geschäfte waren geplündert. Die Scherben lagen weit bis in die Straße hinein. Ich musste absteigen und das Rad mit der Hand führen. "Juden raus !" "Juda verrecke !" "Hier mauschelt eine Juden-Sau." "Die Juden sind unser Unglück." So stand in großen Schriften zu lesen. Braune Gestalten grölten es durch die Straßen. Noch mehr Geschäfte waren in der Badstraße kaputt, einem bevorzugten jüdischen Geschäftsbereich.
Als ich nach Schulschluss mittags den Rückweg fuhr, waren die Scherben schon weitgehend von der Straße entfernt. Die Läden wurden mit Brettern zugenagelt. Die Juden hatten aufgehört in der Öffentlichkeit zu existieren. "Die Juden leben nur vom schachern. Sie sind faul und arbeitsscheu. Es sind Parasiten." Es war der 15. Jahrestag des misslungenen Marsches und Putsches der Nazis an der Feldherrnhalle in München 1923. "Rache dafür!" "Die Juden sind an allem schuld !" Alle Synagogen waren in Flammen aufgegangen. Die Schadensbilanz lag grob bei ca. 25 Millionen Reichsmark. Die gemeldeten Forderungen hätten die Versicherungen in den Ruin getrieben. Der Glas-Ersatz wäre nicht zu beschaffen gewesen. Der Vierjahresplan zeigte schon genügend Schwierigkeit. Den Juden wurde per Gesetz verboten, sich weiter am Geschäftsleben zu beteiligen. Der verbleibenden Judenschaft wurden die Schäden am Volksgut in der 'Reichs-Kristallnacht' angelastet. Als Schuldanteil wurde ihnen eine Buße von einer Milliarde Mark auferlegt. Wie sollten sie das schaffen?
Viele hatten vordem schon das Land verlassen. Die abscheulichste Judenjagd hatte begonnen.
Der Aufenthalt in öffentlichen Gebäuden wurde ihnen verboten. "Juden ist der Zutritt verboten !" "Nur für Arier !" Kleine Hitler-Jungen beschimpften sie mit "Judensau", wenn sie auf der Straße nicht aus dem Weg gingen. Viele Lieder der Hitlerjugend hatten "Judentod" und "Judenblut" als Inhalt. Der "Stürmer", die Hetzzeitung tobte sich gegen Juden aus. Der Vatikan und die übrige Welt verhielt sich still. Mir fällt "Eppi" ein. Er war ein Bibelforscher, der mit langer Haarmähne, mit selbst gefertigten "Jesuslatschen", die Bibel in der Hand, schnellen Schrittes über die Scharnweber-Straße lief. Als Kinder haben wir Eppi heimlich beobachtet, wenn er allein in der Natur predigte. Eppi war plötzlich weg.
Zwischen dem Lager Oranienburg (bei Berlin) und dem S-Bahnhof Eichbornstraße wurden die Juden unter Bewachung in Kolonnen transportiert. Sie arbeiteten in den Großfirmen. Drei Jahre später wurde der Judenstern zur Kenntlichmachung eingeführt. Gut erkennbar leuchtete 'Jude' in schwarzer Schrift auf dem gelben Stern. Ich vergesse nicht, wie beim Vorbeigehen mich angstvoll ein Mädchen mit Judenstern angesehen hat. Ob sie Hunger hatte? Diese Kolonnen habe ich in den nachfolgenden Jahren immer wiedergesehen. Nur die Kennzeichnung sah anders aus, Polen und Russen.
Alles wurde uns nicht gesagt. Vor allem nicht, was mit diesen Menschen passierte. Wir hätten wahrscheinlich damals die heutige Wahrheit, nicht geglaubt oder nicht wahr haben wollen. Wir wussten nicht, dass sie durch Hunger umkamen, durch Arbeit gepeinigt, durch medizinische Experimente und durch Folter zu Tode gequält wurden. Wir glaubten, dass sie zur Arbeit erzogen werden, durch Schulung auf den richtigen Weg gebracht, zu guten Deutschen gemacht werden.