> Werner Viehs: Hitlerjunge und Messdiener in Berlin

Werner Viehs: Hitlerjunge und Messdiener in Berlin

Dieser Eintrag von Werner Viehs (*1924) aus Bad Homburg (werner@viehs.de) von März 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben! Der Text ist ein Auszug aus dem Buch: "Mein Jahrhundert"

/lemo/bestand/objekt/viehs_004 Mein Vater arbeitete seit 1932 bei den Dürener Metallwerken. Nach 1933 sollten lebens- und kriegswichtige Industrien ins Landesinnere verlegt werden. Die Dürener Metallwerke plante als erstes ein neues modernes Werk in Berlin, das 1934 fertig gestellt war. Das neue Personal in Berlin musste schnellstens mit Prozess und Maschine vertraut werden. Mein Vater erhielt das Angebot in einer Vorarbeiter-Funktion, wenn er umsiedelt. Die Entscheidung fiel auch bald: "Wir gehen mit nach Berlin."

Es waren anfänglich 100 Mitarbeiter aus Düren und ihre Familien. Später erhöhte es sich auf insgesamt 200 Mitarbeiter. Hierin liegt der Grund, dass sich später in Berlin, weit entfernt vom Rheinland, parallel zum "Icke" der rheinische Dialekt in seiner Ursprünglichkeit erhielt.

Mein Vater begann im Spätsommer 1934 seine Tätigkeit in Berlin. Ich war 10 ½ Jahre alt, als ich mit meiner Mutter am 10. Januar 1935 nach Berlin kam.Es war tiefer Winter. Hier war viel mehr Schnee, als wir es vordem gewohnt waren.

Und dann die ersten Eindrücke! "Sieh mal diese Reklame". "Was sagt der Bär?" ... "Berlin raucht Juno!" Der Lichtreklame-Bär machte richtige Handbewegungen mit der Zigarette. "Persil bleibt Persil". Die Lichtreklame wechselte zwischen der Frau mit dem weißen Kleid und der Persil-Packung. Am hellen Tag leuchtete und flimmerte es von allen Häusern. Wir fuhren mit der U-Bahn. Zum ersten mal fuhren wir mit einer Bahn unter der Erde. Später fuhren wir noch mit einem doppelstöckigen Autobus. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Es war unbeschreiblich. Ich kam nicht aus dem Staunen heraus. "Berlin hat einen Durchmesser von 25 km." Um das zu befahren, brauchte ich als Schüler nur einen 15 Pfennig-Fahrschein lösen. Und kostenlos umsteigen, kann ich mit dem gleichen Fahrschein auch noch. Was waren das für Aussichten, um das alles kennen zu lernen.

Die meisten Rheinländer hatten eine Wohnung in Reinickendorf, wo auch wir bald wohnten. Ich war dort recht bald in der Hitler-Jugend. Mit dem Hitlerjugend-Dienst nahm ich es nicht so genau. Bevorzugt wurde Sonntags-Vormittags Dienst gemacht. Wer zur Kirche gehen wollte, brauchte natürlich nicht zu erscheinen. Aber es wurde registriert. Ich hatte bald eine "Sonderwurst", so dass ich in der Registrierung nicht erfasst war und sehr selten zum Dienst brauchte. Anfänglich hatte ich mal eine Ausbildung in Erster Hilfe und war somit "Feldscher". Als solcher hatte ich viele Möglichkeiten, warum ich nicht beim Dienst sein konnte. Bei Aufmärschen und Kundgebungen, beispielsweise im Reichssportfeld, war ich natürlich an bevorzugten Stellen. Jeweils 4-6 Wochen nahm ich an zwei Sommerlagern teil. Die Unterbringung war in 10-Mann Zelten. Die Verpflegung kam aus der Gulaschkanone oder aus dem Topf am Lagerfeuer. Ein Lager war im Bayrischen Wald und in Passau. Das andere Lager war in Pommern, Nähe Kamin, Lüchentin. Es waren Erlebnisse, wie ein Junge sie sich wünscht.

Verhältnis der Nationalsozialisten zur Kirche war noch einigermaßen in Ordnung. Doch zunehmend war im "Stürmer" neben den schlimmen Juden-Karikaturen und Geschichten jetzt auch Verunglimpfungen über die Kirche zu lesen. Besonders die katholische Kirche stand unter Beschuss. In Reinickendorf und Wittenau mit Außendienst in Lübars waren Augustiner Patres. Neben dem Prior waren jeweils 2-3 Patres und 2 Brüder für ca. 4 Jahre vom Mutterhaus in Würzburg abkommandiert. Berlin war Diaspora, d. h. die Katholiken waren in der Minderheit.

Pater Liborius, der Prior, war ein Sauerländer. Wenn er das 'Sursum corda' oder 'Tedeum' anstimmte, dann wackelte die Kirche. Im Beichtstuhl begrüßte er mich mit: "Na, du heiliger Ministrant von Sankt Rita, was 'haste' auf dem Kerbholz?" Wenn draußen an der Sakristei die alten Mütterchen sich ein Fläschchen Weihwasser holen wollten, machten wir den Eimer voll, Pater Liborius machte 3 Kreuzzeichen und sagte: "Raus". Pater Mathias war ein geistiger Typ, ein feiner Mann. Er war behindert. Scheinbar werden Rangordnungen in der katholischen Kirche auch von der Herkunft bestimmt. Er stand immer hinten an. Er wurde mit seinem Klumpfuß auf dem Fahrrad, Sommer und Winter, immer zur Außenstelle nach Lübars geschickt. Er hat später Ilona und mich getraut. Ihn, den Bescheidenen, der oft hinten an stand, wollten wir haben.

Pater Eusebius war jung und gut aussehend. Er betreute lange Zeit die Jugend. Gleichzeitig war er für die Ausbildung und Einteilung der Ministranten zuständig. Er holte die Jugend im 'Singkreis' oder in der 'Bibelstunde' zusammen. Sonstige Gruppenformierungen waren nicht mehr gestattet. Sie standen unter ständiger Beobachtung. Es war die Zeit 1936/37, als ich Messdiener in Sankt Rita wurde.

Suscipiat Dominus sacrificium de manibus tuis
ad laudem et gloriam nominis sui
ad utilitatem quoque nostram
totiusque Ecclesiae suae sanctae.

Mein Gott, war das ein Zungenbrecher. Solange man dieses lateinische Gebet nicht als Prüfungshürde genommen hatte, durfte man nur die Kerze bei der Prozession und Messe tragen. Aber wir waren so gut, dass wir sogar die lateinischen Gebete des Priesters kannten. Bald waren wir Ober-Ministranten. Mein Freund Mader und ich hatten immer das Rauchfass. Damit wussten wir umzugehen und vernebelten alles. Bei Prozessionen hatten wir immer Wachs dabei. Der qualmte stark, aber stank auch schrecklich. Wenn es zu reichlich war, schaute uns Pater Liborius nur scharf an. Aber er kokelte auch gern. Vorher hatten wir paar Wachsperlen ins Fässchen getan und die fischte Pater Liborius gern heraus und legte sie auf.

Mader und ich waren auch Beerdigungs-Ministranten. Je nach Beerdigungsklasse bekamen wir 25 oder 30 Pfennig. Dafür kauften wir uns Kuchenkrümel, Kuchen vom Vortag, oder gingen ins Kino. An der Londoner Straße war ein ständiges Zigeuner Lager. Einmal wurde ein Sippenältester beerdigt. Mit Musikkapelle marschierten alle zum Grab. "Es war einmal, ein treuer Husar", schmetterte die Kapelle. Es war ein Wechselspiel zwischen Trauer und Freude.

Auf dem Invaliden-Friedhof lag die Prominenz. Dort haben wir einmal einen General a. D. beerdigt. Für den bekamen wir Ministranten 40 oder 50 Pfg. Auch Beerdigungen an der See-Straße brachten mehr ein. Ich weiß, es hört sich schlimm an, was ich gerade schrieb. Aber für uns waren das, ohne nachzudenken, Kuchenkrümel.

lo