Dieser Eintrag von Werner Viehs (*1924) aus Bad Homburg (werner@viehs.de) von März 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben! Der Text ist ein Auszug aus dem Buch: "Mein Jahrhundert"
Meine Kindheit verlebte ich in Kreuzau bei Düren. Wir Kinder merkten dort nichts von dem, was in der Politik und hinter den Kulissen geschah. Vor 1933 habe ich in Kreuzau von den Nationalsozialisten oder anderen Parteien wenig gemerkt. Bei Opa gegenüber, im Saal von Vieht, war schon mal eine Versammlung. Es ging doch alles sehr ruhig zu. Nachts wurde dem Schmitz im Dröhl auch schon mal die heraushängende Hakenkreuzfahne abgebrannt. Das war es auch schon. Viele meinten, die schaffen wenigstens Arbeit und waren einverstanden. Die Nazis waren auch nicht mit dem "Schandvertrag von Versailles" behaftet.
Ich glaube, Vater hatte immer Sozialdemokraten oder Zentrum gewählt. Und Mutter wählte was Vater meinte. Die Leute im nahen Mariaweiler, wo wir vorher wohnten, wählten alle Zentrum. Der Pastor brachte von der Kanzel seine Schäfchen auf den richtigen Weg. In Kreuzau war es ähnlich. Der Mariaweiler Pfarrer wetterte mehr oder wurde nicht vorgewarnt. Er wurde dafür später mehrmals verhaftet bis er Ruhe gab.
Reichspräsident Hindenburg war nur in der Vorstellung noch eine Autorität. In Wirklichkeit war er Spielball, ein dem Grabe entgegen schwankender, geistesgetrübter, einsamer Mann. Ich erinnere mich an den Tag noch genau, als 1934 der Reichspräsident Hindenburg starb. Die Glocken läuteten. "Jetzt wird es schlechter", sagten einige. Die katholische Jugend, (Jungschar, Sturmschar), und die sonstigen Bündischen Verbände wurden aufgelöst. Eine Übernahme in die Hitlerjugend klappte nur teilweise beim Turnerbund. Die Verbände wehrten sich. Ich war auch bald im Jungvolk, das waren die jungen Pimpfe in der Hitlerjugend. Es machte ja viel Spaß im Zeltlager in Zerrkall oder in Nideggen, wenn wir abends am Lagerfeuer saßen, Lieder sangen und "Armen-Ritter"-Braten (Brot geröstet und Zucker bestreut) aßen. Ich sollte Messdiener werden. Der Dechant sagte nichts. Aber es war klar, ich hätte nicht im Jungvolk sein dürfen. Es hat nur noch dazu gereicht, dass ich Dienstags und Freitags in der Schul-Messe vorbetete.
Der Fleisch-Jütt (Fleisch-Jude) kam seltener. Auf einmal kam er überhaupt nicht mehr. Beim Tietz in Düren stand SA mit einem Schild vor der Tür: "Deutsche wehrt euch !" "Deutsche kaufen nicht beim Juden". Ob Jüdde-Erich (Juden-Erich) noch in Mariaweiler Stoff verkauft ? "Dä hann se avgehollt", hörte ich später. "Am beste me hält de Mul".(… hält den Mund) - Man duckte sich ! Nur meine Oma nicht! Sie hing oft an Stelle der Hakenkreuz-Fahne, die Kirchen-Fahnen "gelb / weiß" und "rot / weiß" heraus.
Onkel Scheng in Mariaweiler hatte als Polizist durch die SA (ungewollte) Verstärkung erhalten. Es war eine Gratwanderung für ihn. Dann passierte es eines nachts: Ein Kommunist hatte ihm ein Messer in den Unterleib gestoßen. Bei Onkel Scheng wandelte sich die politische Einstellung.
Wir anderen gingen zur Kirche und beteten für Führer, Volk und Vaterland, ….. bis Kriegsende. "Endlich ist einer an der Regierung, der es denen zeigt, die uns durch Versailles ausgepresst haben und die an allem Elend schuld sind." Das Rheinland ist ja immer noch millitärfreie Zone. Die Franzosen bestimmen immer noch über uns. So wurde geredet. Es war alles überzeugend. Der Alltag ging weiter. Ich war fleißig in der Schule. Die Zensuren waren gut. Der Unterricht war vormittags und teilweise nachmittags. Anschließend konnte man so schön in der Dürener Straße spielen. In der Nachbarschaft waren genügend Jungen. Neben uns wohnten anfänglich Mäusers. Evangelisch!!! Alles andere war katholisch! Mit den Jungen durfte ich selbstverständlich nicht oder nur höchst ungern spielen. "Evangelisch" und "Hölle", das war ungefähr das gleiche. Ich kann bestätigen, denn ich habe oft gefühlt, es wuchsen ihnen keine Hörner. Wir waren immer eine ganze Horde.
Meistens waren wir am gegenüber liegenden Viadukt. Dort überquerte die Straßenbahn Kreuzau-Düren, die Bahnstrecke. An der Böschung wurden Löcher gegraben und Feuerchen gestocht und die Straßenbahn oft eingenebelt. Auf den Schienen ließen wir die Schottersteine zu Mehl zermahlen. Dabei hätten sehr gefährliche Situationen entstehen können. Schöner ließ sich in Heinens-Scheune nach dem Dreschen spielen. Von 4 Meter Höhe sprangen wir in den 'Kaaf' (Häcksel) Wenn wir Hunger hatten, 'ernteten' wir paar Rübchen aus dem nebenliegenden Feld. Wenn der Stier auf der eingezäunten Wiese war, zeigten wir nur 'begrenzten' Mut. Einfacher war es die Kühe allein über die Wiese zu jagen. Im Wald haben wir schon mal versucht ein Eichhörnchen mit der Mütze zu fangen. Das machte keinen großen Spaß, denn die waren oft sehr verlaust.
Wir suchten bei Birkenbäumen die Wurzel ab. Einmal haben wir die Fläschchen der Niederauer oder Windener gefunden. Die Wurzel der Birke wurde in Stammnähe abgeschnitten, angespitzt und ein Fläschchen angesteckt um Birkenwasser zu sammeln. Beim Friseur gab es dafür 5 Pfennig bis max. 1 Groschen. Denen haben wir dann etwas in die Fläschchen rein gemacht (ob die Haare danach besser gewachsen sind, weiß ich nicht.)
Wo gute Äpfel zu "ernten" waren wussten wir. Die besten (wenn sie auch sauer waren) sind im Pfarrgarten. Unser Problem war nur, wie beichten wir es. Der Dechant war gutmütiger als der Kaplan. Eine Unsitte war, ausgeblasene Vogeleier aufgereiht als Wandschmuck über dem Sofa aufzuhängen. Calmuth's Tünn hatte im guten Wohnzimmer eine lange Kette mit allen Sorten Vogeleier, große, kleine, gesprenkelte, unifarbene, seltene. Natürlich wollten wir so etwas auch haben. Unser Lehrer Kramwinkel hat uns verprügelt und wir ließen die Vögel in Ruhe. Zum Baden waren wir meist am Wehr. Oberhalb waren einige tiefe Stellen. Da wir noch nicht schwimmen konnten hieß es aufpassen. Natürlich wurden auch Fische gefangen. Weißlinge, Stichlinge, 'Geiß' (ein kleiner Fisch mit ziegenbart-ähnlichen Fühlern), und wenn wir Glück hatten, fingen wir auch schon mal einen Aal. Die Rur war noch einigermaßen sauber. Aber die Papierfabriken gaben einige Abwässer mit Schaumflocken hinein.
Die Badeanstalt gab es schon und hatte gereinigtes Wasser. Aber das Eintrittsgeld wollten wir sparen. Aus Borke wurde mit dem Taschenmesser ein Schiff geschnitzt und im Flutgraben an der Schulstraße schwimmen gelassen. Der Nachhause-Weg von der Schule dauerte dann länger. Meist war Machereis Berti dabei. Mit den Machereis Jungen war ich viel unterwegs. Manchmal waren wir auch auf dem französischen Schießplatz hinter Drove / Stockheim um Munition oder Reste zu suchen. Ein kleiner Zünder hat Konrad einen Finger gekostet.
Mittags nach Schulschluss kam an manchen Tagen um diese Uhrzeit der Milchwagen aus dem Grenzbereich vorbei, ein kleiner vierrädriger Wagen mit Plane und ca. 12 bis 15 Kannen beladen. "Der setzt im Sommer eine Kröte in die Milch, damit sie nicht säuert. So hatten wir gehört. Er jagte immer durch die Schulstraße um uns beim Aufspringen zu hindern. Als wir unbeobachtet auf der Karre waren, haben wir alle Kannen untersucht. Der Milchmann schmuggelte mit belgischen Zigaretten! Eine Kanne war mit 50-er Packungen gefüllt. Er fuhr in den frühen Morgenstunden im Grenzgebiet und hat so sein Geschäft durch schmuggeln lohnender gemacht. Natürlich haben wir eine Packung mitgenommen um später die erste Zigarette (mit zugebundenen Hosen) zu probieren.
Wir spielten immer draußen. Im Grunde waren wir alle liebe und folgsame Kinder. Spielsachen hatten wir nicht. So etwas war Luxus. Ich hatte mein kleines Fahrrädchen noch von Mariaweiler. Wenn ein anderer mal 5 Minuten fahren wollte, dann kostete das 10 'Welsche' (Murmel, Knicker).
So verlebte ich meine Kindheit in Mariaweiler und Kreuzau. Ich hatte eine schöne Jugend, auch in Berlin, wohin ich mit meinen Eltern 1935 gezogen bin.