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Wolfgang Pickert: "Die Augen links" - Als Hitler-Junge in Berlin

Dieser Eintrag von Wolfgang Pickert (1930-2016) aus Berlin vom April 2011 stammt aus dem Biografie-Wettbewerb: Was für ein Leben!

/lemo/bestand/objekt/pickert_01 Es muss im April 1940 gewesen sein, als das "Fähnlein 19" an einem Mittwochnachmittag auf dem Schöneberger Ebersmarkt streng ausgerichtet in Reih und Glied stand. Im Braunhemd, mit kurzen Hosen und einem braunen Käppi auf dem Kopf, waren wir nun "Pimpfe" in der Hitlerjugend.

Wir - das waren die Neuen, eben mal zehn Jahre alt geworden, die jetzt das erste Mal mehr oder weniger zitternd vor Aufregung aber auch erwartungsvoll der Dinge harrten, die da kommen sollten. Unser Fähnlein bestand aus einhundertfünfzig Jungen, untergliedert in vier "Jungzüge" und zwölf "Jungschaften". Soviel hatte man uns bereits vor dem Antreten eingeimpft. Der Fähnleinführer, ausgestattet mit einer rot-weißen Kordel, so viel ich noch weiß, die von der linken Schulterklappe zum Hemdbrustknopf baumelte, hatte uns auch schon in eine "Horde" eingeteilt, welche nun innerhalb der Jungschaft die kleinste Einheit in diesem Haufen war und zehn Milchgesichter aufwies. Befehligt wurde das alles von unten nach oben durch den "Hordenführer", bestätigt durch einen Winkel am Ärmel, den "Jungschaftsführer", der natürlich auch eine Kordel hatte, diesmal kleiner und kürzer und nur vom Brustknopf zum geflochenen Lederknoten führte, durch den ein schwarzes Halstuch gezwängt war. Dann wurde die Uniform noch vervollständigt durch ein schwarzes Koppel mit Schloss, auf dem eine germanische Rune prangte, und einen Schulterriemen. Später kam noch ein Fahrtenmesser dazu!

Na, und derjenige, der eine große grüne Kordel baumeln ließ, war der "Jungzugführer". So schon mal bestens informiert über die Hierarchie beim "Jungvolk", dem wir ab jetzt im Alter von zehn bis vierzehn Jahren innerhalb der "HJ" angehören sollten, kam der große Augenblick: Der Stammführer nahte. Von weitem schon leuchtete seine große weiße Kordel und kündigte an, dass nun ein ganz Hoher heranmarschierte. Schon gab der Fähnleinführer mit überlautem Gebrüll das Kommando: "Fähnlein Neunzehn stillgestanden, zur Meldung die Augen links!" Was aber tat Pimpf Wolfgang? Er ruckte den Kopf nach rechts, genau in die falsche Richtung, was natürlich bemerkt wurde und zum allgemeinen Entsetzen führte.

Es war wohl der Beginn einer ganz individuellen und aufmüpfigen Einstellung zu allem, was Befehl und Gehorsam heißt, denn ich wollte partout nicht einsehen, warum ich es wie alle anderen machen sollte. Irgendwie hat mich dieses gegen den Strom schwimmen wollen mein ganzes Leben lang begleitet und immer dann, wenn ich etwas nicht einzusehen vermag, auch wenn es mit Unannehmlichkeiten verbunden sein kann.

Doch zurück zum Fauxpas: Nachdem ich so dachte, was wollen diese Kerle eigentlich, warum muss ich das machen, nee, denen zeige ich es - kam es leider anders, sie zeigten es mir! Nach erfolgter Begrüßung durch den Stammführer, unter Hinweis auf kameradschaftliches Verhalten und anderer Phrasen, erfolgte das Wegtreten. Nur nicht für mich. Der Anschiss, den ich nun erhielt, war laut und ließ kein gutes Haar an mir. Ich sei dumm und blöde und überhaupt noch kein richtiger Pimpf. Um ein solcher zu werden, hieß es dann: "Bis an den Horizont, marsch, marsch!" Also musste ich loswetzen, wo immer auch dieser sein mochte. Ich kam nicht weit: "Hinlegen!" kam der Befehl. Also schmiss ich mich hin. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich auf diese Weise Mutter Erde, in diesem Falle den Straßenasphalt, kennen lernte. Und - viele Male sollten noch in den folgenden Zeiten diesen Eindruck vertiefen...

Lange konnte ich mich da unten nicht ausruhen - "Auf, marsch, marsch, weiterlaufen!" "Hinlegen!", na und so weiter. Nachdem ich so auch sportlich eine gute Leistung gezeigt hatte, weitere Tiraden seitens des Fähnleinführers erfolgten, und das unter dem Grinsen der ganzen Meute, war dann dieser erste Dienst zu Ende. Ob ich es meinen Eltern erzählt habe, weiß ich nicht mehr, jedenfalls bedurften Hemd und Hose einer Reinigung. Tja, meine Eltern hatten mir die schon beschriebene Uniform auf den Geburtstagstisch gelegt.

Natürlich war ich stolz darauf. Schließlich wollten wir alle zum Jungvolk in eine Gemeinschaft, die anders erschien - anders als es die Schule war. Der wöchentliche Dienst, immer mittwochs, umfasste ja nicht nur das ungeliebte Exerzieren mit den stupiden Formationsbewegungen, die noch dazu sinnlos waren, wie wir dachten und ohne zu wissen, dass es einen ganz bestimmten Zweck verfolgte. Nein, es gab auch die "Heimabende", wo wir Lieder sangen, und wir machten an manchen Wochenenden "Fahrten" in das Umland, mit Spielen auf Pfadfinderebene sozusagen. Es fanden auch Begegnungen mit den "Jungmädchen" vom BDM statt, unserer Zwillingsorganisation. Das machte besonderen Spaß. Wir waren also durchaus begeistert. Dass wir in eine gewünschte ideologische Richtung gedreht wurden, merkten wir natürlich nicht. Das Zusammenleben und eben ein kameradschaftliches Verhalten zum Mitmenschen war nicht nur politisch gewollt und gesteuert, sonder auch positiv für die Entwicklung von uns jungen Menschen. Unmerklich war sicher das Herantasten an die vormilitärische Ausbildung. Wozu eigentlich musste man sich tarnen lernen, bei imaginärem "Fliegeralarm" in den Dreck hauen und ähnliche Spielchen treiben ? Allerdings - es machte uns Spaß...

Noch einmal zurück zum ersten Dienst: Nach meiner erfolgten Niederlage und dem Gedanken, dass ich mich nun wohl als allerletztes Individuum zu fühlen habe, kam ich am nächsten Mittwoch wieder und wurde ohne weitere Ansprache nach dem Antreten zum unbestätigten Hordenführer ernannt! Das war eine geschickte psychologische Maßnahme der Führung, denn so hatte man den Aufmüpfigen, der eine eigene Meinung zu haben schien, im Griff. Ich fiel darauf rein und war fortan ein eifriger Pimpf. Allerdings hielt das nicht lange an, und ich wurde wieder kritischer.

Es muss 1942 gewesen sein, da wurde ich mit anderen Pimpfen zusammen einige Male zur Staatskanzlei abgeordnet. Dort in der Voßstraße stand diese neben der Reichskanzlei, wo der geliebte Führer residierte. In der Staatskanzlei hingegen war der Stabschef Lutze zugange. Draußen standen zwei Ehrenwachen mit geschultertem Gewehr, die bei jedem Besucher präsentiert werden mussten. Es waren SS-Leute.

Wir wurden als Melder eingesetzt und mit dem Titel "Ordonanzen" versehen. In der kleinen Wachstube der Ehrenwächter saßen wir und warteten auf den Einsatzbefehl, der uns zu irgendeinem Zimmer schickte. Das war natürlich eine ungeheure Ehre für uns, die wir in geschniegelter Uniform und blankgeputzten Schuhen durch das Gebäude flitzten. Beim Betreten der geheiligten Räume schlugen wir die Hacken zusammen und meldeten uns mit Hitlergruß schneidig zur Stelle. Dann bekamen wir den Auftrag, nach da und dorthin zu wetzen, um ein Schriftstück zu überbringen oder abzuholen. Einmal war ich beim Staatschef selbst, was mich höchst stolz machte. Geld gab es nicht, die Ehre war es!

Vor einiger Zeit erhielt ich einen ganz überraschenden Anruf. Ein Mann meldete sich und fragte, ob ich der Wolfgang Pickert sei, der als Pimpf mit ihm zusammen Dienst in der Staatskanzlei gemacht habe. Er hätte zufällig meinen Namen im Telefonbuch gelesen und sich wieder an diese Zeit erinnert. Wir stimmten in diesem Gespräch überein, dass es 1942 gewesen war, als wir solchermaßen gedient hatten. Amüsiert erinnerten wir uns, dass der große Spiegelsaal von uns zum Fußballspielen mit dem Tennisball benutzt wurde - und dass uns die SS-Wachen zum Teufel gewünscht hatten, weil wir uns einen Spaß daraus machten, sie beim Wachestehen durch Rein- und Rauslaufen am Eingang zu provozieren. Sie mussten nämlich immer das Gewehr präsentieren!

Wie gesagt, die Zeit beim Jungvolk war gar nicht so übel. Die ketzerische Frage sei erlaubt, ob in den nachfolgenden Generationen in der frühen Erziehung außerhalb des Elternhauses etwas gefehlt hat, ohne gleich an Kriegsspielchen zu denken, wie es bei uns und auch später bei der "Freien Deutschen Jugend" im Osten der Fall war.

lo